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Der tonnenschwere Traum vom Sozialismus
Neue Zürcher Zeitung

Schauplatz Weissrussland

Minsk sucht städtebaulich den Anschluss an den Westen

3. Juli 2003 - Tomas Veser
Seit Jahrhunderten bei Kriegen regelmässig beschädigt, wurde das völlig zerstörte Minsk seit 1944 als sozialistische Idealstadt komplett neu angelegt. In keiner Metropole der ehemaligen Sowjetunion sind der Sieg über den Nationalsozialismus sowie «Väterchen Lenin» stärker im Stadtbild sichtbar als in der Hauptstadt Weissrusslands, die sich jetzt durch eine Reihe von Prestigeprojekten mehr westliches Flair verspricht.

Dass Grossbauprojekte von nationaler Bedeutung nicht etwa durch das Parlament, sondern vom Staatspräsidenten persönlich genehmigt werden, kann inzwischen keinen Weissrussen mehr verwundern. Im vorigen Jahr hatte Alexander Lukaschenko, der durch selbstherrliches Auftreten und seinen rüden Umgang mit der Opposition regelmässig Schlagzeilen macht, der Nation per Präsidialdekret den Bau einer Nationalbibliothek verordnet, im vergangenen Winter begannen die Arbeiten. Zentrumsnah an der Minsker U-Bahn- Station «Osten» vorgesehen, wird sich die 80 Millionen Dollar teure Bücherei durch ihre Gestaltung in Form eines riesigen Diamanten von den nüchternen Zweckbauten der Umgebung abheben. Dass Lukaschenko die Baukosten allen zehn Millionen Einwohnern des Landes aufbürdete, hat indessen Überraschung hervorgerufen, erinnerte diese Praxis doch an alte Gepflogenheiten der Sowjetzeit. Jeder Gehalts- und Rentenempfänger, so berichteten die staatlichen Medien, habe im März angeblich freiwillig auf einen Tagessatz verzichtet. Den Löwenanteil holte sich der Präsident freilich bei den wenigen weissrussischen Privatunternehmen, die Lukaschenkos Appellen zu «freiwilligen Spenden» besser zügig nachkommen, wenn sie staatliche Repressalien vermeiden wollen.

Sein Edelstein aus Beton gehört zu den Prestigeprojekten, die der 1,7 Millionen zählenden Hauptstadt endlich auch jenes westliche Flair verleihen sollen, das sich Moskau, Sankt Petersburg und Kiew schon lange zugelegt haben. Neben modernen Geschäftszentren und neuen Umfahrungsstrassen plant die Regierung den Bau des ersten weissrussischen Hypermarket in einem verwilderten Obstgarten nahe dem Mascherow-Prospekt. Ausserdem dürfen Bürger im Stadtgebiet künftig Neubauten für private Zwecke errichten. Bis im Jahr 2003 soll das hauptstädtische Areal von 26 000 Hektaren auf 40 800 Hektaren vergrössert werden.


Zukunftsmusik

Das ist jedoch alles noch Zukunftsmusik. Sieht man von der Umbenennung einiger Strassen, Plätze und staatlicher Institute ab, hat sich in den zwölf Jahren der Unabhängigkeit kaum etwas verändert. Auf die meisten westlichen Besucher wirkt Minsk wie eine Provinzhauptstadt aus der Sowjetzeit, obgleich sich hinter den spätstalinistischen Prunkfassaden eine lebhafte Kulturszene etabliert hat. Nicht selten stösst man auf Standbilder Lenins und des Geheimdienstgründers Felix Dserschinski, die in Russland und der Ukraine längst schon vom Sockel gestossen wurden.

Das Minsker Wahrzeichen thront seit 1952 neben dem Haus der Offiziere: Dort erinnert der erste Sowjetpanzer, der am 3. Juli 1944 nach dem Abzug der Wehrmacht in das fast vollständig zerstörte Minsk eingerückt war, an die Befreiung. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite erstreckt sich der über 3,7 Hektaren grosse Platz der Oktoberrevolution mit dem Museum des Grossen Vaterländischen Krieges und der beherrschenden Fassadeninschrift «Die Heldentat des Volkes lebt ewig». Wie ein fremdartiges Relikt aus der Breschnew-Zeit steht in der Mitte des ehemaligen Zentralplatzes der mit weissen Marmorplatten verkleidete «Palast der Republik». Nachts mit gelbblauem Neonlicht angestrahlt, wirkt das kaum benützte Baudenkmal, das die Minsker scherzhaft «Sarg der Republik» nennen, in der Tat wie ein bleiches Mausoleum.

Von allen sowjetischen Grossstädten hatte Minsk, das die Auszeichnung «Heldenstadt» erst mit 30-jähriger Verspätung zugesprochen bekam, den höchsten Blutzoll entrichten müssen; 70 Prozent der Wohnfläche waren zerstört, fast alle Produktionsstätten lagen in Schutt und Asche. Fast nichts mehr erinnerte an die einst grosse jüdische Gemeinde. Durch den massiven Zuzug russischer Bewohner änderte sich die Bevölkerungsstruktur in wenigen Jahren grundlegend. Schon im Herbst 1944 begann eine Moskauer Architektenkommission, auf den abgeräumten Trümmerfeldern das neue Minsk zu entwerfen. Ihr Ziel war eine sozialistische Idealstadt, bei deren Planung sie freie Hand hatte. Um die Relikte des kapitalistischen Minsk brauchte sie sich nicht zu kümmern, selbst minimal beschädigte Vorkriegsgebäude wurden meist abgerissen.

Das Zentrum des neuen Minsk sollte Wohngebäuden und Behörden vorbehalten bleiben. Zur städtebaulichen Auflockerung legte man dort grosse Erholungsparks ein. Industriegebiete waren ausschliesslich an der Peripherie vorgesehen. Nach dem Vorbild der englischen Gartenstädte baute man für die Arbeiter und Angestellten des Automobil- und Traktorwerkes im Südosten von Grünflächen gesäumte Siedlungen mit zwei- bis dreistöckigen Zeilen für jeweils vier bis sechs Familien. Doch schon bald wurden die Finanzen knapp. Chruschtschew verordnete den Sowjetmenschen in den 1960er Jahren eine Kampagne zum Massenwohnungsbau: Schneller und billiger bauen lautet von da an die Losung. Auch in Minsk entstanden die «Chruschtschowki» genannten, fünfstöckigen Mietblocks aus vorgefertigten Elementen, die noch heute das Erscheinungsbild in den abschreckend monotonen Trabantensiedlungen bestimmen. Allen Bemühungen zum Trotz konnte der ständig steigende Bedarf an Wohnfläche nicht gedeckt werden. Noch zu Beginn der Perestroika-Periode 1985 warteten rund 130 000 Familien auf Wohnraum.


Kolossal und monumental

Mitten durch das ehemalige Zentrum legten die Planer eine breite Magistrale, die das gesamte Stadtgebiet durchzieht. Der ursprüngliche Stalinprospekt, später nach Lenin und vor wenigen Jahren nach dem weissrussischen Buchdrucker Frantzisk Skaryna benannt, verbindet sämtliche öffentlichen Plätze miteinander. Entlang dieses Prospektes entstanden nach dem monumentalen Siegerarchitekturstil des Spätstalinismus Behördengebäude, Bildungseinrichtungen und Geschäfte. Markante Hochhäuser nach Moskauer Vorbild hat man in Minsk nie gebaut.

Dafür waren die Plätze noch kolossaler als in der Hauptstadt des Sowjetreiches ausgefallen: Mit über 6,7 Hektaren ist der ehemalige Leninplatz, in den die Hauptmagistrale einmündet, grösser als der Rote Platz. Dort überstand das von Iosif Langbard in den 1930er Jahren aus weissem Beton erbaute Regierungsgebäude im Stil des Konstruktivismus den Feuersturm des Zweiten Weltkriegs. Daneben steht die katholische Kirche Sankt Simeon und Helena, die 1919 aus roten Backsteinen im Stil der Neugotik vollendet worden war. Seit 1968 dient die «Rote Kirche», die zunächst abgerissen werden sollte, als Kinomuseum. Gegenüber dem Regierungssitz und dem Lenin-Denkmal errichtete man die Weissrussische Staatliche Universität. Diente die riesige Freifläche bis zum Fall des Kommunismus als Endpunkt für staatlich organisierte Massenaufmärsche, diente sie anschliessend als innerstädtischer Parkplatz. Noch vor einigen Jahren hatte man dort sämtliche Trottoirflächen neu gepflastert und kurz darauf den Belag zur allgemeinen Verblüffung der Bewohner wieder herausgerissen.

Des Rätsels Lösung liegt in einem weiteren Grossprojekt, dessen erste Phase im vergangenen Winter abgeschlossen wurde. Unter dem Unabhängigkeitsplatz, wie die Fläche heute heisst, wird ein vierstöckiger Einkaufskomplex entstehen, darunter Parkflächen, Galerien, Konzerträume und eine Diskothek. Eine gigantische Glaskuppel soll diese städtebauliche Errungenschaft später krönen. Wie Alt-Minsk, das seiner geographischen Lage wegen seit Jahrhunderten regelmässig zerstört wurde, vor seiner völligen Auslöschung ausgesehen hat, lässt sich nur noch erahnen. Wohl ist die einstige Einteilung in Ober- und Untermarkt noch wahrnehmbar. Die meisten der ursprünglich 15 Kirchen und Klöster aus dem 17. Jahrhundert hat Stalin schon in den 1930er Jahren niederreissen oder als Gefängnisse und Lagerräume missbrauchen lassen. Während die verschonten Gotteshäuser seit Jahren mit grosser Sorgfalt restauriert werden, hat man das abgerissene Jesuitenkloster rekonstruiert.

Wo früher die Dreifaltigkeits-Vorstadt lag, ist mittlerweile ein architektonisches Museumsdorf mit nostalgischem Flair entstanden. Während der 1980er Jahre beteiligten sich vor allem Schüler und Studierende an «Subbotniks» - im Prinzip freiwilligen Arbeitseinsätzen an Samstagen - und bauten einige der historischen Häuser, die bei der Planung des modernen Minsk weichen mussten, mit viel Liebe zum Detail wieder auf. Einige Gebäude, die als Restaurants und Kunstgalerien benützt werden, standen früher in anderen Stadtteilen, wo man sie zerlegte und an der begrünten Uferzone des Flusses Swislotsch zusammensetzte. Den ganzen Uferbereich hat man inzwischen gründlich gereinigt. Auf einer künstlichen Insel im aufgestauten Fluss erhebt sich seit 1996 ein aussergewöhnliches Denkmal für die in Afghanistan gefallenen weissrussischen Soldaten. Stilisierte Mutterfiguren bilden auf der «Insel der Tränen» eine Art Kapelle, in deren Gestaltung sich sakrale Symbolik und die Formensprache des sozialistischen Realismus überlagern.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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