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Über den Wipfeln ist Ruh
Spectrum

Er will kein klassischer Aussichtsturm sein, ist vielmehr eine Raumskulptur mit außergewöhnlicher Wegeführung. Der Murturm im steirischen Gosdorf bietet die verfeinerte Wahrnehmung einer Aulandschaft: ökologische Wald-Etagen statt spektakulärer Rundsicht.

24. September 2011 - Karin Tschavgova
Flüsse bilden Grenzen und sind zugleich verbindend. Mit der Ostöffnung wurden ehemals befestigte Grenzen von Finnland bis ans Schwarze Meer zu einer Kette unberührter Landschaften – Biotope, deren Schutz und Erforschung die EU unterstützt, ist das doch ein Beitrag zur Erhaltung von Biodiversität. Im Süden der Steiermark bildet die Mur knapp 40 Kilometer lang die Grenze zu Slowenien, ehe sie Österreich verlässt. Früher war die Aulandschaft an dieser Stelle eine Terra incognita. Genau das erwiessich als Vorteil für das Überleben von Tieren und Pflanzen, die anderswo längst als bedroht galten. Der Mündungsbereich des Saßbachs in die Mur – eine flache, lose bewaldete Landschaft mit Schotterinseln, die die Strömungsgeschwindigkeit der Mur verlangsamen und damit nicht nur ideale Voraussetzungen zur Renaturierung, sondern auch zur Beobachtung von Vögeln bieten – ist Teil des Programms „Grünes Band Europa“. Mit der sanften touristischen Erschließung dieser Landschaft wurde das Münchner Büro terrain:loenhart&mayr beauftragt. Mit der Steiermark verbunden ist Klaus Loenhart als Leiter des Instituts für Architektur und Landschaft an der TU Graz.

Folgt man im 1000-Seelen-Ort Gosdorf dem leicht zu übersehenden Hinweis auf einen „Murturm“, so passiert man vorerst ländliche Banalität. Rustikale Allerweltsarchitektur als Schenke für Radfahrer des Murradwegs, bescheidenes Ferienglück im längst fix installierten Campingmobil am Ufer des winzigen Sees, ein kleiner Parkplatz am Zugang zur Au, die für den motorisierten Verkehr gesperrt ist. Erlenwald und Feuchtwiesen, befestigte Waldwege, Wanderers Rast beim Insektenhotel, eine neu geschaffene Furt. Doch dann, durchs silbrig glänzende Blattwerk erspäht, ein hoch aufragendes Bauwerk, das es in sich hat, ein stählerner Turm, der sich polygonal in die Höhe schraubt. In seiner komplexen räumlichen Geometrie ist er auf den ersten Blick wenig fassbar, wirkt, als wäre er instabil. Mit Aussichtstürmen, die man landläufig kennt, jenen massiven, wehrhaft wirkenden Holzkonstruktionen, die reine Funktionsgebilde sind und nichts anderes wollen, als den Besucher sicher und rasch zum höchsten Punkt und freien Rundblick zu bringen, hat der Murturm nichts zu tun. Dieser Turm setzt sich auffallend in Szene – wie eine Diva auf dem roten Teppich, die als singulärer Höhepunkt gesehen werden will.

Aufstieg und Abstieg sind in Form einer Doppelhelix. Eine lineare Wegeführung mit zwei gegenläufigen Treppen, die ineinander verdreht nach oben streben und am höchsten Punkt über eine Plattform miteinander verbunden sind, hatten die Architekten von Anfang an im Kopf. Die Geometriefindung der räumlichen Struktur, die die beiden Treppenläufe tragen sollte, erwies sich dennoch als langwieriger und aufwendiger Prozess der Optimierung von Form und Material, als ein stetes Hin und Her zwischen Tragwerksplanern und Architekten. Erste einfache Papiermodelle, die wieder verworfen wurden, zeigen räumlich gekrümmte Rohre in der Figur von Zylindern oder steilen Kegelstumpfen. Formvorstellungen wurden gebaut, von den Tragwerksplanern im digitalen 3-D-Modell gerechnet, und das Ergebnis wurde wieder in ein physisches Modell „übersetzt“. Ein Feilen, so lange, bis Bewegungsablauf und Form optimiert schienen und das Tragwerk in Hinblick auf von außen einwirkende Kräfte, Lastenverteilung und fertigungstechnische Überlegungen dimensioniert war.

Entstanden ist eine Tragkonstruktion aus massiven Formrohren im Rechteckquerschnitt, die sich als doppelter Polygonzug nach oben schrauben. Körperhafte Präsenz, die die Dynamik der Gehspirale erst zur Wirkung bringt, verdanken die Treppenläufe den geschlossenen Brüstungen aus Aluminiumpaneelen und der Verkleidung ihrer Unterseite mit gekanteten Blechen. Statisch betrachtet, handelt es sich um ein Hybridtragwerk aus räumlichen, biegesteifen Knotenverbindungen, die durch eine Kombination aus Druckstäben und Seilen unterstützt werden. Die vorgespannten Seile im inneren Hohlraum der Raumstruktur haben dabei die Aufgabe, Schwingungen und die horizontale Schwankungsbewegung am Turmkopf zu minimieren. Knotenverbindungen, Anschlussdetails für Treppenträger und Seilanschlüsse wurden systematisiert, sodass sie trotz unterschiedlicher Rohrdimensionen und Anschlusswinkel einer geometrischen Logik folgen, die ihre Produktion erleichtern sollte. Knoten wurden im Werk produziert und Rohranschlüsse vor Ort geschweißt und geschlossen. Wer gleich neugierig losstürmt, ohne den Versuch, die Komplexität von Tragkonstruktion und Aufstieg vom Boden aus zu begreifen, der erkennt erst oben, auf der Plattform in 27 Meter Höhe, dass es sich um eine lineare Wegstrecke in einer gleichmäßigen Drehbewegung handelt, die Aufstieg und Abstieg trennt. Der Murturm will zum Erleben des Naturraums in den unterschiedlichen Höhen des Auwaldes animieren – nicht allein die Aussicht oben, vielmehr die differenzierte Wahrnehmung von Landschaft und Vegetation auf dem Weg ist das Ziel.

„... verschraubt den Raum mit der Zeit“, Erich Frieds Metapher über die berühmte spätgotische Doppelwendeltreppe in der Grazer Burg (zu finden im Gedicht „Grazer Treppen“) wird für die Beschreibung des Murturms immer wieder herangezogen. Und sie passt, denn von Beginn des Aufstiegs an sind Raum und Zeit als Dimension präsent.

Der Auftraggeberin, der kleinen Gemeinde Gosdorf, sollte der Turm im Bemühen um die touristische Aufrüstung der südsteirischen Grenzlandschaft ein Alleinstellungsmerkmal sichern. Zur maximalen touristischen Ganzjahresverwertung, für den Bilbao-Effekt, sind Ort und Objekt jedoch nicht geeignet, und Besucherströme in die unberührte Au wären auch nicht im Sinn der sanften Erschließung des Biotops. Der Bürgermeister hält an der Richtigkeit seines Tuns unbeirrt fest, auch wenn es Streit um die Kosten gibt. Dass der Kostenrahmen nicht eingehalten werden konnte und die Stahlbaufirma als Generalunternehmerin nun ein Mehrfaches ihres Anbots auf dem Prozessweg einfordert, ist ärgerlich, denn alle Beteiligten hätten wissen müssen, dass innovative Entwürfe Experimente sind, die aufwendigere Entstehungsprozesse und erheblichen Mehraufwand verlangen. „Nonstandard Structures“ sind im Rahmen heute üblicher enger Kostenkorsette kaum mehr zu realisieren. Und doch sind es aus allen Epochen der Kunst- und Baugeschichte genau jene außergewöhnlichen, zu ihrer Zeit innovativen Bauwerke, die unser besonderes Interesse, unsere Aufmerksamkeit und Bewunderung finden. Auch der Murturm mag, obwohl in struktureller und funktioneller Logik konzipiert, das Gegenteil von gebauter Ökonomie sein. Aber er ist ein Erlebnis, ein singuläres Hoch – erhebend für jeden Einzelnen, der sich auf den Weg macht.

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