Artikel

Hasta la vista, Autobahn
Der Standard

Madrid setzt stadtplanerische Akzente und untertunnelt die Innenringautobahn - Über neugewonnene Freiräume der spanischen Metropole

8. Mai 2010 - Jan Marot
„Paso a paso“ , Schritt für Schritt, wie die Spanier sagen, „pero sin pausa“ , aber pausenlos, setzt sich Europas drittgrößter Ballungsraum über eine dereinst in den 1960er-Jahren für die motorisierte Mobilität selbstauferlegte Grenze hinweg. Über Dekaden markierte ein zentrales Teilstück der inneren Stadtringautobahn M-30 eine unüberwindbare Barriere für die Stadtplanung.

Grauer Beton, beiderseits der Ufer des Río Manzanares, verdeckte auf der Höhe des Königspalastes und seiner Gärten den Blick auf die Stadt und zum vis-à-vis liegenden königlichen Jagdrevier und den reanimierten königlichen Obstgärten. Für eine Rückeroberung der Ufer taucht der Verkehr jetzt beim Stadion Vicente Calderón des diesjährigen Europa-League-Finalisten Atlético Madrid ab, um sechs Kilometer später am Knoten Süd wiederaufzutauchen. Insgesamt sind 43 Kilometer Tunnel fertiggestellt - zumeist überplattete Trassen. Geplant ist auch, alle M-30-Zubringer zu überdachen.

Das knapp vier Milliarden Euro teure Projekt lässt tatsächlich neue Lebensräume entstehen. Der Fluss, an dessen einst verwilderten Ufern das Volksfesttreiben von Francisco de Goya in La Pradera de San Isidoro auf Leinwand gebannt wurde, rückt wieder in den Mittelpunkt des Stadtlebens. Eine Vision eines „grüneren“ Madrid für das 21. Jahrhundert nimmt als M(adrid)rió Gestalt an.

Federführend für die Umsetzung des Prestigeprojekts des Langzeitbürgermeisters Alberto Ruíz Gallardón zeigte sich das Rotterdamer Architekturbüro West8 um Adriaan Geuze. Im Wettbewerb gegen Herzog & de Meuron, Toyo Ito und Dominique Perrault überlegen, setzen sie nun auf dem 120 Hektar großen Areal mit den lokalen Partnern von Mrio Arquitectos ihren Masterplan für eine neue grüne Lunge dreier Bezirke und mehr als 500.000 Menschen um. Organisch wie artifiziell mutet die Formensprache des Landschaftsarchitekten Edzo Bindels von West8 an. Die Preisträger des International Urban Landscape Award für die Umgestaltung der Hamburger Ex-militärkaserne Lettow Vorbeck (2009) waren im selben Jahr mit dem Manzanares-Uferpark unter den Nominierten für den Conde Nast Traveller Innovation and Design Award. 2007 erhielten sie den Zuschlag für die Umgestaltung des Governors Island in New York.

Geradelt oder gejoggt wird nun über der Autobahn. Diese liegt 1,5 Meter unter dem Erdreich, dem Wurzelvlies und eineinhalb Meter Beton, für Bindels „ein Pflanzentrog“ . Der Salon de Pinos darüber ist ein Skulpturengarten mit über 10.000 eigenwilligen Pinien, die für Iberiens öffentlichen Raum die essenzielle Schattenfrage klären. Angepasst an das extreme Klima Madrids, sind sie ideal wegen ihrer geringen Wurzeltiefe. Teilweise sind sie schräg gepflanzt und zum Fluss geneigt. Die an Stierhörner erinnernden knallroten Stützen bieten Halt. „Es sind die singulären Reize, die man unterstreichen muss“ , ist Bindels überzeugt: „Landschaftsarchitekten träumen von wilden Unikaten, doch in der Baumschule gibt es nur langweilige Pflänzchen.“

Für die Verknüpfung der Ufer errichtet West8 sechs Betonbrücken. „Allesamt selbsttragende Konstruktionen, teilweise nur 25 Zentimeter dick“ , sagt Projektmanager Christian Dobrick. Darunter die Puente Cascara (Schalenbrücke), die an einen Walfischmund erinnert und die Puente Oblícuo, die „Schräge“ , wo man sich aus Gründen der Kosteneffizienz der Substanz der al-ten, geschwungenen Autobahnbrücke bediente und den Salon de Pinos weiter drüberspazieren lässt. „Hier gehen nicht nur Menschen über die Brücke, sondern auch die Bäume“ , sagt Bindels.

Binnen kürzester Zeit zum Besuchermagneten avancierten die zehn Spielplätze, die behindertengerecht und für unterschiedliche Altersgruppen konzipiert wurden. „Die Kinder stellen sich sogar an. Dabei geht manchmal das iberische Temperament der Väter durch“ , sagt Dobrick. So erhielt die Stadt Madrid kürzlich den Golden Swing Award, einen Preis der den Einsatz für die jüngsten Stadtbewohner unterstreicht.

Zu den Jüngsten gesellen sich bereits auch Erholungssuchende aus den dichtbebauten Westbezirken, es zieht sie dorthin, wo eine neue Ramblas-esque-Promenade ein altes Manko der kastilischen Metropole gegenüber ihrer katalanischen Rivalin Barcelona amortisieren soll: das Fehlen eines Stadtstrandes. Also wird auch eine Playa auf dem 40 Hektar vergrößerten Parque de la Arguanzuela entstehen. Nicht dass man im Manzanares plantschen könnte. Der aufgestaute Fluss führt Wasser fernab der Qualität alpenländischer Gebirgsseen. Und obgleich Madrids Name sich vom arabischen Madschrít, „Mutter aller Gewässer“ ableitet, scherzte schon der Poet Lope de Vega (1562-1653) über den oft wenig Wasser führenden Manzanares: „Die Stadt soll entweder einen Fluss kaufen oder ihre Brücken verkaufen.“

Die Wirtschaftskrise habe den Baufortschritt nicht gebremst. Infrastrukturspritzen für Beschäftigungsimpulse in Form von Geldmitteln aus dem Plan E der Regierung werden für das Projekt aufgewandt, so Dobrick. Das schafft Arbeitsplätze. Bis zum Frühjahr 2011, pünktlich zur Kommunalwahl, soll dann das gesamte Areal oberirdisch fertiggestellt sein - und auch an den Urnen einen Stimmenbonus bringen. Denn bei aller Euphorie weiß Bindels: „Wir Architekten müssen in Legislaturperioden denken“ .

Rechnen würde sich ein solches Projekt „nicht in 15 Jahren“ , sagt er: „Das ist etwas für kommende Generationen.“ Kritik kam seitens der Umweltschützer von den Ecologistas en Acción. Man verdecke das Problem, anstatt es zu lösen. Denn im Zuge der Schaffung eines oberirdischen Paradieses soll unterirdisch die rund 300.000 Fahrzeuge pro Tag zählende Blechlawine in ihrer Kapazität um 100.000 erhöht werden.

Den Bewohnern im äußeren Südwesten, wo der Verkehr, von der A-5 kommend, die bereits untertunnelte Avenida de Portugal passiert, ging die Trassenunterführung jedoch nicht weit genug.

West8 wird sich nun der Strandpromenade von Palma de Mallorca annehmen. Ein Ein-Kilometer-Abschnitt dient, wie Dobrick sagt, „als Pilotprojekt“ . Da ein in Zeiten des Baubooms geschaffenes Küstenbetonierungsdilemma touristisch einen obsoleten Wirtschaftsweg darstellt, tut Imagepolitur not: „Regierungschef Zapatero erklärte dies zur Chefsache.“ Beim Madrider Flughafen Barajas wächst in Gestalt der Pegaso City Spaniens größter Businesspark, der aktuell auf der Expo in Schanghai präsentiert wird. So gesteht Dobrick: „Nur über Qualität kann man im Immobilienmarkt noch Akzente setzen.“

Bürgermeister Gallardón hingegen gedenkt nach seiner wahrscheinlichen Wiederwahl weiterzumachen mit dem Untertunneln. Denn Autobahnen, einst imposante Zeichen des Fortschritts, sind zu Luftverschmutzern und Dezibelquellen degradiert worden, die nicht mehr in das ergrünende Stadt- und Weltbild passen. Der Außenring M-40 (63 Kilometer) soll an starkbewohnten Abschnitten wie Zugstrecken verdeckt werden. Auch das Gros der Hochspannungsleitungen ist bereits aus der Madrileños Blickfeld verschwunden. Eben ein Schritt nach dem anderen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: