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deutsche bauzeitung

Wohnungsbau »Tila« in Helsinki (SF)

Das Gebäude bildete zunächst nur den groben Rahmen, die Einteilung der Wohnungen und den Ausbau der zweigeschossigen Einheiten gestalteten die jeweiligen Eigentümer selbst. Für die großen Wohnungsbaugesellschaften eignet sich das Modell sicher nicht, die Zufriedenheit der Bewohner ist trotz aller Mühen jedoch enorm und weist den Weg für weitere Projekte selbstbestimmten Bauens in großen Einheiten.

17. Januar 2012 - Jorma Mukala
Das nach finnischen Maßstäben singuläre »Etagenwohnhaus Tila« (tila bedeutet Raum) wirkt auf den ersten Blick nicht besonders einzigartig. Das Gebäude fällt nämlich nicht durch spektakuläre Formen auf, sondern fügt sich harmonisch in die neue Wohnsiedlung Arabianranta (s. db 11/2007, S. 16) ein. Es ist aus denselben Materialien gebaut wie die Nachbarhäuser – roter Ziegel, Beton und Stahl. Größenmäßig entspricht es den Vorschriften des Bebauungsplans und bautechnisch den üblichen Standards. Ganz wie im normalen finnischen Geschosswohnungsbau bilden die Zwischenwände die tragende Struktur und bestehen die Zwischendecken aus Betonelementen bzw. Hohlkörperdecken. Gemäß den strengen finnischen Normen ist die Gebäudehülle stark gedämmt und jede Wohnung mit einer mechanischen Lüftung versehen, die Heizenergie wird dem örtlichen Wärmenetz entnommen.

Die Gebäudegestalt bietet zunächst nichts Besonderes, doch die Proportionen der Fassade sind ungewöhnlich. Sie ist in Felder von der Höhe zweier Geschosse unterteilt und zeugt von den Innenraumlösungen, die das Haus interessant machen. Seinen architektonischen Kern bildet ein 5 m hoher, sich über die gesamte Baukörpertiefe erstreckender Wohnraum mit einer Grundfläche von 102 m² oder mit zwei Raummodulen zu je 50 m². Sie verteilen sich auf vier Regelgeschosse. Das EG hat eine normale Höhe und nimmt als Arbeitszimmer nutzbare Räume auf, die direkt von außen und auch über interne Treppen vom ersten Stock aus erreichbar sind. Das DG verfügt anstelle von Balkonen über Terrassen.

Leitgedanke der architektonischen Gestaltung war diese Raumidee, aus der sich die funktionalen und architektonischen Lösungen direkt ergeben. Es ist deutlich zu sehen, dass mit dem Konzept keine außergewöhnlichen oder dramatischen Formen oder »Wow-Effekte« angestrebt wurden. Vielmehr gelang es, mit minimalistischen Mitteln einen offenen Rahmen für vielgestaltiges Wohnen zu schaffen. Dieser »Rahmen-Ansatz« zeigt sich auch an der zurückhaltenden und unauffälligen Gestaltung der Details, die sich neutral in die Gesamtheit einpassen. Formen und Materialien erscheinen recht rau und simpel. Die verwendeten Baustoffe (roter Ziegel für die Fassade, graue Betonflächen sowie feuerverzinkter und lackierter Stahl) schaffen ein sachliches, strenges und zugleich harmonisches Gesamtbild.

Das Gebäude hat zwei Gesichter. Die schützend geschlossene Eingangsseite mit ihren Laubengängen zeigt mit ihrer Großzügigkeit Anklänge an Industriearchitektur. Die Balkonseite dagegen öffnet sich maximal hin zu Hof und Licht, die kleinteilige Fensterteilung signalisiert traditionelle Wohnkultur.

Den Gebäudekern bilden 5 m hohe, leere Räume, die gerade eben so den gesetzlichen Mindestanforderungen an eine Wohnung entsprechen. Ein Punkt, über den die Bauaufsichtsbehörde glücklicherweise mit sich verhandeln ließ. Anders als im herkömmlichen finnischen Wohnungsbau gibt es bauseitig keine Kücheneinrichtung, sondern nur die nötigen Anschlüsse, und – abgesehen vom Badezimmer neben dem Eingang – auch keinerlei Raumaufteilung. Dem Gebäudekonzept gemäß erwirbt der Bewohner einen »leeren Rohraum«, den er individuell ausgestalten kann. Der Rohraum ist im Anschaffungspreis billiger als eine herkömmliche Wohnung.

In sämtlichen Wohnungen fand eine »nutzerorientierte Eigenplanung« statt. D. h., nach Fertigstellung der Gebäudestruktur und Übergabe an die einzelnen Eigentümer zogen sich Bauträger, Baufirma und im Prinzip auch die Architektin komplett zurück, denn alle Eigentümer wollten ihren Rohraum selbst nach den eigenen Vorstellungen ausbauen. Einige beauftragten Architekten, andere entwarfen selbst und beteiligten sich auch aktiv an der Umsetzung. Für alle Einzelpläne waren baubehördliche Genehmigungen einzuholen. Dabei bot Pia Ilonen aber ihr Hilfe an und versorgte dazu alle Beteiligten mit einer detaillierten Informationsbroschüre mit Richtlinien und gesetzlichen Anforderungen.

In den entstandenen Raumlösungen zeigen sich individuelle Auswahlentscheidungen und Gewichtungen, v. a. Materialien und Raumaufteilungen sind sehr unterschiedlich ausgefallen. Allen Lösungen ist eine gewisse Reduziertheit gemein, die Außenstehende auch als etwas typisch Finnisches ansehen könnten. Gemeinsame Merkmale sind die Galerien in variierender Größe und Wohnbereiche mit großer Raumhöhe. Der Unterschied zu normalen Etagenwohnungen und Standardlösungen ist groß, v. a. der enormen Raumhöhe wegen. Die Individualität ist unübersehbar. Die lichte Balkonwand mit ihrer raumhohen Verglasung schafft in allen Wohnungen eine ähnliche, wiedererkennbare Atmosphäre.

Die Bewohner betonen, dass für sie natürlich das Ziel, zu einer Wunschwohnung zu kommen, im Vordergrund stand, mindestens als ebenso wichtig empfinden sie aber auch den Verwirklichungsprozess auf dem Weg dahin. Durch Nachbarschaftshilfe, gemeinsame Materialbeschaffung, gegenseitige Arbeitseinsätze und Erfahrungsaustausch lernte man einander bereits vor dem Einzug kennen. Diese Erfahrung der Gemeinschaftlichkeit wissen die Bewohner zu schätzen.

Zögerliche Bauwirtschaft

Die Verwirklichung des Vorhabens basierte nicht, wie sonst üblich, auf der Initiative eines etablierten Akteurs der Baubranche, sondern geht auf Aktivitäten einer Einzelperson zurück. Die am offenen Wohnungsbau interessierte Architektin Pia Ilonen hatte an einer Exkursion nach Holland teilgenommen. Sie berichtet, wie sie die künftigen Bewohner an einem Reihenhausobjekt mitbauen sah. Spontan fragte sie die mitgereisten Beamten der Baubehörde, ob man in Helsinki nicht etwas Ähnliches ausprobieren könne? Man antwortete ihr, sie könne so etwas doch auf den Weg bringen. Ilonen strengte daraufhin erste Sondierungen bei Baufirmen an. Ihr Rohraum-Konzept stieß jedoch auf Ablehnung: »Zu vage. Kauft eh keiner. Gesetze und Vorschriften stehen dagegen.« Eine zweite Sondierungsrunde bei Baubehörde und Stadtplanungsamt in Helsinki brachte Grünes Licht für das Vorhaben und man wies auch gleich ein Grundstück zu. Schließlich fand sich auch ein Investor. Interessenten für die Wohnungen zu finden war leicht, es meldeten sich Tausende. Das Vorhaben stand zunächst unter einem glücklichen Stern. Während der Bauphase aber änderte sich die Konstellation, denn auf der Baustelle kam es zu elementaren Fehlern. Das Bauunternehmen erwies sich als inkompetent. Das fertige Haus musste teilweise abgerissen und neu errichtet werden, ehe die Bewohner in den Rohräumen ihre eigenen Pläne verwirklichen konnten.

Nischenprodukt

In Finnland basiert der Wohnungsbau eigentlich noch auf dem seit den 50er Jahren gängigen modernistischen Begriff von der Kernfamilie und deren Wohnbedürfnissen. In der heutigen postindustriellen Wohlstandsgesellschaft hat sich jedoch ein breites Spektrum verschiedener Lebensweisen und Patchwork-Familien entwickelt. Vor dem Hintergrund der modernen pluralistischen Lebensweisen und individualistischen Vorstellungen vom Wohnen erkundet das Etagenwohnhaus Tila neue Wege. Es zeigt, dass die Idee des offenen Bauens ausgezeichnet der Verwirklichung individueller Lebensweisen entgegenkommt.

Aber – wird das Rohraum-Konzept zu einem breiten Neuerungstrend im finnischen Wohnungsbau? Die Idee verlangt von den Bewohnern viel Eigeninitiative und Interesse am Planen und Bauen. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die breite Masse als derart aktiv und interessiert erweist. Andererseits träumen in Finnland viele Menschen traditionell vom Eigenheim und möchten sich, soweit sie es können, an der Planung und auch der Errichtung ihres Hauses beteiligen. Insofern kann man das Projekt zumindest als eine urbane Antwort auf den Wunsch nach einem Eigenheim sehen. Im Vergleich etwa zu Holland und Dänemark sind die Raumlösungen im finnischen Wohnungsbau relativ stereotyp. In der Wohnkultur wäre mehr Vielfalt wünschenswert. Konzepte wie das Etagenwohnhaus Tila leisten hierzu einen wichtigen Beitrag. Ohne Übertreibung kann man es als ein richtungweisendes und bedeutendes Vorhaben bezeichnen, denn es erschließt neue Horizonte der Wohnkultur.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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