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Heile Welt, verwaist
Spectrum

Bezirk Murau: Wenn nicht nur Stühle leer stehen, sind auch die Architekten gefragt. Die „Regionale 2012“ gibt Impulse für die (Neu-)Planung und Wiederbelebung der Region.

14. Juli 2012 - Franziska Leeb
Die „Zukunft“ strahlt in weißen Lettern und in Hollywoodmanier vom Lärchberg hinunter in die obersteirische Bezirkshauptstadt Murau. Es handelt sich um eine Arbeit der Berliner Architektengruppe Raumlabor, die für das gegenwärtig im Bezirk stattfindende biennale Kunstfestival „Regionale“ erarbeitet wurde. Die Stärken und Ressourcen jener Region, die am heftigsten in ganz Österreich vom Bevölkerungsrückgang betroffen ist, sind Gegenstand etlicher Veranstaltungen. Seit 1971 schrumpften die Einwohnerzahlen um 9,2 Prozent, und der Trend soll sich verschärfen: Bis 2050 ist ein weiterer Rückgang von 19,7 Prozent prognostiziert. Die Zahlen veranschaulichen, was auf den ersten Blick nicht sichtbar ist. Eine gepflegte Landschaft und schmucke Orte vermitteln dem Urlauber eine heile Welt. Vereinzelt avantgardistische Architekturen wie das Gebäude der Murauer Bezirkshauptmannschaft von Wolfgang Tschapeller oder eine spektakulär über der Mur auskragende Café-Bar des jungen Architektenteams Steinbacher-Thierrichter zeugen durchaus von lokalem Selbstbewusstsein und Fortschrittlichkeit. Der Wintertourismus boomt, und eine innovative Holzindustrie demonstriert ihre Fähigkeiten anhand zahlreicher kommunaler wie privater Bauten und wirbt damit unter der Marke „Steirische Holzstraße“. Lokales Potenzial ist also vorhanden. Dennoch wandern mangels ausreichender Arbeitsplätze und Aufstiegschancen die besser ausgebildeten Jungen ab – nach Graz, nach Wien oder anderswohin.

Erst auf den zweiten Blick erfasst man die Folgen ihrer Absenz: In der nach der einstigen Herrin von Murau, der verdienstvollen, reichen und schönen Anna Neumann, benannten Einkaufsstraße steht die Mehrzahl der Geschäfte leer. Vereine und aktuell die Protagonisten der Regionale sorgen dafür, dass die Auslagen nicht ganz verwaist sind. Den öffentlichen Personennahverkehr frequentieren – sofern nicht gerade Regionale-Besucher und Radtouristen Hochsaison haben – im Wesentlichen Schulkinder und Pensionisten. Kino gibt es im ganzen Bezirk keines mehr. Jenes in Scheifling wurde aufgelassen, nachdem im 30 Kilometer entfernten Fohnsdorf ein Multiplex-Kino das Interesse der Landjugend abgezogen hat. Die roten Kinosessel sind derzeit Bestandteil der Installation „Neubesetzung“. Die steirische Architektin Alexandra Stingl hat für jeden Einwohnerverlust der letzten fünf Jahre einen Sessel gesammelt und stellt an verschiedenen Orten im öffentlichen Raum das Ausmaß des Abgangs eindrücklich dar.

Das Projekt ist Teil des vom „Haus der Architektur Graz“ für die Regionale konzipierten Programmschwerpunktes „Faktum ist – Murauer Bestandsaufnahmen“, das dem Phänomen der Abwanderung mit mehreren Formaten auf die Spur zu kommen versucht. Ausstellungen in Graz und Murau präsentieren anhand umfangreichen statistischen Materials die Wahrheit der Statistik. Martina Frühwirth, Tex Rubinowitz und Kurt Zweifel berichten in Bild, Text und Ton von ihren persönlichen 24 Stunden in Murau. So lange bereisten sie die Gemeinden im Bezirk unter ausschließlicher Verwendung öffentlicher Verkehrsmittel, was sich als veritable Herausforderung erwies.

Das steirische Architekturhaus nimmt sich damit einer Materie an, die bislang in den Architekturinstitutionen wenig thematisiert wurde. Nun, da zeitgenössische Bauten – in unterschiedlicher Dichte längst auch auf dem Land angekommen sind und sie nicht mehr von Fremdenverkehrsvereinen als Touristenschreck qualifiziert werden, scheint ausreichend Luft vorhanden zu sein, sich verstärkt auch Fragen der in Österreich seit Jahrzehnten vernachlässigten Raum- und Regionalplanung anzunehmen. Raumplaner machen seit vielen Jahren auf die Folgen des demografischen Wandels aufmerksam und warnen vor verödeten Innenstädten und Ortskernen, steigendem Individualverkehr, ausgedünnten öffentlichen Verkehrsnetzen sowie der stetig fortschreitenden Zersiedelung und entwerfen Strategien, die entgegenwirken. Da diese aber mit der Mentalität der Konsumgesellschaft selten vereinbar sind, werden sie von einer Politik, die sich eher ihrer Klientel als dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt, nicht mit dem notwendigen Verantwortungsbewusstsein durchgesetzt. Richtig verstandene Regionalplanung ist Gemeinwohlvorsorge, lautete ein Appell im Zuge einer der Diskussionsveranstaltungen im Rahmen von „Faktum ist . . .“. So würden nur 36 Prozent der Mehrkosten, die ein frei stehendes Einfamilienhaus gegenüber einer verdichteten Bebauung verursacht, von den Bauwerbern selbst bezahlt, für den Rest komme die Allgemeinheit auf. Ein Kompetenzwirrwarr bringe mit sich, dass niemand die wahren Kosten der aktuellen Entwicklungen kenne oder benenne. So steigt in Architektenkreisen das Bewusstsein dafür, dass für eine Trendwende ein interdisziplinärer Schulterschluss der planenden Disziplinen Not tut.

Das Kunst- und Diskursprogramm der heurigen Regionale zeigt vortrefflich die mannigfachen Herausforderungen und Potenziale im ländlichen Raum – auch für die Architektur – auf. Ob das Festival Spuren hinterlassen wird? Ulrike Böker, Bürgermeisterin von Ottensheim und davor jahrelang Geschäftsführerin des oberösterreichischen Pendants zur Regionale, dem Festival der Regionen, ist überzeugt, dass die Kunst nachhaltig wirken und ein Katalysator für das Denken und Handeln in den jeweiligen Regionen sein kann. Als konkretes Beispiel führt sie das Linzer „Pixel Hotel“ an, ein dezentrales Hotel, das im Kulturhauptstadtjahr 2009 als Architekturprojekt ungenutzte Orte in der Stadt besetzte und nach wie vor in Betrieb ist, oder das in ihrer eigenen Gemeinde am Donauufer gelandete Parkhotel des Künstlers Andreas Strauss, ein „Gastfreundschaftsgerät“ aus Betonröhren, das, funktionell ausgestattet als Unterkunft, als sichere Gepäckverwahrung und Ladestation für elektronische Geräte dient. Alle darüber hinaus gehenden Hotelleistungen werden von vorhandenen Einrichtungen im öffentlichen Raum abgedeckt.

In Murau geht die Anzahl der privaten Zimmervermieter zurück. Viele konnten wohl den steigenden Ansprüchen der Urlauber nicht mehr entsprechen und sich die notwendigen Investitionen nicht leisten. Andererseits stehen viele Häuser und Wohnungen leer und böten durchaus ein Raumreservoir für neue, ressourcenschonende Beherbergungskonzepte als Alternative zu flächenfressenden Ferienparks. Hier ist nicht nur die Kreativität der Touristiker, Politiker und Förderstellen gefragt. Es tut sich auch ein weites Betätigungsfeld für Architekten auf. Alternative, gestalterisch attraktive Angebote werden wahrscheinlich auch neue Zielgruppen anlocken und vielleicht Auswanderer zur Rückkehr bewegen – nicht nur temporär als Erholungssuchende.

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