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Eine Stadtlandschaft im Umbruch
Neue Zürcher Zeitung

Ehrgeizige Planungsvorhaben in Oslo

Mit zahlreichen Aktivitäten begeht Oslo seinen 1000. Geburtstag. Unter die Freudenklänge mischen sich aber auch Misstöne. Die politischen Entscheide rund um den zurzeit laufenden Wettbewerb für ein neues, über 180 Millionen Franken teures Opernhaus, das 2008 bezogen werden soll, lösten eine heftige Debatte aus über Standort und Vorgehensweise.

7. April 2000 - Christoph Affentranger
Der Ursprung von Oslo, der Stadt am Fluss Akerselv, liegt ebenso im dunkeln wie die Herkunft ihres Namens. Archäologische Funde haben Reste einzelner Höfe rund um den Fjord zutage gefördert, deren Entstehungszeit zum Teil noch vor dem Jahr 850 liegt. Die Gründung von Oslo wurde um 1230 vom isländischen Sagenschreiber Snorre Sturlasson dem norwegischen König Harald Hardråde zugeschrieben, der zwischen 1047 und 1066 regierte. Damals war die Bucht Bjørvika, in die der Akerselv immer noch fliesst, wenn auch durch unterirdische Tunnels, erheblich grösser und umfasste ziemlich genau das ganze Areal des heutigen Hauptbahnhofes. Am südöstlichen Ufer dieser Bucht lagen die ersten Häuser, die Mitte des 12. Jahrhunderts um mehrere steinerne Kirchen ergänzt wurden. Die kleine Stadt war aber zu keinem Zeitpunkt von einer Stadtmauer umgeben. Auf der anderen Seite der Bucht stand schon seit dem 14. Jahrhundert eine Burg, die über die Jahrhunderte zur Akershus-Festung ausgebaut wurde. 1624 brannte das alte Oslo praktisch vollständig ab. König Christian IV. nutzte die Chance und liess die Stadt auf der Seite von Akershus auf einem Schachbrettraster neu errichten. Bis 1925 hiess die neue Stadt Christiania. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden entlang des Akerselv die ersten Fabriken; zwei Bahnhöfe im Osten und Westen von Christiania wurden gebaut. Zwischen 1875 und 1900 gingen die ersten Tramlinien in Betrieb.


Folgenreiche Boomphasen

Im 20. Jahrhundert wuchs die Stadt sukzessiv in die umliegende Waldlandschaft hinein und die Hänge hinauf. Weite Teile des Zentrums sind geprägt von Bebauungen der Jahrhundertwende. Für ihren Erhalt bis auf den heutigen Tag musste zeitweise gekämpft werden. Der Stadtteil Grünerløkka zum Beispiel war in den siebziger und achtziger Jahren von zahlreichen Eingriffen und Abrissen bedroht. Ein Sanierungsprogramm vermochte dann glücklicherweise eine Trendwende einzuleiten. Die grosszügigen Grünanlagen und die Bebauungsstrukturen blieben erhalten und ziehen im Sommer zahlreiche Parkbesucher an.

Einige bemerkenswerte Bauten verdankt die Stadt der Moderne, zum Beispiel das Kunsternes Hus von Blakstad und Munthe-Kaas (1930; das Haus wird dieses Jahr komplett saniert), das Ekebjerg-Restaurant von Lars Backer (1929), das Oslo Arbeidersamfund von Ove Bang (1934-41) und zahlreiche Villen des CIAM-Mitgliedes Arne Korsmo. Ob die grösseren Bauprojekte der vergangenen 20 Jahre, darunter das neu bebaute Werftareal Akerbrygge, als gelungen bezeichnet werden dürfen, ist schwer zu beurteilen. In der Gunst der Besucher stehen die Malls und Shopping center aber mit Sicherheit. Die Begeisterung für alles Amerikanische, nicht zuletzt Zeichen eines neuen Wohlstandes, prägt schliesslich auch die Stadtstruktur. Aus den Hinterhöfen der Blocks werden gedeckte Hallen und Fussgängerzonen, die Strassen hingegen verwandeln sich, in Umkehrung bisheriger Verkehrsflüsse, zu Zubringern. Positiv ins Gewicht fällt dafür, dass die Kneipen-, Café- und Galerienszene in ständigem Wachstum begriffen ist, qualitativ wie quantitativ.

Bis heute weitgehend ungelöst sind allerdings einige städtebauliche Schnittpunkte und Beziehungen, deren Wurzeln weit in die Vergangenheit zurückreichen. König Christian IV. hatte seine neue Stadt aus strategischen Gründen auf der dem Meer abgewandten Seite der Festung Akershus errichten lassen. Von dort entwickelte sich die Stadt landeinwärts - vom Wasser durch Hafenareale, militärische Sperrgebiete und nicht zuletzt durch Bahn und Strasse getrennt. In einem ersten Schritt wurden deshalb in den siebziger Jahren zwei Tunnels für die Bahn und den Autoverkehr gebaut, die das alte Christiania parallel zur Küste unterqueren. Beide Tunnels tauchen im Bereich der Mündung des Akerselv, dessen Delta die Bucht am Akerselv teilweise zugeschüttet hat, wieder auf. Hier, zwischen dem Ostbahnhof und dem bloss 200 Meter entfernten Meer, mit Blick auf die praktisch unbebauten Hänge auf der Ostseite des Fjords, entstand ein Verkehrsknoten mit zahlreichen Kunstbauten. Wer in dieser Bucht mit dem Schiff ankommt, der benötigt als Ortsunkundiger Bus oder Taxi, um diese 200 Meter sicher zu überwinden und den Anschluss an Bahn, Bus oder T-Bahn (die Metro von Oslo) zu finden.


Ein Opernhaus für Norwegen

Genau hier, im Niemandsland zwischen Wasser, Containern und Schnellstrasse, soll das erste Opernhaus des Landes zu stehen kommen. Dabei haben es die Veranstalter, die Stadt und der Staat, geschafft, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Trotz heftigem Protest aus Fachkreisen wurde der Opernhaus-Wettbewerb in Angriff genommen, bevor überhaupt ein Konzept zur Entwicklung dieses äusserst schwierigen Gebietes vorlag, das unter anderem auch Reste des mittelalterlichen Oslo umfasst. Mitte März wurden Studienaufträge an vier vorselektionierte Teams (darunter eines mit Richard Rogers) erteilt, Resultate sind Anfang September zu erwarten. Parallel dazu wird der Opernhaus-Wettbewerb juriert, wobei sämtliche Vorschläge direkt nach der Abgabe für vier Tage öffentlich ausgestellt werden - was ein Unikum für einen einstufigen anonymen Projektwettbewerb darstellen dürfte. Die Unterlagen zum Opernhaus-Wettbewerb allerdings zeigen, dass einige Überlegungen der Stadt bezüglich des gesamten Areals trotz fehlendem Konzept überraschend präzise sind. So präzise, dass der landesweit grösste Investor unmittelbar nach dem Entscheid über den Standort des neuen Opernhauses im vergangenen Herbst direkt neben der jüngst vollendeten Vorfahrt zum Ostbahnhof mit dem Bau des Hotels Opera beginnen konnte.

Eine heftige Debatte entbrannte aber auch um den Standortentscheid. Unter anderem hat die Behörde den Zuschlag für Bjørvika damit begründet, hier mit dem Bau des Opernhauses einen Impuls für die Entwicklung des gesamten Gebietes setzen zu wollen. Am zweiten möglichen Standort, einer Bucht weiter Richtung Westen, hätte der unter Denkmalschutz stehende alte Westbahnhof geopfert werden müssen. Dieser allerdings, in den siebziger Jahren durch den kürzlich erweiterten unterirdischen Bahnhof «Nationaltheater» ersetzt und damals seines eigentlichen Inhalts beraubt, wirkt zwischen den gewaltigen Bauvolumen von Akerbrygge, dem Rathaus und weiteren Bauten der Umgebung wie eine Karikatur aus einer anderen Zeit, nicht die einzige übrigens in dieser Stadt. Der Schutz hätte früher einsetzen und auch die Entwicklung des Inhaltes und der Umgebung mit einbeziehen müssen, um die gegenwärtige Argumentation gegen einen zweiten Standort glaubhaft zu machen. Für diesen hätte die gut erschlossene, zentrale Lage in Sichtweite des Meeres und ohne trennende Verkehrsadern gesprochen. Doch der aus Investoren, Grundstückbesitzern und Politikern bestehende Filz war offensichtlich zu dicht, um die urbanistisch beste Lösung durchzusetzen. Es wäre allerdings nicht der erste entschiedene Wettbewerb jüngeren Datums in Oslo, dessen Realisierung nie stattgefunden hat.


Bahnhöfe im Wandel

Wurde der Westbahnhof über die Jahre zu einem Artefakt in einer völlig veränderten Umgebung, so ist die Entwicklung rund um den Ostbahnhof nicht minder problematisch. Er wurde einst als Kopfbahnhof gebaut. Dabei wurde das erste, 1854 von Heinrich Schirmer und Wilhelm von Hanno realisierte Stationsgebäude 1882 von Georg Bull geschickt zum Nordflügel eines U-förmigen neuen Stationsgebäudes uminterpretiert. Der Hauptzugang schliesslich wurde insgesamt viermal komplett gewechselt. In den achtziger Jahren wurden zwei Geleise unterirdisch in Ost- West-Richtung angelegt. Auf dem Deckel über der Rampe, auf der die Geleise in die Tiefe führen, entstand auf der Nordseite des Altbaus von 1882 ein neuer Bahnhof von Engh und Seip, den man ein Geschoss über dem Stadtniveau betritt. Der Wettbewerb dazu war bereits 1946 (!) vom damaligen Büro Engh und Qvam gewonnen worden.

Der alte Bahnhof, immerhin das eine Ende der vom Königsschloss ausgehenden städtebaulichen Achse, wurde entleert und mit Kleingeschäften vollgestopft. Im vergangenen Sommer eröffnete ein Anbau in der Verlängerung des alten Stationsgebäudes seine Tore. Dieser Anbau wurde primär für die neue Schnellbahn zum neuen Flughafen gebaut. Dafür wurden sämtliche Zufahrten von der Nordwestecke des Bahnhofes auf die Südseite verlagert. Nun liegt der Haupteingang zum Bahnhof meerwärts und - zumindest bis zur Fertigstellung des Hotels Opera - in Sichtweite des noch zu bauenden Opernhauses. Die Bahnhofshalle von 1987 erhält demnächst einen neuen Gebäuderiegel vorgesetzt und wird, wie der ebenfalls neu gebaute Nordzugang, zu einer Shopping mall umgebaut. Als eigentlicher Bahnhof bleiben der neue Anbau und die Verteilzone quer über den Geleisen übrig. Der Bahnhof als Tor zur Hauptstadt präsentiert sich als eine Restfläche zwischen Kleiderboutiquen, Imbissbuden und Elektronikgeschäften. Die Frage des speziellen Charakters eines Bahnhofes ist in der Privatisierungseuphorie der Norwegischen Staatsbahnen zu einer Marginalie verkommen. Diese Haltung bedroht inzwischen auch andere Bahnhöfe, darunter den bemerkenswert schönen in Bergen.

In diesem Umfeld mutet es beinahe zynisch an, dass der Norwegische Architektenverbund (NAL) im kommenden Herbst im Rahmen von Oslos 1000-Jahr-Feier eine Architekturtriennale organisiert. Fünf Teams sind eingeladen, Visionen zur Verdichtung von Oslo zu entwickeln und dabei Platz für 100 000 dringend benötigte neue Wohnungen auszuweisen. Solche Projekte, auch wenn sie im öffentlichen Raum ausgestellt werden, können über die zurzeit herrschenden Planungsdefizite in der Hauptstadt und das mangelnde Engagement des NAL (nicht aber seiner Mitglieder) nicht hinwegtäuschen. So präsentiert sich Oslo zu seinem 1000. Geburtstag in einem frisch aufgemachten Kleid mit einigen Perlen aus der Vergangenheit und viel Klunker aus der Gegenwart.


[ Rechtzeitig zum Jubiläum ist ein neuer Architekturführer zu Oslo erschienen - allerdings bisher nur auf norwegisch. Doch lassen sich auch ohne Kenntnisse der Sprache die wichtigsten Fakten eruieren: Ole Daniel Bruun: Arkitektur i Oslo. En veiviser til byens Bygningsmiljø. Kunnskapsforlaget, Oslo 1999 (ISBN 82-573-0948-6). nKr. 348.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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