Artikel

Berliner Einkaufszentrum: So etwas baut man nicht alle Tage
Spectrum

Wenn Ortner & Ortner in Berlin gestalten: ein denkmalgeschützter Komplex aus den 1950er-Jahren, eine glasüberdachte Straße, ein funktionell gestaltetes Parkdeck – und doch nur Kommerzarchitektur?

Es ist schon ein riesiger Architektur-Tatbestand, dieses Einkaufszentrum „Boulevard Berlin“. 76.000 Quadratmeter Nutzfläche baut man einfach nicht alle Tage. Das Büro Ortner & Ortner Baukunst – das sind Laurids und Manfred Ortner, die seinerzeitige Kerntruppe von Haus-Rucker-Co –, hat mit Großbaustellen allerdings einige Erfahrung, da muss man gar nicht an das Wiener Museumsquartier denken. Auch in Deutschland ist einiges entstanden – und nicht nur Kulturbauten wie die Sächsische Landesbibliothek (1996–2002), sondern ebenfalls Bauaufgaben, die in den Sektor „Kommerz“ fallen, das Forum Duisburg Shopping Center (2005–2008), mehrfach ausgezeichnet übrigens, oder das Berliner Alexa (2003–2007), das allen Unkenrufen zum Trotz – Gänge zu breit, Geschäfte zu wenig tief, man sieht schon von außen alles, man braucht gar nicht hineinzugehen – ein richtiger Publikumshit geworden ist.

Und jetzt also Boulevard Berlin. Ein holländischer Investor – offenbar schon eine Art Stammkunde von O&O – hat das gesamte Areal gekauft, auch den denkmalgeschützten Wertheim-Komplex aus den späten Fünfzigerjahren, erstaunlicherweise aber auch eine Straße, die Treitschke Straße, die jetzt als gut hundert Meter lange, glasüberdachte Passage – natürlich nur Fußgängern – zur Verfügung steht. Sie ist integraler Bestandteil des Einkaufszentrums, aber auch außerhalb der Öffnungszeiten zugänglich, ein gewohnter Weg für die Anrainer und die kürzeste Verbindung von der Schloßstraße zu einem kleinen Park, der unter den Bauarbeiten natürlich gelitten hat, aber durchaus liebevoll wieder aufgepflanzt wurde.

Wir sind in Berlin-Steglitz und an einem Ort, der Schlossstraße, wo es durchaus um die Konkurrenz zu den großen, berühmten Einkaufsstraßen Berlins geht, die Konkurrenz zur Friedrichstraße, zum Kurfürstendamm. Städtebaulich hat man es hier mit sehr, sehr großen und tiefen Gebäudeblöcken zu tun. Und jeder, der in den Fünfziger-, Sechziger-, Siebzigerjahren hier gebaut hat – man denke nur an den „Titania“-Filmpalast –, setzte sich auf diese „Footprints“ einfach drauf. Berlin hat tatsächlich einen so völlig anderen städtebaulichen Maßstab als Wien, es ist immer wieder überraschend.

Die Ortners, seit vielen Jahren dort ansässig und neuerdings auch Betreiber eines eigenen kleinen Ausstellungsraums, des sogenannten Depots, das einen Besuch durchaus lohnt, die Ortners haben etwas sehr Intelligentes gemacht: Sie haben die gewaltigen Volumina, die sie da zu bauen hatten, sozusagen durchgeschnitten. Sie haben Bauabschnitte konzipiert, die jeweils einen eigenen Charakter, ihre eigene Identität haben. Es reihen sich also formal differenzierte Bauten aneinander. Das ist für ein so großes Bauvorhaben sehr wichtig, denn die Einöde, die aus der Uniformität einer großflächigen, undifferenzierten Architektursprache entstehen kann, die darf man keinesfalls unterschätzen.

Es geht um vier Geschoße, deren Haupterschließung die erwähnte Glaspassage – 15 Meter breit, 15 Meter hoch, 100 Meter lang – darstellt. Besonders reizvoll erscheint mir daran, dass die Autos zum Parken über verglaste Brückenverbindungen hinauf auf die beiden Parkdecks auf dem Dach fahren müssen, was man von unten, von der Glaspassage aus, natürlich sieht. Das ist ein sehr netter und auch sinnvoller Gag, denn es ist ganz gewiss ein Fehler, wenn Architekten den Weg zum Parken und die Parksituation insgesamt nicht ernst nehmen. Dort spielt sich doch alles ab, vom Ausladen der Kleinkinder bis zum Einladen der Einkäufe. Wieso wird das eigentlich immer so geringgeschätzt?

Überhaupt: Sind Einkaufszentren die Kulturpaläste unserer Zeit? Jedenfalls sind sie Orte, an denen sehr viele Menschen zusammenkommen, und sie geben Geld aus. Und dem muss die Architektur Rechnung tragen. Am Boulevard Berlin tut sie das mit einem erstaunlichen Angebot an großen und kleineren nutzungsneutralen Bereichen, wo man sich einfach einmal hinsetzen und entspannen kann, wo sich eventuell auch etwas konsumieren lässt. Sie tut es mit einer Abfolge von sehr verschieden gelösten Innenräumen, von sehr niedrig bis zu ganz hoch – die höchste Stütze, in Sichtbeton, misst immerhin 18 Meter und hat, wie ich mir sagen ließ, so viel gekostet wie ein ganzes Einfamilienhaus. Sie tut es aber auch mit Fassadenlösungen, die definitiv vermitteln, dass man von einem Abschnitt in den anderen tritt, dass man womöglich einen Wechsel in der konsumierbaren Weltanschauung vollzieht. Sicher bleibt einem dabei etwas nicht erspart, die Einsicht nämlich, dass das alles eine Art von Betrug ist. Ob Muschelkalk oder Jura-Marmor, ob Putz oder getöntes oder helles Glas, ob noch so viel Holz – nein, diese Wunder vermögen Architekten nicht zu vollbringen, dass die Kernfrage, das Einkaufszentrum an sich, diese fokussierte, dabei sinnentleerte Konsumhölle, irgendwie verdaulicher würde.

O&O haben wirklich alles durchgespielt, was es an architektonischen Möglichkeiten bei einer solchen Bauaufgabe überhaupt gibt – vom Terrassenhaus bis zum pyramidalen Innenraum, vom feinen Bezug zum Außenraum/Park bis zur großstädtischen Blockfassade. Die Herrschaften wissen genau, worum es geht, und sie spielen auf der Klaviatur ihres Handwerkszeugs unheimlich gekonnt.

Mehr ist eigentlich nicht zu sagen, wäre da nicht diese Vergangenheit von Haus-Rucker-Co. Wo ist sie geblieben? Wo? Wo? Wo? Mein Gott, was haben wir doch alle gelächelt über die Anstrengungen der Coop Himmelb(l)au, die den Haus-Ruckern damals nicht einmal das Wasser reichen konnte. Und wo sind wir jetzt? Die Coop Himmelb(l)au hat sich durchgebissen bis zum Kultstatus, was allerdings nicht wirklich eine Aussage über die Qualität ihrer Architektur darstellt, vielleicht eher eine über den Grad des gespannten Interesses daran. Auch das wäre aber schon etwas, finde ich. Dagegen die altgedienten Haus-Rucker? O&O? Man kann sich natürlich vornehmen, man steigt jetzt ins kommerzielle Architekturgeschäft ein und macht das, und zwar gut. Man ist gescheit genug, um genau zu wissen, wo es langgeht. Aber hat das funktioniert? Ich bezweifle es ernsthaft. So komisch es klingen mag, wenn man Kommerzarchitektur baut, dann kommt immer nur Kommerzarchitektur dabei heraus. Und da kann man auch O&O heißen. Es macht keinen Unterschied.

Übrigens, das Depot: Dieser kleine Ausstellungsraum von O&O, da muss man hin. Es schnürt einem förmlich das Herz ab, wenn man diese Arbeiten sieht. Auch wenn es neuere sind. Da sieht man einfach, was sie wirklich können. Und es hat ja nie jemand daran gezweifelt, dass sie zu den Besonderen gehören.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: