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Was im Backstein wurzelt
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Die Jahrhunderte alten Bauten der Toskana sind eines ihrer touristischen Atouts. Dass die Region auch an moderner Architektur Beachtliches zu bieten hat, ist kaum bekannt. Eine Ausstellung im Wiener Ringturm schafft Abhilfe.

26. Juli 2003 - Walter Zschokke
Das zahlreiche Vorhandensein Jahrhunderte alter architektonischer Großtaten kann für eine Stadt oder Region zu einem starken touristischen Atout werden. Die historischen, gestalterischen oder technischen Wunderstücke bleiben nahezu unkonkurrenzierbar, weil sie alle ihren Platz in der heroisierenden Geschichtsschreibung und -vermittlung längst besetzen und nicht wiederholbar sind.

Schwieriger ist dagegen das Fortschreiben einer solchen Tradition, denn da sind beharrende Kräfte, die am Bekannten festhalten, weil es sich als Erfolgsschiene bewährt hat und darüber hinaus zielende Experimente nicht ausreichend Gewähr zu bieten scheinen. Andererseits ist die Phalanx historischer Superstücke für den Architekturschaffenden nicht nur Anregung und Herausforderung, sondern kann zugleich entmutigen und lähmen.

Das Verzweifeln des Künstlers vor der historischen Größe ist ein nicht unbekanntes Phänomen. Das Syndrom, das im 19. Jahrhundert manche Rom-Fahrer befiel, dass sie am Ort, überwältigt von einmaligen Eindrücken sowie von der Masse des Geschauten, nicht mehr an ein eigenes, selbstständiges Schaffen zu glauben vermochten und, heimgekehrt, ihre Zeit brauchten, bis sie Selbsteinschätzung und Leistungsvermögen wieder in Übereinstimmung und auf das frühere Niveau bringen konnten. Jene, die direkt aus solchen Städten und Regionen stammen, mussten und müssen für einige Zeit Distanz suchen, um das scheinbar Selbstverständliche kritisch zu relativieren und neu würdigen zu lernen.

Und jetzt die Toskana. Wir wissen um die Etrusker, die Römer und um eine blühende, europaweit aktive Wirtschaft der Florentiner Woll- und Seidenweber im Mittelalter, die selbst von katastrophalen Pestepidemien nicht gebremst werden konnte. Voraussetzungen, die den Nährboden des eindrücklichen Aufschwungs bilden, der als „Renaissance“ seither die kunstgeschichtlichen Betrachtungen dominiert. Im 19. Jahrhundert verfestigte der Historismus ein bereits selbstverständlich dichtes Gefüge, sodass ein Aufbruch, wie in manchen Ländern nördlich der Alpen, nicht so leicht in Gang kam.

Zwar haben sich in Florenz und Lucca beachtliche Werke aus der Zeit des Jugendstils erhalten, die jedoch einem perfekt ausgeführten Dekor verpflichtet bleiben und nur in Einzelfällen jene fließenden Raumfolgen aufweisen, die als Vorboten die Moderne ankünden. Die zeitlich frühe Etablierung eines totalitären Regimes unter Mussolini und der kulturpolitische Zufall bewirkten, dass im Unterschied zum Deutschen Reich die Bewegung der Neuen Sachlichkeit beziehungsweise des Neuen Bauens, in Italien „Rationalismo“ genannt, für knapp zwei Jahrzehnte zum Staatsstil erhoben wurde, bevor dem Diktator die Anleihen beim imperialen Rom dann doch besser ins propagandistische Konzept passten.

Die Architekten ließen sich zuerst - nicht wenige voller Begeisterung - in die „Bewegung“ einbinden, nicht alle machten allerdings die spätere Kehrtwendung auch noch mit. Als Staatsstil hatte der Rationalismus ganz Italien und damit auch die - vergleichsweise - konservative Toskana erfasst. Unter den zahlreichen Parteiheimen (Case del Popolo), Fliegerschulen, Sportstadien, Kinderheimen, Arbeitersiedlungen und Verkehrsbauten stechen das Stadion „Artemio Franchi“ von Pier-Luigi Nervi und Alessandro Giuntoli (1932); das Heiz- und Stellwerk zum Bahnhof von Florenz von Angiolo Mazzoni (1934); aber vor allem der dortige Hauptbahnhof selbst, die Stazione Santa Maria Novella (1934), von einer Gruppe toskanischer Architekten unter Leitung von Giovanni Michelucci (1891 bis 1990) erbaut, heraus. Letzterer wird von der Ausstellung im Ringturm als Lehrer, Architekt und Schlüsselfigur vorgestellt, ebenso seine Schüler und teils Mitarbeiter Edoardo Detti (1913 bis 1984), Leonardo Ricci (1918 bis 1994) und Leonardo Savioli (1917 bis 1982).

Obwohl nur mit Fotografien dokumentiert und mit ausführlichen Erläuterungen versehen, die wohl kaum zur Gänze gelesen werden, entsteht das unschwer nachvollziehbare Bild einer Schule - prinzipiell vergleichbar der Wagner-Schule in Wien -, deren Wirkung aber vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu greifen beginnt und sich in Projekten manifestiert, die in Kenntnis der Entwicklungen der Moderne, der Bauwerke von Frank Lloyd Wright, Alvar Aalto, Le Corbusier, Mies van der Rohe sowie Carlo Scarpa und den anderen Heroen der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts ihren Platz suchen und finden, indem die Auseinandersetzung mit der regionalen Kunst- und Kulturgeschichte äußerst differenziert und sensibel, dabei aber nicht weniger kraftvoll geführt wird. In einer prinzipiell undogmatischen Herangehensweise und beim kreativen Zusammenspiel traditionaler und neuer Materialien sind denn auch die interessantesten Impulse zu finden, die in das Schaffen der Achtziger- und Neunzigerjahre fortwirken, das sich von den herrschenden Strömungen an der Alpennordseite deutlich unterscheidet.

Da stößt man auf eine erfrischend angstfreie Verwendung von Naturstein, als rohe, grobe Mauer, als sorgfältig geschichtetes, Masse verkörperndes Bossenmauerwerk sowie glatt geschliffen im Innenausbau. Die Kontraste, die zu Konstruktionselementen und Fassadenteilen aus Stahl und Glas bestehen, betten diese Bauten wesentlich besser in die toskanischen Stadtgefüge und -geflechte ein als ein sklavisches Nachäffen vergangener Stile.

Aber auch der Sichtbeton ist unter der toskanischen Sonne ein anderes Material als im oft feuchten Norden. Die plastischen Gebilde aus einer Kombination komplexer Tragwerke und kräftiger Volumen kommen beim Spiel von Licht und Schatten so zur Geltung, wie von Le Corbusier in seinem berühmten Zitat angesprochen. Allerdings verspielter und damit für breitere Kreise leichter akzeptierbar, wie dies die „Case Popolari“ in Sorgane, Florenz (1963 bis 1980), von Leonardo Ricci und Leonardo Savioli in Gemeinschaftsarbeit mit vielen anderen Architekten entworfen und gebaut, auf eindrucksvolle Weise zeigen.

Am stärksten in toskanischer Tradition dürfte jedoch der Backstein wurzeln, denn mit diesem Material wurden und werden ein Großteil der beachtlichen Bauwerke dieser Region errichtet. Das oft ins Bräunliche tendierende Rot der gebrannten Erde vermag den Mauermassen ihren spezifischen Charakter zu verleihen und sie zugleich zu relativieren. Die feine Textur der geschichteten Ziegelsteine erzeugt zudem jene differenzierende, gegenklassische Erinnerung an das „Gemachtsein“ - von Hand nämlich -, die unverkleidet und unverputzt direkt zur Wirkung gelangt, wie beim Abbildungsbeispiel von Massimo Carmassi ersichtlich ist.

Architekturausstellungen sind für den einzelnen Betrachter so gut wie die Gedanken, zu denen sie anregen, oder so stark
wie die Sehnsucht zu einer Reise, die sie dorthin provozieren. Dies löst die Schau ausreichend ein.


[Die Ausstellung „Toskana: Architektur der Moderne“ im Ringturm (Wien I, Schottenring 30) ist noch bis 3. Oktober zu sehen (Montag bis Freitag 9 bis 18 Uhr).]

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