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„Peripheriebegriff abschaffen“
Der Standard

Sind Funktionswandel der Infrastruktur und Erweiterung der Wohnfläche Schuld an einer Zersiedelung? Die Alpbacher Architekturgespräche gingen den Ursachen und Konsequenzen einer Auflösung der einst klar getrennten Funktionen von Stadt und Land auf den Grund.

16. August 2003
Alpbach - Siedlungsbrei, Flächenfraß und Zersiedelung. So lauten drei der durchwegs nicht gerade positiv gefärbten Schlagworte, die in den Debatten über den „Dritten Raum“, über die „Zwischenstädte“ immer wieder bemüht werden. Den Ursachen, Konsequenzen und Perspektiven aus der Auflösung und Zerstörung der klar getrennten Funktionen von Stadt und umgebendem flachem Land, war denn auch der erste Tag der heurigen Alpbacher Architekturgespräche gewidmet - eingeordnet in das Generalthema des heurigen Europäischen Forums „Kontinuität und Brüche“.

Für den Bonner Architekten und Stadtplaner Thomas Sieverts ist die Entwicklung der Zwischenstadt unvermeidlich gewesen und sei nicht einseitig negativ zu betrachten. In den vergangenen 50 Jahren habe sich in der so genannten ersten Welt die private Kaufkraft versechsfacht, die genutzte private Wohnfläche von weniger als 15 auf mehr als 40 Quadratmeter verdreifacht. Das Entstehen von Suburbia sei daher auch als „Preis für die Erhaltung der alten Stadt“ - zumindest als Gehäuse - zu betrachten.

Viele Probleme leiten sich aus Sieverts Sicht daraus ab, dass „große Systeme“ wie beispielsweise Straßen, Universitätsviertel und Krankenhäuser in der alten Stadt immer Mehrfachfunktionen erfüllen, nach ihrem „Ausbruch“ aber eine „rücksichtslose Eigenentwicklung“ genommen hätten - die Straße etwa wurde zur „autistischen Autobahn mit Lärmschutz“.

Als größte Gefahr betrachtet es Sieverts, dass die Zwischenstadt „anästhetisch“, also nicht wahrgenommen werde. Nur durch eine Aufladung mit Emotionen sei die weitere Entwicklung politisch bewältigbar.

Der „Sieg der Städte“ geht für Heinrich Mäding vom Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin paradoxerweise mit einem gewissen „Verschwinden der Städte“ Hand in Hand. Mäding brachte die soziale Segregation ins Spiel, die durch die Tendenz gut verdienender Mittelschichtfamilien entstehe, sich in Einfamilienhausgebieten des Umlandes anzusiedeln. In den Kernstädten seien längst Arme, Alleinerziehende, Alte und Ausländer überrepräsentiert, der Anteil der Singlehaushalte inzwischen über oder nahe 50 Prozent. Die Förderung von Eigenheimen und Pendlerpauschalen schwäche die Städte.

Diese und ähnliche Maßnahmen seien unter gänzlich anderen Rahmenbedingungen konzipiert und sollten gestrichen werden. Alfons Dworsky, Architekturprofessor in Hannover, thematisierte die Zählebigkeit des traditionellen Bildes einer ringförmig angeordneten Stadt und umgebendem ländlichem Raum - der Wandel zum flächenhaften Netzmodell habe in der Mehrzahl der Köpfe noch nicht stattgefunden. Seine pointierte Schlussfolgerung: „Der Peripheriebegriff ist abzuschaffen.“

Als eine der raren Frauen unter den Vortragenden der Architekturgespräche kritisierte die Freiburger Raumplanerin Christine Grüger ein Forschungsdefizit in der Zwischenstadt - mit einem geschlechtsspezifischen Blick darauf, wer mit welchen Mitteln Alltagsorganisation der dort Lebenden zu bewältigen hat.

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