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Totem der Moderne
Spectrum

Architektur im Fieber der Ereignisse: wie mit dem Erbe der Twin Towers verfahren wurde. Zwischen Ideenwettbewerben für einen Wiederaufbau und pragmatischen Gründen gegen eine Gedenkstätte am Ground Zero.

10. September 2011 - Michael Zinganell
Haben die Anschläge auf das Word Trade Center in New York vom 11.September 2001 auch die Diskurse über Architektur und Stadtplanung verändert, oder sind reale bauliche Interventionen durch die tragischen Ereignisse in New York beeinflusst wurden? Was hat das Verbrechen dort an Produktivkraft freigesetzt?

Zur Erinnerung: Den Terroristen gelang es, die entführten Flugzeuge so exakt zu koordinieren, dass beinahe die ganze Welt gezwungen war, live an den TV-Schirmen zuzusehen, wie die Hochhaustürme zu brennen begannen und später einstürzten. Der Doppelanschlag mit zwei Boeing 767 tötete nicht nur über 2.900 Personen in den Zwillingstürmen, sondern zerstörte riesige Büroflächen und die Arbeitsplätze von über 40.000 Angestellten in sieben Gebäuden. Dabei wurden nicht nur große Teile des Telefonnetzes lahmgelegt, sondern auch das Verkehrssystem in Downtown Manhattan. Das verursachte einen Totalausfall in den Niederlassungen von Finanzdienstleistern im Financial District – und die vorübergehende Schließung der Börse. Auf medialer wie ökonomischer Ebene war der Anschlag an Effektivität kaum zu übertreffen.

Bereits unmittelbar nach dem Attentat meldeten sich Experten unterschiedlichster Disziplinen zu Wort, boten ihre Expertisen an und versuchten sich in der Phase erhöhter Medienaufmerksamkeit mit ihren Vorschlägen in Stellung zu bringen: zuerst Ingenieure und Statiker, im Regelfall Vertreter eines stillen, im Hintergrund arbeitenden Gewerbes, die nun von Sicherheitsexperten und Medienvertretern konsultiert wurden, aber auch Stadtplaner und Architekten.

Warnung vor Wiederaufbau

Am 17. September beispielsweise erklärten James Howard Kunstler und Nikos A. Salingaros das Zeitalter der Wolkenkratzer für beendet: „Hochhäuser stellen eine experimentelle Bautypologie dar, die versagt hat. Kein Megatower wird mehr gebaut, und viele der bereits bestehenden werden abgebrochen werden. Nur in einigen Ländern der dritten Welt, wo sie eben erst als Teil des enormen Nachzieheffekts der Industrialisierung unreflektiert übernommen wurden, bleiben sie noch erhalten.“ Für Kunstler und Salingaros stellten die Türme des World Trade Center bereits seit ihrer Errichtung nichts anderes als „Totems der Moderne“ dar. Sie warnten eindringlich davor, sie wiederzuerrichten: „Die Bilder ihrer Zerstörung haben sich nun nicht nur in die Gedächtnisse potenzieller Opfer eingebrannt, sondern auch in das jedes zukünftigen Terroristen, der vielleicht noch heute in den Kindesschuhen steckt: Sie wieder aufzubauen hieße daher Zielscheiben zu errichten!“ Unterstützung erhielten die Dekonzentrationsverfechter von Sicherheits- und Immobilienexperten: Erstens seien in Lower Manhattan bereits vor dem 11. September ebenso viele Büros leergestanden wie durch den Anschlag verloren gingen, und zum anderen war die Nachfrage gesunken, nachdem der Dotcom-Fallout und die anhaltende Rezession viele Unternehmen zwangen Kosten zu reduzieren. Sicherheitsberater empfahlen ohnehin diskretere Bauwerke, die sich als symbolisches Ziel weniger eigneten, und dezentralere Standorte, die besser zu sichern sind. Sie bewarben die lebensnotwendige Einrichtung von dislozierten Datenbackup-Zentren und parallelen Büroinfrastrukturen, die im Notfall sofort von den Mitarbeitern bezogen werden können.

Angesichts des Schulterschlusses, der die ganze Nation erfasste, formierten sich auch sofort die Verfechter eines symbolischen Gegenschlages: Zwar hatten zahlreiche namhafte Künstler und Intellektuelle Vorschläge für eine permanente Gedenkstätte auf Ground Zero gemacht, doch der neue Bürgermeister stellte bald klar, dass sich die Stadt nicht leisten könne, an dieser Stelle auf eine kommerzielle Nutzung zu verzichten. Und auch in Architektenkreisen wollte man nicht viel von Demut wissen: Das hieße nur, sich vor der Verantwortung einer Neugestaltung zu drücken, so Robert Stern, die Rekonstruktion der Türme symbolisiere die „Unbesiegbarkeit Amerikas“. Ganz im Gegenteil: „We should build an even greater and more innovative scyscraper“, brachte Terence Riley, Leiter der Architekturabteilung des MOMA, die dominierende Vorstellung in der Architekturszene auf den Punkt.

Um die Diskussion nicht zaghaften oder visionslosen Politikern und Wirtschaftskapitänen zu überlassen, hatte der New Yorker Architekturgalerist Max Protetch bereits am 20.September zu einem internationalen Ideenwettbewerb aufgerufen. Die Ausstellung sollte ein „Forum für Optimismus“ bilden. Und obwohl einige der ganz Großen fehlten, boten die Entwürfe von „Stararchitekten“ eine beeindruckende Anzahl ästhetischer Sensationen, die vor allem von einem enormen Drang nach Höhe getrieben schienen: „Die Komplexität der Aufgabe an diesem ,hoch mediatisierten Weltort‘ scheint dieArchitekten beflügelt zu haben“, zeigte sich der Architekturredakteur der „Süddeutschen Zeitung“ begeistert. Das Interesse der Öffentlichkeit an Architektur sei seit dem 11. September eindeutig gestiegen, sogar CNN habesich für die Eröffnung der Ausstellung angesagt, freute sich der Initiator der Schau – und in einem Interview für Telepolis bekräftigte er: „Es ist vermutlich das erste Mal in der Geschichte der USA, dass sich die amerikanische Öffentlichkeit der Bedeutung von Architektur in allen ihren Facetten bewusst wird: Architektur als Symbol und als politisches, soziales und wirtschaftliches Element. Auf einmal haben wir ein Publikum, das aufmerksam zuhört und interessante Fragen stellt. Was das für New York konkret bedeutet? Dass wir bei den Mächtigen in Wirtschaft und Politik leichter Gehör finden, wenn über Stadtpolitik und Stadtentwicklung diskutiert wird.“

Aber auch Vertreter einer rationalen Sachlichkeit meldeten sich sofort zu Wort: Auf Initiative von Norman Foster und Ove Arup wurde als Reaktion auf das Attentat eine sicherheitstechnische Optimierung des alten Motivs der Zwillingstürme entwickelt. Die neuen „twinned towers“, in sich verdrehte Zwillingstürme aus dreieckigen Elementen, die Lasten nachgiebig auffangen, sollten nun gegen Flugzeugeinschläge resistent sein und durch ihre mehrmalige Verschränkung eine Fülle an Fluchtwegen ermöglichen. Ein Modernisierungsschub par excellence, ohne jede Metapher der Trauer.

Von den oben angeführten Visionen ist allerdings nur wenig geblieben: Der Exodus aus Downtown hat zumindest nicht in dem prognostizierten Ausmaß stattgefunden. Hochhäuser werden weiter gebaut. Und auch der Bauherr des World Trade Center könnte zu einem geladenen Wettbewerb genötigt werden. Daniel Libeskinds metaphernreiches Siegerprojekt und seine emotionale Rhetorik haben zwar die Unterstützung der Überlebenden und der Familien der Opfer gewonnen. Seine Lobby hatte sogar die Entlassung des Architekturkritikers der New York Times gefordert, als dieser es wagte, seinen Entwurf zu kritisieren. Aber dieser Streit hat sich mittlerweile erübrigt. Denn der Immobilienmagnat Larry Silverstein, der die sanierungsbedürftigen Gebäude nur drei Monate vor dem Attentat preisgünstig erworben hatte und nun den Wiederaufbau aus Mitteln der Versicherung finanziert, entschied anders: Libeskind durfteden Masterplan zeichnen, als verantwortlichen Projektleiter ernannte er aber David Childs, Partner von Skidmore, Owings & Merrill, einem der weltgrößten Architekturbüros, das sich ebenfalls am Wettbewerb beteiligt hatte, aber bereits vor dem Einsturz des World Trade Center von Silverstein mit dessen Umbau beauftragt war.

Ein kleines, unscheinbares Gebäude

Im Getöse um Aufmerksamkeit ging dabei der Erfolg eines kleinen, unscheinbaren temporären Gebäudes unter: die World Trade Center Temporary Viewing Platform von Rockwell, Kennon, Diller & Scofidio. Sie wurde am 30. Dezember 2001 eröffnet und bestand bloß aus einer aufsteigenden und absteigenden Rampe, getrennt von einer Wand, in die Besucher Worte der Kondolenz eintragen konnten, sowie einem Balkon, der den Blick auf die klaffende Wunde, auf die Trümmerlandschaft freigab. Die kleine, 300 Personen fassende Plattform wurde mit 3,5 Millionen Besuchern zu einem Wallfahrtsort, zu einer Tourismusattraktion, zum Ziel von „patriotischen“ Städtereisen – aber auch zur symbolischen und realen Bühne der Rekonstruktion und Erneuerung der Identität der Nation. Hier wurde die Erfahrung vor Ort mit der Trauerfeier für Pearl Harbour oder der Ermordung John F. Kennedys in eine historische Reihe gestellt. Hier wurde der vielen Nationen erinnert, die in den Zwillingstürmen für die „Werte der Freiheit“ gefallen sind, hier wurde aber auch bald der gemeinsame Feind ausgemacht, den es nun mit aller Härte zu bekämpfen galt.

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