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Historische Radikalität
Neue Zürcher Zeitung

Jubiläumsausgabe von ArchiLab in Orléans

5. September 2003 - Marc Zitzmann
Fünf Jahre sind eigentlich noch kein Alter zum Feiern. Der Umstand, dass die 1999 gegründeten Rencontres internationales d'architecture d'Orléans - alias ArchiLab - heuer ihr Konzept stark geändert haben, verdankt sich denn auch nicht diesem ungeraden Jubiläum, sondern der Tatsache, dass ArchiLab eine Veranstaltung des Fonds régional d'art contemporain (FRAC) der Region Centre ist - und dass die 24 FRAC in allen Regionen Frankreichs heuer ihr 20-jähriges Bestehen feiern. Aus diesem Grund hat das Kulturministerium eine Reihe von Veranstaltungen initiiert, deren Ziel eine Bestandsaufnahme der seit 1983 angehäuften rund 15 000 Kunstwerke ist (www.les20ansdesfrac.culture.fr). So bietet denn ArchiLab diesmal nicht mehr wie in den Vorjahren eine Auswahl der jüngsten internationalen Trends, sondern einen Querschnitt durch die Sammlung des FRAC Centre. Dieser hat sich seit 1991 auf Architektur spezialisiert - und zwar im Gegensatz zu den meisten anderen FRAC unter Einbezug «historischer» Arbeiten. Aus den mittlerweile rund 500 Modellen und 10 000 Zeichnungen haben sich gleich fünf Ausstellungen zusammenstellen lassen. Die mit Abstand wichtigste ist wie in den Vorjahren im Site des subsistances militaires zu finden. Auf 1500 Quadratmetern breitet die Schau «Architectures expérimentales 1950-2000» ein lückenhaftes, aber mit zum Teil wenig bekannten Arbeiten auch fesselndes Panorama der prophetischen oder utopischen Sphären aus, in welche Pioniere der Architektur im Lauf der letzten fünfzig Jahre vorgedrungen sind.

Hauptkriterium bei der Auswahl der gezeigten Projekte ist der experimentelle Ansatz - etwa bei der «Maison en plastique», mit welcher Ionel Schein 1956 an die Öffentlichkeit trat. Der schneckenhausförmige Bau vereint Biomorphismus und (damals) modernste Baumaterialien. In eine ähnliche Richtung weisen wenig später die linsenförmigen «Domobile» von Pascal Häusermann und die «Cellules polyvalentes» von Chanéac. Beide lassen sich zu mehrzelligen Gebilden zusammenballen - eine Idee, mit der etliche der gezeigten Projekte spielen, darunter eine Ikone der späten sechziger Jahre: Peter Cooks «Instant City». In dieser mobilen «Stadt», die sich bestehenden Infrastrukturen «aufpfropfen» lässt, wird Architektur zum Event, zur verhaltenspsychologischen Erfahrung.

Dezidiert erdverbunden sind dagegen mehrere Entwürfe für - meist auf dreidimensionalen Rastern basierende - «Metastädte». Alle bieten sie eine Grundstruktur, in oder auf welcher sich individuelle Nutzer so einnisten mögen, wie es ihnen beliebt. Diese Grundstruktur kann ein Turmbau sein wie bei Walter Pichlers «kompakter Stadt», ein Gitterwerk auf Pfeilern wie bei Yona Friedmans «Ville spatiale» oder ein meccanoartiges Gerüst wie bei der «Raumstadt» von Eckard Schulze-Fielitz und dem Entwurf für die Besiedlung des österreichischen Ragnitz-Tals von Eilfried Huth und Günther Domenig (dem gemeinsamen Werk der beiden widmet ArchiLab im Musée des beaux-arts eine separate Schau).

Über die programmatische Schräge der «Fonction oblique» von Claude Parent kommt die Ausstellung zum Kontextualismus von James Wines' viel publizierter «Indeterminate Façade» mit ihren eingestürzten Ziegelsteinen, zum Dekonstruktivismus von Bernard Tschumis Parc de la Villette, zu Daniel Libeskinds Stadtexegese «Berlin City Edge» und zu vielen weiteren Projekten. Diese stammen von Grössen wie Paul Andreu, Peter Eisenman, Zaha Hadid, Itsuko Hasegawa, Rem Koolhaas und Aldo Rossi, aber auch von wesentlich weniger bekannten Kollegen wie David Georges Emmerich, dem Erfinder selbsttragender Strukturen. All diese Arbeiten werden grosszügig mit Modellen und/oder Zeichnungen illustriert und durch vorbildliche Texte erläutert. So kann man sich im Gegensatz zu den Vorjahren von jeder Arbeit ein Bild machen - und im luxuriös bebilderten 576-seitigen Katalog eine Fülle von Informationen über die in der Sammlung vertretenen Architekten und ihre Werke finden.

Ausser in den beiden genannten Ausstellungen bietet ArchiLab noch an drei weiteren Orten in der Stadt einen Rückblick auf die vier vorangegangenen Ausgaben, eine kleine Schau über zwischen 1935 und 1945 geborene Vertreter der «Italie radicale» sowie eine Werkmonographie über Dominique Perraults Pariser Nationalbibliothek. Die Kuratorin der fünf Ausstellungen und engagierte Direktorin des FRAC Centre, Marie- Ange Brayer, verrät im Gespräch, dass ArchiLab von 2006 an zu einer Biennale werden soll und der Site des subsistances, ein 3500 Quadratmeter grosses ehemaliges Proviantlager der Armee, dannzumal nach einem auf 5,5 Millionen Euro veranschlagten Umbau als neuer Sitz des FRAC dienen wird. Dort soll es neben Räumlichkeiten für die Präsentation der Sammlung und für Wechselausstellungen auch Platz für ein Dokumentationszentrum geben.


[Bis zum 12. Oktober. Katalog: Euro 65.- (www.archilab.org).]

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