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Wie ein solitäres Möbel
Spectrum

Ein Zusammenspiel von architektonischer Qualität, Funktionalität und Wirtschaftlichkeit sollte es werden, das neue Chemiegebäude der Universität Graz. Von der Schwierigkeit, dabei die Balance zu halten.

11. September 2010 - Karin Tschavgova
Seit rund 20 Jahren baut die Technische Universität Graz kräftig an ihrer Zukunft. Waren es anfangs städtische Verdichtungen am Areal des Stammhauses in der Rechbauerstraße, die sich in Hörsaaleinbauten im Innenhof und einem Neubau eines Institutsgebäudes von Günther Domenig manifestierten, so verlagert sich der Schwerpunkt der baulichen Aktivitäten für Institutsneubauten seit einem Jahrzehnt zunehmend auf die Inffeldgründe im Süden der Stadt.

Eine andere, schon in den 1950er-Jahren genützte Erweiterungsmöglichkeit boten die Gründe an der Petersgasse. Raimund Lorenz realisierte dort bis 1960, in Nachbarschaft zur „Neuen Technik“ für Elektrotechnik und Maschinenbau, die nach dem Ersten Weltkrieg errichtet worden war, das Chemische Institut der Technischen Universität (TU) als typischen Repräsentationsbau jener Jahre mit einer monumentalen Freitreppe, die den natürlichen Geländesprung verdeutlicht. Szyszkowitz und Kowalski setzten 1991 diesem Funktionalismus eine Betonskulptur für die Biochemie und Biotechnologie entgegen, die in ihrem formal überbordenden Gestus eine typische Zeitmarke einer Architektur der „Grazer Schule“ darstellt. Ernst Giselbrecht schließlich verdeutlichte mit der Biokatalyse von 2004, dass die fetten Jahre vorbei sind und eine auf wenige Aperçus reduzierte Funktionsarchitektur gefragt war.

Weil jede einst noch so moderne Architektur einmal zeitgemäßen Funktions- und Technologieansprüchen nicht mehr genügt, entschied man vor sechs Jahren, das Chemische Institut mit seinen Labors neu zu bauen und die Bundesimmobiliengesellschaft BIG zu beauftragen, dafür einen zweistufigen Wettbewerb auszuschreiben. Das Lorenz'sche Gebäude soll später zu einem gemeinsamen Zentrum der TU und der Medizinischen Universität werden, das Disziplinen an der Schnittstelle von Medizin und Technik vereint.

Am 7. Oktober wird nun die „Neue Chemie“ feierlich übergeben. Sie wurde von Zinterl Architekten geplant, einem Büro, das in Graz und Lissabon seinen Sitz hat und hierorts nicht nur für die Campusbauten der Fachhochschule verantwortlich zeichnet, sondern auch für ein von Frank Stronach gesponsertes Institut der TU auf den Inffeldgründen.

Aufgefallen ist das neue Chemiegebäude den Passanten der Münzgrabenstraße lange vor seiner Fertigstellung schon deshalb, weil es die städtebauliche Charakteristik der Ausfallstraße radikal durchbricht, die von der Linearität straßenbegleitender Gründerzeitbauten und Vorstadthäuser aus dem Biedermeier geprägt ist. Sein fast 100 Meter langer und sechs Geschoße hoher Hauptbau steht nicht an der Straße, sondern weit dahinter in einer Zone, die sonst den von der Straße aus uneinsehbaren Höfen und ihren Einbauten vorbehalten ist. Zur Straße hin öffnet sich die „Neue Chemie“ auf einen in die Tiefe gezogenen Platz, der einen ebenso offenen wie großzügigen Zugang von der Straße und dem Straßenbahnhalt darstellt. Dieses seiner Bedeutung als öffentlicher Bau entsprechende Zurückweichen lässt das Gebäude als Solitär erscheinen, obwohl es nach der Ausschreibungsvorgabe an die offene Seite der U-förmigen „Neuen Technik“ so andockt, dass es diese räumlich zu einem Ring schließt. In der Annäherung über den Vorplatz lässt sich die Anbindung allerdings nur über die Schmalfront erkennen, die zwar hinter den Bestand zurücktritt, ihm jedoch sonst, in der gestalterischen Durchbildung seiner Fassade, keine Referenz erweist. Das erstaunt, geht die Seitenfront doch auch keinen Dialog mit der langen, nach Süden orientierten Hauptfassade ein. Erklärt wird die Divergenz damit, dass sich an den beiden Enden des Baukörpers Büros für die Institute befinden, die eine geringere Raumhöhe als die Studierenden- und Forschungslabors aufweisen und daher – durch Stiegenhäuser beidseits getrennt vom flächenmäßig dominierenden Laborbereich – höhenversetzt angeordnet wurden.

Rund 600 Studierende und lehrende Forscher werden hier Platz finden. Parallel zum langen Trakt haben die Architekten ein zweites, niedrigeres Gebäude in den Innenhof der „Neuen Technik“ gestellt, das an eine bestehende Turbinenhalle angrenzt und mit dem Haupthaus über eine Achse verbunden ist, die im rechten Winkel seitlich an das zweigeschoßige Foyer anschließt.
sDieses Hofhaus, das sich dem eilig Vorübergehenden nur durch einen schmalen Durchgang im Bestand andeutet, enthält einen ansteigenden Hörsaal im düsteren Retrodesign über zwei Geschoße, der wie ein solitäres verschlossenes Möbel inmitten des verglasten Körpers gestellt wurde. Seine Vorplätze auf der Galerie und auf Hofebene sind großzügige Warte- und Kommunikationszonen, die dem Zustrom von maximal 170 Hörern gerecht werden, während die Erschließungszonen zu den Labors mit je zwei langen, schmalen Kunstlichtgängen aufs Äußerste reduziert sind.

Hier wie an den schon durch ihre geringe Raumhöhe beengt erscheinenden Büro- und Besprechungsräumen der einzelnen Institute an den Köpfen zeigt sich das Credo der BIG – „ein perfektes Zusammenspiel zwischen architektonischer Qualität, Funktionalität und Wirtschaftlichkeit“ anzustreben – in Schieflage zugunsten des Letzteren. Nachhaltig scheint der verständliche Sparwille zumindest in diesem Bereich nicht, wenn man bedenkt, dass derart durch ihre Höhe determinierte Räume im Lebenss-10;0zyklus eines solchen Bauwerks kaum Flexibi-slität zulassen. Was, wenn in 50 Jahren Bürotätigkeiten zentralisiert, hingegen mehr Unterrichtsräume gefragt sein werden?

Als gestalterisch dominierendes Element und Aufputz leistet man sich die in zwei vertikalen Ebenen installierte Glasfassade. Der raumabschließenden Glashülle haben die Architekten schmale, durch Siebdruck punktbeschichtete Glasscheiben in horizontal gegliederter Bänderung vorgesetzt, die sich im Bereich der Fenster schuppenartig öffnen lassen und für den notwendigen Sonnenschutz sorgen sollen. Dass dabei das Kriterium äußerster Ökonomie nicht im Vordergrund stand, zeigt die Tatsache, dass auch die nur geringfügig von der Nordausrichtung abweichende zweite Längsfassade, die keine Sonneneinstrahlung erfährt, denselben konstruktiven Aufbau zeigt.

Wird die Qualität eines Entwurf schon im Wettbewerb vorwiegend nach funktionellen und wirtschaftlichen Kriterien gewertet, so ist die Gefahr groß, dass in der Realisierungsphase der naturgemäß einsetzende Prozess der „Abschleifung“ zu Kompromissen führt, die ein Projekt in den Grenzbereich zu reiner Gebrauchsarchitektur stellen. Funktionell gekonnt – aber nicht mehr.

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