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Dezent versus präpotent
Der Standard

Früher waren sie Künstlern und Personal vorbehalten, heute sind sie heiß begehrt. Wie Wiens Dachausbauten wahrgenommen werden.

5. November 2011 - Valentin E. Wille
Wer je versucht hat, an einem Sommernachmittag einen Platz in der Sky Bar (Kärntner Straße), auf der Terrasse des K47 (Franz-Josefs-Kai) oder des Do & Co im Haas-Haus zu ergattern, weiß: Der Trend, die Dächer Wiens zu erobern, ist ungebrochen.

Was im 19. Jahrhundert aufgrund fehlender Aufstiegshilfen und mangelnder bauphysikalischer Möglichkeiten nur als billige Absteige fürs Personal zu finden war, wurde später zum Atelier für Künstler und Freidenker. Aufzüge und künstliche Klimatisierung im Sommer machten die Dachböden auch für eine wohlhabendere Klientel attraktiv. Worin aber liegt der Reiz, in luftigen Höhen zu residieren, wo es im Winter oft zu kalt und im Sommer zu heiß ist? Der Ausblick, richtig. Die Dachlandschaft der Wiener Innenstadt ist ziemlich homogen; außer dem Ringturm, dem Rathaus und rund einem Dutzend Kirchtürmen bietet sich von vielen ausgebauten Dächern eine freie Sicht auf Kahlenberg, Leopoldsberg und Wienerwald. Dafür müssen Interessenten (immer öfter aus Russland oder dem Nahen Osten kommend) bis zu 15.000 Euro pro Quadratmeter Dacheigentum auf den Tisch legen. Auch lockt die Möglichkeit, zentrumsnahes Wohnen mit einem eigenen Platz im Freien zu kombinieren. Terrassen werden zu Lounges, Spas oder Kräutergärten - kurzum zum eigenen „Stadt-Garten“. Und falls der Architekt es schafft, Räume ohne einer Übermacht von Dachschrägen zu entwickeln, die dem Maßtischler ein stattliches Einkommen ermöglichen, entstehen auch nutzbare Innenräume.

Historisches Fundament

Dass Wien ein reiches Erbe an Gründerzeitbauten mit meistens guten Fundamenten und größtenteils überdimensionierten tragenden Wänden aufweist, ist unerlässlich für die nachträgliche Aufstockung. Auch wenn die Baubehörde seit 2008 unter Einbeziehung einer schärferen Auslegung der Erdbebennorm mit der Unterscheidung in „unmaßgebliche“ und „maßgebliche“ Änderungen des Bestands (auch „Dachausbau leicht“ und „Dachausbau schwer“ genannt) das Entstehen neuer Projekte nicht gerade erleichtert hat, so bietet der Graubereich dieser gesetzlichen Normen dem kreativen Architekten durchaus Spielraum. Doch gerade das „historische Fundament“, auf dem der neue Entwurf aufsetzt, fordert den gewissenhaften Planer, wie denn mit dem Bestand umzugehen sei. „Dezent“, sprich unscheinbar, sensibel, feinfühlig, zurückhaltend, oder „präpotent“, sprich aufdringlich, übermächtig, frech, lautet da die Frage.

Der zurzeit am stärksten beachtete Dachneubau der Innenstadt ist sicherlich der des Generali-Hauses Am Hof. Architekt Gert M. Mayr-Keber, der für die Generali 2006 bereits den dezenten Dachausbau Wipplingerstraße 1 realisiert hat, nimmt hier ebenfalls die strenge Achsialsymmetrie des Gründerzeithauses aus dem Jahre 1882/83 von Ludwig Tischler auf und setzt ein Dachgeschoß darauf, das durch einen viertelkreisförmigen Umriss einen klar definierten Abschluss nach oben bildet und durch großflächige Glaselemente an frühere Dachateliers erinnert. Der erhöhte historische Mittelrisalit wird über der Gebäudemitte durch einen zylindrischen Rundbau mit Lamellenfenstern fortgesetzt und schließt so an die ursprünglichen Proportionen der Dachlandschaft aus der Gründerzeit an, die im Dehio-Handbuch als „bemerkenswert“ eingestuft wurde. Denkmalpfleger und „Weltkulturerbe Wien“-Mitinitiator Manfred Wehdorn meint hingegen, „die Dachlandschaft Wiens hat mit ihren ungeordneten Aufbauten, wie Stiegeneinhausungen, Klimageräten etc., viel Kritik ertragen müssen. Wenn der originale Dachumriss nicht mehr gegeben ist, bietet die zeitgemäße Tradierung der historischen Dachform zweifellos die Chance einer Flächenmehrung. Dieser Lösungsansatz wird sich aber auf einige wenige Beispiele beschränken.“ Neben dem formalen Erscheinungsbild hebt sich der 2900 m² zusätzliche Nutzfläche schaffende Neubau Am Hof auch durch die monochromen hellgrauen Oberflächen vom gelb gefassten Altbestand mit dem reichen neobarocken Fassadendekor ab (das nach einer „Fassadenbereinigung“ 1933 erst 1990/91 wieder rekonstruiert wurde). Architekt Mayr-Keber über den Bauplatz: „Prominente Lagen führen zwar zu höherer Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, sollten aber die qualitätsvolle Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen oder der Frage nach der Richtigkeit der historischen Gebäudevolumen nicht beeinflussen, da jeder Platz gleichen Anspruch auf eine entsprechende Umsetzung hat. Es ist allerdings der Einsatz der Mittel in gehobenen Lagen ein anderer.“

Weniger spektakulär fällt der Dachausbau der Österreichischen Kontrollbank in der benachbarten Strauchgasse aus. Adolf Krischanitz beschränkt sich auf einen Dachausbau anstelle eines „Neubaus“ und öffnet die Dachfläche partiell mit hexagonalen Fenstern sowie Terrassen. Ebenfalls in dieser Gegend befindet sich derzeit die größte Innenstadt-Baustelle: Der Tiroler Investor René Benko lässt das Viertel zwischen Am Hof und Tuchlauben in Wohnungen, Büros und Geschäfte umbauen. Herzstück ist die ehemalige Länderbank-Zentrale, in die die Hotelkette Park Hyatt 2013 einziehen wird und für die das markante, steile Mansardendach einiges an Nutzungs- und Ausbaumöglichkeiten bietet.

Sensibler Ort

Auch einen städtebaulich sensiblen Ort mit Platzsituation versahen Rüdiger Lainer + Partner mit einem zweigeschoßigen Dachausbau neben dem Karlsplatz, der jedoch wenig auf den Bestand reagiert. Der 1870/71 nach Plänen von Johann Romano und August Schwendenwein errichtete Nibelungenhof (Nibelungengasse) ist mit seiner Westfassade zur Akademie am Schillerplatz, mit der Ostfassade zum Karlsplatz Richtung Karlskirche ausgerichtet und stellt - wenn man mit dem Auto vom Schwarzenbergplatz zur Secession fährt - eine optische Landmark dar. Der Dachaufbau hebt sich klar vom Altbestand ab und weist eine starke horizontale Gliederung auf, die durch geknickte und überlappende Gesims-ähnliche Elemente etwas aufgelockert wird. Proportional übernimmt die neue Struktur den ursprünglichen Dachbestand, bietet jedoch Spannung durch die Linienführung. An den Ecken des Dachausbaus springt der Aufbau zurück, wird dezenter und widerspricht so der historistischen Interpretation der betonten Gebäudeecke, die sich in der historistischen Fassade durch eine Pilaster-flankierte Risalit-Ausbildung erkennen lässt.

Wien hat in den letzten zehn Jahren - was die Menge an Dachaus- und Dachneubauten betrifft - vieles nachgeholt, und dennoch bleibt noch viel Platz für Neues. Auch in finanzieller Hinsicht ist der Plafond - verglichen mit Quadratmeterpreisen von Metropolen wie Rom, London oder Paris - noch nicht erreicht. Der Konflikt Ausblick versus Anblick erlaubt ein weites Spektrum an spannenden Möglichkeiten, die es - respektvoll mit dem Bestand umgehend - auszuschöpfen gilt.

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