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Kunstvolle Brückenschläge
Neue Zürcher Zeitung

Ausstellung Schweizer Bauingenieure in Princeton

Die schweizerische Ingenieurbaukunst ist international bekannt für technische und künstlerische Qualität. Einen Überblick von ihren theoretischen Anfängen an der ETH unter Culmann und Ritter bis hin zu Christian Menns raffinierten Brückenbauten gibt nun eine kleine, von einem neuen Standardwerk begleitete Ausstellung in Princeton.

6. Juni 2003 - Roman Hollenstein
Amerika ist ein Land der Brücken. Sie verbinden die Ufer der fjordartigen Buchten an der Ost- und Westküste, aber auch der riesigen Ströme des Mittelwestens. Bald staunt man über altehrwürdige Meisterwerke der Ingenieurkunst, dann wieder entsetzt man sich darüber, wie heutige Zweckbauten schöne Landschaften verschandeln. Im späten 19. Jahrhundert, einer der glorreichsten Zeiten des Ingenieurwesens, war das noch anders. Damals sahen die Amerikaner in den Brücken Symbole einer zweiten, technischen Eroberung ihres weiten Landes und in Brückenbauern wie John Roebling, dem Schöpfer der Brooklyn Bridge, oder Gustav Lindenthal, der von einer gigantischen Brücke über den Hudson River träumte, moderne Helden.

Anlässlich der Weltausstellung von 1893 in Chicago bereiste der Baustatiker Karl Wilhelm Ritter (1847-1906) die USA, um den Geheimnissen der amerikanischen Brückenbauten auf die Spur zu kommen. Sein neues Wissen brachte er in Form von Skizzen, Notizen und der 1894 erschienenen Publikation «Der Brückenbau in den Vereinigten Staaten Amerikas» an die noch junge ETH zurück, wo es von seinen Schülern - allen voran von Othmar Ammann (1879-1965) aus Schaffhausen und dem Berner Robert Maillart (1872-1940) - begierig aufgenommen wurde. Dieser sollte der Welt bald schon mit seinen Schweizer Brückenschlägen zeigen, zu welch technischer Schönheit sich Beton - etwa in der formvollendeten Salginatobelbrücke - zwingen liess. Ammann hingegen wanderte 1904 nach New York aus, wo er von Lindenthal in die neusten Praktiken des Baus grosser, stählerner Hänge- und Fachwerkbrücken eingeweiht wurde. Als oberster Brückeningenieur der New Yorker Port Authority und später in eigener Regie schuf er als Neuerer (ähnlich wie der Genfer William Lescaze im Hochhausbau) seit 1925 so innovative Werke wie die ideal proportionierte George Washington Bridge (1931) und die Verrazano Narrows Bridge (1964), deren stark vereinfachte Pylonen uns heute wie Riesenobjekte der Minimal Art erscheinen, war aber auch beratend am Bau der formal konservativeren, ihrer Lage wegen jedoch unvergleichlichen Golden Gate Bridge beteiligt.

Jahrzehnte nach Ammanns statisch und künstlerisch gleichermassen überzeugenden Arbeiten konnte unlängst in Boston erneut eine gewagte Brückenkonstruktion helvetischer Provenienz, die Bunker Hill Bridge des heute 76-jährigen Bündners Christian Menn, eingeweiht werden. Menn, der hierzulande mit den monumentalen Autobahnrampen bei Giornico und in der Mesolcina sowie der Sunnibergbrücke im Prättigau berühmt geworden ist, hat zur Überbrückung des Inner Harbor zwischen Bostons Nord End und Charlestowne eine Doppellyra geschaffen, deren «Saiten» - von zwei auf gespreizten Beinen stehenden Obelisken ausgehend - diagonal mit der Fahrbahnfläche verbunden sind. Dieser konstruktive Wurf war nun dem Princeton University Art Museum Anlass, den Schweizer Bauingenieuren eine kleine, vom Maillart-Spezialisten David P. Billington zusammengestellte Schau zu widmen. Der in Princeton lehrende Billington, einer der besten Kenner des Schweizer Brückenbaus überhaupt, skizziert dabei anhand von fünf wichtigen Persönlichkeiten gleichsam einen «Stammbaum» der Schweizer Bauingenieure.

Den Auftakt zu der vorwiegend mit Photographien, Modellen und einigen Originaldokumenten bestückten Schau machen die Studien Ritters, der neben Carl Culmann als «Vater» der ETH-Baustatik gilt. Ihm folgten Maillart und Ammann sowie, eine Generation später, Pierre Lardy, der - ähnlich wie zuvor Ritter - als Mittler an der ETH sein Wissen an die Generation von Menn und Isler weitergab. Zwar wird mit dem 1926 geborenen Zürcher Heinz Isler, der keine Brücken, sondern gewagte Schalenkonstruktionen in der Tradition von Maillart, Eduardo Torroja und Felix Candela erfand, die Einheit der Ausstellung etwas gestört. Doch ergibt dieser Bruch nicht nur aus «genealogischen» Gründen Sinn, sondern auch deswegen, weil mit Islers dünnen Gewölbeschalen ein weiteres wichtiges Gebiet der Schweizer Baustatik zum Zuge kommt

Diese Schalentechnik wirkte dann ebenso wie der Brückenbau im Werk des 1951 bei Valencia geborenen und an der ETH ausgebildeten Wahlzürchers Santiago Calatrava weiter. Dass Billington den in Ingenieur- und Architektenkreisen umstrittenen Baukünstler ebenso wenig in die Ausstellung einbezog wie den 57-jährigen Bündner Jürg Conzett, kann man als verpasste Chance bezeichnen. Gleichwohl verdient sein Überblick viel Lob, bringt er doch nicht nur den Amerikanern wichtige Kapitel des Ingenieurwesens näher - zumal die knapp gehaltene Ausstellung von einem hervorragenden, reich bebilderten biographisch- analytischen Katalog begleitet wird, der schon jetzt als Standardwerk gelten darf. Er zeigt, dass die Werke grosser Bauingenieure, deren innovative Kraft früh schon von Vordenkern wie Le Corbusier erkannt wurde, bis heute vom gleichen kreativen Anspruch erfüllt sind wie jene der Architekten.


[Bis 15. Juni im Princeton University Art Museum. Katalog: The Art of Structural Design. A Swiss Legacy. Hrsg. David P. Billington. The Princeton University Art Museum, Princeton (New Jersey) 2003. 211 S., $ 50.- (ISBN 0-300-09786-7).]

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