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Himmel über Kiew ... und dann?
Der Standard

Nur eine spektakuläre Kulisse fürs Fernsehen - oder doch ein bleibender Wert für die Stadt? Das Kiewer Nationalstadion von gmp Architekten.

9. Juni 2012 - Christian Schittich
Wenn am 1. Juli das Endspiel der Fußball-EM aus dem Kiewer Olympiastadion von annähernd 90 Fernsehkameras in alle Welt übertragen wird, kommt dabei noch das letzte Fleckchen Rasen ins Bild. Ab und zu werden auch die Zuschauerränge mit der jubelnden Menge zu sehen sein, die dem Spektakel erst die richtige Atmosphäre verleihen. Nur eine etwas längere Totale der Arena selbst, die diese als architektonisch gestalteten Raum erfahrbar machen könnte, wird es wohl kaum geben.

„Ein langer, ausgedehnter Kameraschwenk auf das Bauwerk vor oder nach dem Spiel wäre verlorene Werbezeit“, resümiert Volkwin Marg, planender Architekt, mit einiger Nüchternheit. „In unserer Zeit der totalen Kommerzialisierung des Sports dienen Stadien vor allem als Kulisse fürs Fernsehen. Der eigentliche Adressat ist der Zuschauer daheim auf dem Sofa.“

Kaum zu glauben, dass es sich beim mittlerweile 76-jährigen Urheber dieser Worte um den derzeit wohl erfolgreichsten Stadionarchitekten der Welt handelt. Noch mehr überrascht es zu hören, dass sich Marg selbst nicht wirklich für Fußball interessiert. Schließlich hat er mit einem eingespielten Team, zu dem auch die Stuttgarter Tragwerksingenieure Schlaich Bergermann und Partner gehören, in wenigen Jahren mehr als 20 große Fußballarenen realisiert, die über den gesamten Globus verstreut sind.

Zusammen mit seinem Partner Meinhard von Gerkan leitet Volkwin Marg das Hamburger Büro gmp Architekten. Deren Spezialität sind Großprojekte - vom Flughafen bis zum Opernhaus. Seit dem Umbau des Berliner Olympiastadions für die WM 2006 sind gmp weltweit auch als Stadionbauer gefragt.

Seither wird beinahe jede Europa- oder Weltmeisterschaft nicht zuletzt zu einem architektonischen Schaulaufen ihres Büros: Mit drei Arenen waren sie bei der WM 2010 in Südafrika vertreten, aktuell für die EM in Polen und der Ukraine sind es die Wettkampfstätten in Warschau und Kiew, und zur Weltmeisterschaft 2014 werden Brasília und Manaus folgen. Das ist bereits fix.

„Zum einen fasziniert mich die strukturelle Logik so großer Tragwerke, zum anderen sind es aber auch die ästhetischen Möglichkeiten, die sich aus den konstruktiven Bedingungen herleiten lassen“, erläutert Marg seine Vorliebe für Stadien. „Trotzdem gleicht keine Arena der anderen. Unter Berücksichtigung von Ort und spezifischen Anforderungen entsteht jedes Mal ein Gebäude mit einem eigenen, unverwechselbaren Gesicht.“

Fundament mit Geschichte

Eine deutlich ablesbare Struktur prägt auch das neue Nationalstadion im Zentrum Kiews. Das Areal ist geschichtsträchtig. Ein Vorläuferbau der immer wieder veränderten und erweiterten Sportstätte reicht als „Rotes Stadion Leo Trotzki“ bis ins Jahr 1923 zurück. Seit 1980 darf sich die Anlage mit dem Prädikat „Olympiastadion“ schmücken. Damals diente die Arena als einer von insgesamt vier Austragungsorten während des Fußballturniers im Rahmen der Sommerspiele in Moskau.

Von diesem Vorgängerbau übernahmen gmp im Wesentlichen die Oberrangtribüne, eine ebenso filigrane wie kühn auskragende Spannbeton-Konstruktion aus Sowjetzeiten. Daraufhin ordneten sie rundherum einen weißen Kranz aus 80 geknickten Stahlstützen an. Und schließlich spannten sie innerhalb dieses Pylonringes ein abgehängtes Membrandach.

Durch die unterschiedliche Neigung der riesigen Stützen gelang es den Architekten, die ursprüngliche Grundrissform eines Leichtathletikstadions mit geraden Längsseiten in eine ellipsenförmige Dachöffnung zu überführen. Un-ter der charakteristischen Dachhaut fühlt sich der Besucher nun wie unter einem Himmel voller Sterne - ein hübscher Effekt, der aus den vielen sternförmigen Membranverstärkungen resultiert. Sie folgen den 640 von Luftstützen getragenen Oberlichtern.

„Der ornamentale Eindruck des Bauwerks“, darauf legt der Architekt besonderen Wert, „ergibt sich allein aus den konstruktiven Bedingungen.“ Die gelb-blaue Camouflage-Färbung der Tribüne, die auf die Nationalfarben der Ukraine Bezug nimmt, folgt einer ganz anderen inneren Logik. Das Muster entstand sehr unprätentiös am Computer. Jeder Mitarbeiter, der wollte, durfte ein paar bunte Pixel setzen. Das hat zur Folge, dass das Stadion selbst bei leeren Rängen belebt wirkt.

Anekdote am Rande: Während der Bauzeit wuchs direkt neben der Arena ein zwölfgeschoßiger Schwarzbau heran, der dem weißen Riesen nun unverschämt nah auf die Pelle rückt. Welcher Investor und welche Nutzung dahinter steckt, war lange Zeit nicht bekannt. Heute befindet sich darin ein Hotel. Das Foyer dient als VIP-Eingang zur Wettkampfstätte.

In einem Land, das seit dem Zerfall der Sowjetunion im politischen Chaos versinkt, sind diese Geschichten nichts Ungewöhnliches. Umso erstaunlicher aber, dass man dem neuen Nationalstadion kaum ansieht, unter welch widrigen Umständen es entstanden ist.

Beauftragt noch während der Regierungszeit von Julia Timoschenko, gab es während der Projekt- und Bauzeit fünf unterschiedliche Ansprechpartner für die Architekten. Viele Zuständigkeiten blieben ungeklärt. Währenddessen mischten sich ungefragt immer wieder selbstherrliche Funktionäre in die Gestaltungsangelegenheiten ein. Hinzu kommen eine schlecht organisierte Bauwirtschaft und eine katastrophale Baustellensicherheit.

Unweigerlich stellt sich die Frage: Übernimmt sich der von seiner Schattenwirtschaft finanziell ausgeblutete ukrainische Staat nicht mit einem derart gewaltigen Prestigeprojekt?

Vergabe ohne Ausschreibung

Über die tatsächlichen Baukosten des Stadions wird immer wieder spekuliert. Volkwin Marg beziffert die Investition mit 422 Millionen Euro. Wie viel davon allerdings in dunklen Kanälen versickert ist, darüber kann auch er nur Vermutungen anstellen. Schließlich gehören die persönliche Bereicherung von Politikern und Funktionären in der postsowjetischen Ukraine zur Tagesordnung. Angeheizt wurde dieser Umstand von einem lokalen Gesetz, das während der Bauzeit beschlossen wurde: Um Bauzeit zu sparen, kann die Vergabe von Bauleistungen im Bedarfsfall auch ohne Ausschreibung erfolgen.

Was also bleibt der Stadt Kiew, wenn nach dem EM-Finale am 1. Juli die Lichter ausgehen? Dass es für den 68.000 Sitzplätze fassenden Veranstaltungsort noch immer kein schlüssiges Konzept für die Nachnutzung gibt, ist wenig überraschend.
[ Christian Schittich (55) ist Chefredakteur der Architekturfachzeitschrift „DETAIL“ in München. ]

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