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Wo Breuer und Gropius eine Heimat fanden
Neue Zürcher Zeitung

Die Lawn Road Flats von Wells Coates in London

30. Juli 2003 - Caroline von Loewenich
Wer sich aufmacht, um die Lawn Road Flats in London Hampstead in Augenschein zu nehmen, dem bietet sich ein deprimierendes Bild. Das Gebäude, zur Zeit seiner Fertigstellung im Jahr 1934 als eindrucksvolles Zeugnis britischer Bauhausarchitektur gefeiert, steht kurz vor dem Verfall. Unkraut und Geröll überdecken den Eingangsbereich, die Fenster sind zerbrochen, die Türen vernagelt, und der Putz bröckelt grobflächig von den Wänden. Doch diese Entwicklung ist nicht unbemerkt geblieben: Vor zwei Jahren hat sich unter dem Patronat des RIBA (Royal Institute of British Architects) ein Trust formiert, mit dem Ziel, das Gebäude wiederherzustellen. Er erreichte, dass die Schutzwürdigkeit der Bausubstanz festgehalten wurde, und fand einen Käufer, eine Immobiliengesellschaft, die eine umfassende Renovierung an die Hand nehmen will.


Bauhauseinfluss

Gebaut wurden die Lawn Road Flats vom Architekten Wells Coates (1895-1958). Coates war Kanadier, verbrachte aber seine Kindheit und Jugend in Japan. Dort waren seine Eltern als Missionare tätig. Später liess er sich als Architekt in England nieder, wo er sich bald einen Namen mit dem Umbau von Innenräumen machte. Die Lawn Road Flats waren sein erstes grosses Bauprojekt. Den Auftrag dafür hatte er von Jack Pritchard erhalten, dem Gründer der Firma Isokon, die Möbel und Inneneinrichtungen herstellte. Pritchard orientierte sich am Ideengut des Bauhauses und war wie Coates mit Walter Gropius befreundet. Die Moderne bestimmte das Design seiner Möbel, für die er unter anderem den damals neuartigen Werkstoff Schichtholz verwendete.

Pritchard wollte einen Appartementblock, dessen Architektur einer Existenzform Rechnung trug, die nicht mehr bourgeois sein wollte, sondern offen für die Einflüsse einer weltumspannenden kulturellen und gesellschaftlichen Erneuerung. Dass dies gelang, war Coates' visionärer Begabung zuzuschreiben. Er entwarf ein vierstöckiges, L-förmiges Gebäude mit einem als Terrasse gestalteten Flachdach. Langgezogene Balkone auf jedem Stockwerk führen zu den 32 modern ausgestatteten Wohnungen mit Einbauschränken sowie Küchen- und Badezimmereinrichtungen. Hinzu kamen bewegliche Leichtmöbel aus der Isokon-Produktion, passende Fussböden und Verkleidungen aus furniertem Pressholz. Das Konzept beruht auf der optimalen Nutzung des vorhandenen Raumes, wobei jede der «Units» genannten Wohneinheiten etwa 25 Quadratmeter umfasst. Auffallend ist die schlichte Eleganz des auch als Isokon-Block bezeichneten Gebäudes. Agatha Christie, die in den Jahren 1942 bis 1943 ein Appartement bewohnte, verglich es mit einem Überseedampfer. Ihr Eindruck täuschte sie nicht: Coates hatte eine grosse Vorliebe für Schiffe und Boote, die seine Bauweise nachhaltig beeinflusste und der auch die Stromlinienform des Isokon- Blocks zuzuschreiben ist. Prägend hatte auf Coates zudem die japanische Architektur gewirkt. Grosszügigkeit, Leichtigkeit und Helle bestimmten alle seine Entwürfe. Er verwendete etwa mit Papier bespannte Schiebetüren sowie Tatami- Matten, und Blumengestecke gehörten zum festen Bestandteil seiner Innendekoration.


Intellektuelle und Sozialfälle

Die Mieter, die 1934 in die neuen Wohnungen zogen, waren überwiegend junge Intellektuelle der oberen Mittelklasse, die als Architekten, Journalisten und Schriftsteller tätig und einander oftmals freundschaftlich verbunden waren. Sie schätzten einen unbeschwerten, funktionalen Lebensstil und huldigten der neuen Wohnform als Ausdruck eines von Erneuerung getragenen Lebensgefühls. Der Standort in Hampstead hatte sich indes nicht zufällig ergeben. Der Vorort, auf einer Anhöhe im Norden Londons gelegen, war in den dreissiger Jahren das bevorzugte Wohnquartier von Künstlern und Intellektuellen, zunehmend auch das der deutschen Emigranten. Walter Gropius, der Deutschland 1933 verlassen hatte und 1934 nach England kam, wurde von Pritchard in den soeben fertiggestellten Lawn Road Flats untergebracht, wo er bis zu seiner Abreise nach Harvard im Jahr 1937 wohnte. Zu ihm gesellten sich bald auch Laszlo Moholy-Nagy und Marcel Breuer. Letzterer traf bei seiner Ankunft 1935 in den Lawn Roads auch die Zürcher Kunsthistorikerin Carola Giedion-Welcker an, die Gattin von Sigfried Giedion, dem langjährigen Vorsitzenden der CIAM (Congrès internationaux d'architecture moderne). Für ihn hatte Breuer in Zürich die Doldertal-Häuser (1936) sowie den Wohnbedarf-Laden an der Talstrasse entworfen.

Die ehemaligen Bauhausmitglieder arbeiteten bald alle für die Firma Isokon, in der Gropius die Leitung für das Design übernommen hatte. In diesem Umfeld schuf Breuer 1936 eine Schichtholz-Version seines Long Chair, der bald serienmässig produziert wurde. Breuer entwarf ausserdem Tische und Kleinmöbel, die sich ebenfalls erfolgreich verkauften. 1936 richtete er im Isokon- Block ein Restaurant ein, die «Isobar», die zum gesellschaftlichen Treffpunkt avancierte und bis in die sechziger Jahre bestehen blieb.

Nach dem Krieg verebbte die Aufbruchstimmung der ersten Jahre. Der Appartementblock beherbergte keine verschworene Wohngemeinschaft mehr, deren Mitglieder gemeinsame Ideale hatten. Immer mehr Bewohner der ersten Stunde zogen aus, und Renovationen wurden nötig. 1969 verkaufte Pritchard die Lawn Road Flats an die progressive Zeitung «New Statesman», in der Hoffnung, dass diese das Gebäude instand halten würde. Der «Statesman» nahm dann einige Renovationen vor, doch diese richteten grosse Schäden an der Bausubstanz an - unter anderem fiel ihnen die Isobar samt Inneneinrichtung zum Opfer. Schliesslich überliess er das Haus 1972 mit stattlichem Aufpreis dem Camden City Council. Dieser wiederum verfügte nur über beschränkte Mittel. Die Lawn Road Flats, die nun als Sozialwohnungen vermietet wurden, verkamen immer mehr und wurden im Jahr 2000 unbewohnbar. Heute bleibt zu hoffen, dass es dem Trust gelingt, die leeren Betonkonstruktionen wieder mit Leben zu füllen.

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