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Um es gleich vorwegzunehmen: Es ist kein alltägliches Thema, das TEC21 in dieser Ausgabe aufgreift. Es ist komplex und technisch – und die Lektüre deshalb für manche harte Kost. Allerdings lohnt sie sich, denn das Heft erschliesst ein interessantes tech­nisches Spezialgebiet der Ingenieurbaukunst. So manches wenig Offensichtliche und Komplexe ist anschaulich und zugänglich beschrieben.

Glockengeläut in Kirchtürmen: Die in der Regel schlanken und hohen Bauwerke – als vertikale Kragarme im Boden eingespannt – sind schwingungsanfällig. Und ausgerechnet in ihrer Spitze hängen regelrechte Schwingungsanreger: Glocken belasten die Kirchturmkonstruktion also nicht nur statisch. Sobald sie schwingen, entstehen Kräfte, die sich laufend verändern und die Konstruktion zusätzlich dynamisch beanspruchen. Die Erschütterungen und Schwingungen können dem Tragwerk zu­setzen. Denn der Anprall eines Klöppelballens auf die Glockenwandung kommt dem Schlag eines Hammers auf einen Amboss gleich, und die Bewegungen der Kirchturmspitze können beängstigend sein oder gar ein zerstörerisch grosses Ausmass annehmen («Glocken schaukeln den Turm auf»).

Die Ursachen dieser Überbeanspruchung der Konstruktion lassen sich beheben. ­Allerdings ist es nicht so eindeutig, wie Ingenieure dabei vorgehen sollen («Glockentöne aufeinander abstimmen»). Zu sehr sind die einzelnen Elemente der Glocken­anlage voneinander abhängig und beeinflussen oder stören sich sogar gegenseitig. Deshalb muss jeder Turm mit seinem Geläut einzeln betrachtet werden («Viel Be­wegung im Spiel»). Zudem verursacht jede konstruktive Änderung auch eine Veränderung des Glockenklangs.

Intervalle der einzelnen Schlagtöne sind dann beispiels­weise nicht mehr auf liturgische Elemente abgestimmt, oder die Lebendigkeit des Klangs, seine weichere Entfaltung und das längere Abklingen verändern sich in harte Anschläge, Knallgeräusche, Seelen- und Charakterlosigkeit, Obertönigkeit oder Kurzatmigkeit. Auch wenn die Musikalität der Glocke ein Stück weit Geschmackssache ist, missfallen solche Veränderungen im Allgemeinen.[1]

Um das für manche anspruchsvolle Thema der vorliegenden Ausgabe zu verstehen, ist eines wichtig: Bei einem Glockenschlag sollte man nicht nur hinhören, sondern sich die Schwingungen und die dabei entstehenden Bewegungen vorstellen. An den kommenden Festtagen bietet sich bestimmt die eine oder andere Gelegenheit dazu.

Clementine van Rooden


Anmerkung:
[01] Matthias Walter: «Zu neuen Klöppeln in Fribourg und Bern» in: Jahrbuch für Glockenkunde, 23.–24. Band, 2011/2012, S. 431–450.

05 WETTBEWERBE
Krematorium Hörnli in Basel

12 MAGAZIN
«Reale Lasten gewichten» | «Energieverbrauch berücksichtigen» | Bücher | Verkehrsprojekte – kürzlich eröffnet | Eine Reise zur Basler IBA-Landschaft

22 GLOCKENTÖNE AUFEINANDER ABSTIMMEN
René Spielmann
Schwingende Glocken beanspruchen den Glockenturm und können ihn beschädigen. Die einzelnen Einflüsse auseinanderzudividieren ist schwierig, denn sie sind komplex voneinander abhängig.

27 GLOCKEN SCHAUKELN DEN TURM AUF
Armin Ziegler
Das Läuten der Glocken ­verursacht in einigen Kirchtürmen gefähr­liche Resonanzen. Das zugrunde liegende Problem lässt sich anschaulich aufzeigen.

31 VIEL BEWEGUNG IM SPIEL
Roland Bärtschi, Roland Wolfseher und Pascal Fleischer
Der Kirchturm St. Konrad in Zürich wies Schäden auf. Die Ingenieure setzten ihn instand und analysierten die statischen und dynamischen Beanspruchungen.

37 SIA
Sitzung der Energiekommission 4/2012 | Wohlstand durch Mässigung? | Vernehm­lassungsstart: LHO und LM | ZN-Sitzung 1/2012 | Kennzahlenerhebung 2012 liegt vor

44 PRODUKTE | FIRMEN
Cersaie 2012 | Lista Office LO | dine & Shine | Merker

53 IMPRESSUM

54 VERANSTALTUNGEN

Artikel

14. December 2012 René Spielmann
TEC21

Glockentöne aufeinander abstimmen

Die physikalischen Zusammenhänge zwischen dem Glockengeläut und den entsprechenden Auswirkungen auf den Glockenturm oder die Nebengebäude sind nicht immer offensichtlich. Bereits ein kurzer Blick auf die Konstruktion von Glockenstühlen, insbesondere auf die statischen und dynamischen Problemstellungen, die es bei manchen Glockentürmen zu beheben gilt, zeigt, wie komplex das Zusammenspiel von schwingenden Glocken, tragendem Glockenstuhl und ausgewogenem Klang ist.

Kirchtürme sind einerseits Kulturobjekte und Orientierungspunkte in unseren Städten und Dörfern, andererseits auch Musikinstrumente. Ihr eigentlicher Zweck ist es, die Glocken zu beherbergen. Mit ihrer Höhe schaffen sie Distanz zwischen dem Geläut und der Zuhörerschaft und vergrössern den Raumwinkel. Sie bilden den notwendigen Resonanzraum, insbesondere dann, wenn sie einen geschlossenen Raum fassen. Technisch gesehen sollen Glockentürme ein sicheres und langlebiges Fundament der Glockenanlage sein. Als stabile Tragkonstruktionen sollen sie eine komplexe Maschinerie auf sichere und zuverlässige Art und Weise über Jahrhunderte unterbringen.

Die Glocken hängen am Joch und das Joch am Glockenstuhl

Glocken werden auf unterschiedliche Arten zum Läuten gebracht. In der Regel schwingen sie /– 90° und werden von einem Klöppel angeschlagen. Viele Glocken haben zusätzlich einen Schlaghammer, der zur Turmuhr gehört und von aussen die Stunden schlägt. Die Glocken hängen über Beschläge oder Bolzen verbunden an Balken. Diese Joche (Abb. 01) bestanden bis Mitte des 19. Jahrhunderts aus Eichen-, seltener auch aus Lärchenholz.

Ab 1880 bis ca. 1930 setzte man Gusseisenjoche ein, ab den 1930er-Jahren bis heute sind die Joche als Stahlprofilkonstruktionen ausgeführt. Grundsätzlich verwenden Konstrukteure heute sowohl Holz- als auch Stahlkonstruktionen. Die Joche liegen auf traditionell aufwendig konstruierten Traggestellen – sogenannten Glockenstühlen –, die die Kräfte weiterleiten. Die Lastabtragung soll dabei möglichst direkt in den Baugrund erfolgen, ohne unliebsame Schwingungen an das Gebäude weiterzuleiten. Die Glockenstühle wurden vom Mittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ausschliesslich aus Holz gebaut. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts werden sie auch aus Stahlprofilträgern gefertigt, besonders für grosse Geläute. Ab den 1950er-Jahren entwickelte sich der «moderne» Kirchturm im Campanile-Stil: Die meist offenen Glockentürme integrieren die Glockenauflager inklusive Schwingungsisolationen im Betonsockel und verzichten auf einen Glockenstuhl.

Dynamische und statische Belastung des Glockenturms

Die Glocken geben mit ihren periodischen Bewegungen Kräfte auf die Glockenstühle ab, die nicht selten auf den Glockenturm übertragen werden und dort Schwingungen und Vibrationen verursachen. Zu diesen dynamischen Belastungen des Turms kommt die statische Belastung durch das Gewicht der Glocke. Dabei stellt jedes Geläut einen speziellen Belastungsfall dar: Jeder Glockenstuhl hat seine besondere Konstruktion und jede Glocke ihr individuelles Profil aus Durchmesser, Gewicht und Form. Damit ändern sich ihr Massenträgheitsmoment und somit auch die daraus resultierenden Lagerkräfte.

Glockengeläut verursacht Klänge – aber auch Nebengeräusche

Der Glockenklang selbst entsteht durch den Anschlag des Klöppels auf den harten Glockenkörper. Glocke und Klöppel wirken dabei physikalisch als Doppelpendel. Der Klöppel übernimmt also die Schwingung der Glocken und gibt seinerseits wieder Schwingungsenergie in die Glockenbewegung. Beim Aufprall des Klöppels auf die Glocke beginnt diese mit ihrer Eigenfrequenz zu vibrieren, was den hörbaren Klang erzeugt. Ist die Glocke an einem hölzernen Joch befestigt, erlaubt das deformationsempfindliche Holz jegliche Bewegung bzw. Vibration mit nur wenig Dämpfung, weshalb die Glocke mit allen Oberschwingungen in vollem Klang tönt. Ein Stahl- oder Eisenjoch ist hingegen viel rigider, und die Glocke klingt zu hell und blechern – als wäre sie in einen Schraubstock gespannt. Die Dämpfung ist zu gross, und die Obertöne klingen rasch ab. Will man eine Glocke an einem Stahl- oder Eisenjoch zu vollem Klang bringen, der reich Obertönen ist, benötigt man an der Glockenstuhlbasis und an der Glockenaufhängungen Schwingungsisolationen aus Kautschuk. Erst dadurch kann die Glocke in allen Freiheitsgraden vibrieren.

Die Schwingungen, die den Glockenklang ergeben, sind nicht nur direkt hörbar, sie pflanzen sich auch über den Glockenstuhl fort und können beispielsweise am Fuss des Turms oder an benachbarten Gebäuden ungewünschte Nebengeräusche verursachen. Grundsätzlich stellen solche Nebengeräusche keine Gefahr für den Glockenturm dar, sie sind vielmehr ein bauphysikalisches Problem, das mit entsprechenden konstruktiven Details behoben werden kann. Wenn aber die Schwingungen in die Turmkonstruktion eingeleitet werden und die Frequenzen einer oder mehrerer Glocken zu nahe an der Gebäudeeigenfrequenz liegen, können im Einzelfall Resonanzprobleme auftreten (vgl. «Glocken schaukeln den Turm auf», S. 27). Sie können einen Turm in seiner Tragfähigkeit, Festigkeit und Widerstandsfähigkeit gefährden: Wenn die Schwingfrequenz der Glocken mit der Eigenfrequenz des Turms übereinstimmt, schaukelt sich der Turm auf. Diese zu grossen Bewegungen überstrapazieren die Turmkonstruktion.

Turmschwingungen reduzieren und Resonanz verhindern

Die Fragen, welche Schwingungen der Glocken zulässig und ab welcher Schwingstärke des Glockenturms Massnahmen erforderlich sind, stellen sich praktisch bei jeder Instandsetzung eines Glockenstuhls oder -turms. Für moderne Glockentürme aus Stahl oder Stahlbeton lassen sie sich einigermassen zuverlässig beantworten. Materialeigenschaften und Ermüdungsfestigkeit bestimmen die zulässigen Schwingungsamplituden. Bei Kirchen mit Natursteintürmen, bei denen die Materialfestigkeit kaum bekannt ist und überdies örtlich variiert, lässt sich hingegen keine gesicherte Aussage über die zulässigen Schwingungen herleiten. Eine gewisse Hilfestellung bietet hier die Norm DIN 4178 mit ihren Orientierungswerten der Schwinggeschwindigkeit bei Glockentürmen (vgl. Tabelle 03, S. 33). Gemäss DIN 4178 sind bei Einhaltung dieser Werte (gemessen im obersten Turmgeschoss) nach bisherigen Erfahrungen keine weiteren dynamischen Untersuchungen rechnerischer oder messtechnischer Art erforderlich. Dennoch gibt es kein allgemeingültiges Rezept für die Instandsetzung von schwingungsanfälligen Kirchtürmen, jeder Kirchturm ist ein Spezialfall (vgl. Tabelle rechts).

Elastische Lagerungen Dämpfen unliebsame Schwingungen

Häufig wird der Glockenstuhl als schwingungsmindernde Massnahme elastisch gelagert. Neben dem positiven Effekt, dass Schwingungsisolationen – vor allem in einem Glockenstuhl aus Stahl – die Klangqualität eines Glockengeläuts verbessern, reduzieren sie Erschütterungen, die der Klöppel auf Glocke und Konstruktion weiterleitet, und schützen somit zum Beispiel das Mauerwerk, auf dem der Glockenstuhl ruht. Elastische Lagerungen verringern auch wirksam die Körperschallübertragung des Klöppelanschlags auf die schwingende Glocke oder des Uhrhammeranschlags auf die ruhende Glocke und stellen die Hauptaufgabe der Glocken in den Vordergrund: das wohlklingende Läuten. Das Resonanzproblem ist damit aber grundsätzlich noch nicht gelöst.

Türme versteifen löst das Resonanzproblem

Übermässige Turmschwingungen bzw. Resonanz lassen sich durch Massnahmen an Bauwerk oder Glockenanlage korrigieren, doch leidet dabei oft und in einem erheblichen Mass die Qualität des Glockenklangs: Der Glockenklang kann träger werden und wirkt nicht mehr fröhlich, oder die Glocken sind nicht mehr ausgewogen aufeinander abgestimmt. Eine solche klangliche Veränderung ist nur in seltenen Fällen erwünscht. Eine Versteifung des Turms ist die einzige Massnahme, die den Glockenklang nicht beeinflusst. Allerdings sind hier aus architektonischen Gründen oft enge Grenzen gesetzt. In der Regel sind erhebliche Anpassungen in der Tragstruktur erforderlich, um die gewünschte Veränderung in der Eigenfrequenz des Turms zu erreichen. Diese Massnahmen sind deshalb meist unverhältnismässig.

Kleinere Schlagzahl reduziert Turmschwingung

Häufig verändert man die Schlagzahl (vgl. Kasten «Läutmaschine», S. 24) respektive die Frequenz der Glocken, um die Turmschwingungen zu reduzieren und ein Resonanzproblem zu entschärfen. Es handelt sich bei der Veränderung stets um eine Verringerung der Schlagzahl – beschleunigen lassen sich Glockenpendelbewegungen nicht, weil die Glockenform gegeben ist. Wegen des Zusammenspiels aller Glocken sind den Anpassungen auch hier relativ enge Grenzen gesetzt. Da jedoch Glockentürme generell eine geringe Dämpfung aufweisen, bewirken bereits geringe Veränderungen in der Schlagzahl erstaunlich grosse Veränderungen in den Schwingungsamplituden.

Um die Schlagzahl zielorientiert anpassen zu können, müssen die Frequenzen aller Glocken und die Eigenfrequenz des Turms bekannt sein. Es ist wichtig zu wissen, in welcher Anordnung die Frequenzen zueinander stehen. Liegt beispielsweise die Resonanzfrequenz bei der kleinsten Glocke – d. h., deckt sich die 3. Harmonische der kleinsten Glocke mit der Eigenfrequenz des Turms (vgl. «Glocken schaukeln den Turm auf», S. 27) –, muss nur bei ihr die Schlagzahl verkleinert werden. Um einen nach Norm vorgeschriebenen Frequenzabstand zu erhalten, wird es meist ausreichen, die Schlagzahl um 8 bis 10 % zu reduzieren. Die Eigenfrequenz des Turms kann aber auch zwischen den Glockenfrequenzen liegen. Glockenfrequenzen, die dann ausreichend über der Eigenfrequenz des Turms liegen, belässt man. Glocken, deren Frequenzen mit der des Turms zusammenfallen, müssen wiederum verlangsamt werden – nicht ohne Einfluss auf die Glocken, deren Frequenzen unterhalb der Turmeigenfrequenz liegen. Sie müssen in der Regel ebenfalls verlangsamt werden, denn sollen einzelne Glocken nicht plötzlich parallel schwingen, muss der Frequenzbereich unterhalb der Turmeigenfrequenz gesamthaft «aufrücken». Daraus folgt ein «Graben» mitten im Geläut – statt eines ausgewogenen Geläuts klingen die in der Schlagzahl veränderten Glocken nun viel langsamer und träger, während die belassenen noch gleich läuten. Die Klangfarbe des Geläuts verändert sich hörbar. Weist der Glockenturm schliesslich zwei Turmeigenfrequenzen auf, die in den Schwingfrequenzen der Glocken liegen, ist es noch weit anspruchsvoller, die geforderten Zielgrössen der Pendelfrequenzen genau anzufahren und gleichzeitig die klangliche Qualität zu bewahren.

All diese Frequenzverschiebungen bedingen eine Veränderung des Jochs. Da eine Glocke ein Pendel mit einer bestimmten Pendelfrequenz ist, ist es nicht – wie irrtümlicherweise oft angenommen – die Aufgabe des Glockenantriebs, die Frequenz der Glocke zu bestimmen. Es ist das Pendel selbst mit seiner Geometrie, das die Frequenz ergibt. Will man also die Frequenz verkleinern bzw. die Pendeldauer verlängern, muss man die Gewichtsproportionen der Glocke verändern. Dies geschieht, indem man dem Joch ein Gegengewicht aufbaut. Weil Glocken- zu Klöppelschwingungen aber nur in einem bestimmten Verhältnis funktionieren, muss das Klöppelsystem umgebaut werden. Erneut eine Auswirkung, die aufzeigt, wie komplex das Zusammenspiel aller Einzelteile des Glockenturm ist – jede Massnahme muss mit ihren Konsequenzen genau durchdacht werden, um nicht ein unerwartetes Nachspiel zu verursachen.


Literatur:
Glocken in Geschichte und Gegenwart, Bd. I und II, Hrsg. Beratungsausschuss für das Deutsche Glockenwesen. Karlsruhe 1986 und 1997.
Schwingungsprobleme in Glockentürmen, Diplomarbeit Lars Keim, FH Aargau, Departement Technik, 2002.
Schwingungsmessungen am Glockenturm der reformierten Kirche Zürich Altstetten, Ziegler Consultants. Zürich 2004 bis 2005.
Schwingungsmessung am Glockenturm deKirche Zürich Enge nach den Sanierungsarbeiten, Empa Dübendorf, Bericht Nr. 424 578, 2002.
Literaturdokumentation, Kirchtürme und Glockentürme, Fraunhofer Informationszentrum Raum und Bau. Stuttgart 2001.
SN 640 312 a Schweizer Norm über Erschütterungen.
Deutsche Norm – DIN 4178: Glockentürme. Berlin 2005.

14. December 2012 Armin Ziegler
TEC21

Glocken schaukeln den Turm auf

Glockentürme sollen möglichst hoch und schlank sein. Doch in den Turmspitzen – am schwächsten Punkt – hängen tonnenschwere Glocken, die während des Läutens in Schwingung versetzt werden. Über Jahrhunderte erfüllen Glockentürme ihren Dienst, ohne Schaden zu nehmen oder an Nachbargebäuden Schäden zu verursachen. Nur erstaunlich wenige dieser Glockentürme weisen beunruhigende Schwingungen auf. Bei ihrer Konstruktion ist etwas schief gelaufen. Die Lehre von der Dynamik der Tragwerke erlaubt zu verstehen, warum bestimmte Türme Sorgen bereiten und andere nicht.

Die Schwingungen der Glocken bringen einen Glockenturm zum Schaukeln. Die Turmspitze bewegt sich dabei – je nach Turmeigenfrequenz und Glockenschlagzahl – einige Zehntelmillimeter oder sogar mehrere Zentimeter hin und her. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Glockenschwingung einen Turm aufschaukeln und die Konstruktion sogar überstrapazieren – wenn nämlich die Turmeigenfrequenz dem Dreifachen der Glockenfrequenz entspricht. Durch die starken Bewegungen können Risse entstehen. Im schlimmsten Fall ist sogar die Tragsicherheit gefährdet. Um Gegenmassnahmen treffen zu können, die ein Resonanzverhalten verhindern (vgl. «Viel Bewegung im Spiel», S. 31), ist es notwendig, die grundlegende dynamische Problematik zu verstehen.

Dynamik der Glockenschwingung

Die Glocke lässt sich in erster Näherung als mathematisches Pendel begreifen. Die Glockenmasse m, die Pendellänge L und der Auslenkwinkel α bestimmen dabei primär die bei der Glockenschwingung auftretende Horizontalkraft. Ihr zeitlicher Verlauf ist komplex, da sich die Kraft aus Komponenten zusammensetzt, die vom Auslenkwinkel α bestimmt sind, und aus Komponenten, die von der Winkelbeschleunigung αʺ abhängen.[1] Im Gegensatz zu einer reinen Sinus-Anregung wird bei einer solchen Anregung nicht nur die Grundfrequenz, sondern auch die 3. Harmonische und ganz schwach die 5. Harmonische angeregt – d. h. die Frequenzen, die dem Dreifachen und dem Fünffachen der Glockenschwingfrequenz entsprechen. Anschaulich lässt sich das wie folgt erklären (Abb. 02): In einem Glockenturm mit einer Eigenfrequenz von 1.5 Hz läutet eine Glocke mit ebenfalls 1.5 Hz (180 Schläge pro Minute). Mit jeder Schwingung zieht die Glocke den Turm mit. Derart schnelle Geläute gibt es aber nicht, und ein Kirchturm würde diese Kräfte auch nicht aushalten. Läutet die Glocke mit der halben Turmeigenfrequenz, also mit 0.75 Hz (90 Schläge pro Minute), zieht sie bei der ersten Schwingung den Turm nach rechts und regt seine Eigenfrequenz von 1.5 Hz an. Schwingt die Glocke nach links, wird der Turm wieder gebremst. Die dynamische Wirkung wird quasi durch die Glocke selbst wieder ausgelöscht. Läutet die Glocke jedoch mit 0.5 Hz (60 Schläge pro Minute), regt sie den Turm bei jeder Schwingung an: Beim ersten Glockenschlag nach rechts wird der Turm nach rechts ausgelenkt, und beim nächsten Glockenschlag nach links wird er – nachdem er bereits eine volle Schwingung ohne grössere Anregung hinter sich hat – nach links ausgelenkt. Dies ist – fatalerweise – der Normalfall während eines Glockengeläuts und der Grund, warum die 3. Harmonische bei Glockenturmkonstruktionen von zentraler Bedeutung ist. Fällt die 3. Harmonische mit der Eigenfrequenz des Kirchturms zusammen, sind die Voraussetzungen für unliebsame Turmschwingungen geschaffen.

Schwingungsmessungen am Glockenturm

Die Kunst bei der dynamischen Auslegung eines neu zu errichtenden oder bei der Modifikation eines bestehenden Kirchturms besteht somit darin, die kritischen Frequenzbereiche zu erkennen und sie so gut wie möglich zu meiden (vgl. «Glockentöne aufeinander abstimmen», S. 22, und «Viel Bewegung im Spiel», S. 31). Erschwerend kommt hinzu, dass es sich in der Regel um Läutwerke mit vier, fünf oder noch mehr Glocken handelt – keine der Anregungsfrequenzen sollte im kritischen Bereich liegen. Schwingungsmessungen geben Aufschluss über diese Frequenzbereiche und helfen zu erklären, weshalb ein Turm so stark schwingt, dass Risse auftreten oder Besucher Angst bekommen. Sinnvollerweise werden auch vor dem Einbau einer zusätzlichen Glocke oder bei Änderungen am Glockenstuhl derartige Messungen durchgeführt. Der Umfang einer Schwingungsmessung orientiert sich an den Anforderungen des Glockenbauers und des Ingenieurs. In den meisten Fällen genügt eine Messung mit triaxialen und horizontalen Aufnehmern (Abb. 01 und Kasten oben).

Liegt ein dynamisches oder ein quasi-statisches Problem vor?

Wenn die Eigenfrequenz des Turms eindeutig ausserhalb des kritischen Frequenzbereichs liegt, handelt es sich nicht um ein dynamisches Problem, sondern um ein quasi-statisches. Allfällige übermässige Schwingungsamplituden entstehen nicht durch ein Aufschaukeln, sondern durch die quasi-statischen Kräfte der schwingenden Glocken. Eine Veränderung der Schlagzahlen bringt in einem solchen Fall keine grosse Veränderung. Liegt die Turmeigenfrequenz innerhalb des kritischen Bereichs, so besteht tatsächlich ein dynamisches Problem, und dann sollte diese Frequenz genau erfasst werden; bereits ein kleiner Fehler bei ihrer Bestimmung kann zu schwerwiegenden Fehlbeurteilungen führen.

Dynamisches Verhalten von 18 Glockentürmen

Ein Quervergleich des dynamischen Verhaltens verschiedener Glockentürme bietet einen interessanten Einblicke in ihr Verhalten und zeigt, welche dynamischen Eigenschaften eher zu Problemen führen. Am wenigsten unterscheiden sich die 18 in Tabelle 04 erfassten Kirchen bei den Schlagzahlen. Offensichtlich muss die Schlagzahl für die schwerste Glocke bei etwa 45 liegen und für die leichteste bei etwa 65. Der kritische Bereich für die Eigenfrequenz von Glockentürmen liegt somit zwischen 1.1 und 1.6 Hz. Alle Glockentürme mit Eigenfrequenzen über 1.6 Hz haben relativ geringe Schwingungsamplituden. Typisch für die untersuchten Kirchen ist auch, dass die schwerste Glocke die massgebende ist. Da ihre Eigenfrequenz höher liegt als die 3. Harmonische, sind diese Glockentürme nicht durch ein dynamisches Phänomen gefährdet, sondern durch eine quasi-statische Belastung ohne Resonanzerscheinung. Von den Eigenfrequenzen der 18 Glockentürme liegen tatsächlich die meisten unterhalb des Orientierungswerts der DIN 4178 (vgl. Tabelle 03). Bei den Türmen mit Maximalwerten von 30 mm/s und mehr sind Massnahmen getroffen worden. Zumeist wurden die Schwingungen durch Veränderung der Schlagzahlen, durch Zusatzmassen oder durch eine Kombination beider Massnahmen reduziert.

Drei besonders interessante Fälle

Bemerkenswert war das Verhalten des Glockenturms der reformierten Kirche in Zürich Altstetten (Abb. 05): Die massgebende Glocke ist die Glocke Nr. 4 mit einer 3. Harmonischen von 1.39 Hz. Bei den ersten Versuchen zur Reduktion der Schwingungsamplitude ging man irrtümlicherweise davon aus, dass die Eigenfrequenz nicht stark von der Schwingungsamplitude beeinflusst wird und dass man mit einer Eigenfrequenz von f = famb = 1.5 Hz rechnen kann. Aus diesem Grund war es zunächst unverständlich, dass die Schwingungsamplitude mit abnehmender Schlagzahl, d. h. bei einer Vergrösserung des Abstands von der Eigenfrequenz, zunahm. Tatsächlich lag die Eigenfrequenz (bei der hohen Schwingungsamplitude) um einiges tiefer (wohl bei 1.3 Hz), und die Reduktion der Schlagzahl brachte eine Annäherung an die Eigenfrequenz. Das gleiche Phänomen wurde bei der katholischen Kirche Rudolfstetten (Abb. 06) beobachtet. Obwohl die 3. Harmonische mit 1.27 Hz unterhalb der Eigenfrequenz famb von 1.29 Hz lag, brachte erst eine Erhöhung der Schlagzahl eine Verringerung der Schwingstärke.

Auch die katholische Kirche in St. Moritz (Abb. 07) wies vor der Instandsetzung relativ starke Schwingungen auf. Die Kirche mit Campanile wurde von Nicolaus Hartmann im Stil der lombardischen Romanik erbaut. Ihm schwebten leichte Glocken wie im Süden vor.

Der Pfarrer aus dem nördlichen Nachbarland, der über die Anschaffung des Geläuts entschied, wollte schwere Glocken einsetzen, wie sie in seiner Heimat üblich sind. Das Beispiel zeigt, dass auch kulturelle Unterschiede zu übermässigen Turmschwingungen führen können.


Anmerkungen:
[01] Slavik, M.: Überlegungen zur Baudynamik von Glockentürmen. Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden (FH), Fachbereich Bauingenieurwesen/Architektur, Labor für Bauwerks- und Modellmessung, 2004 (www.htw-dresden.de).
[02] Deutsche Norm – DIN 4178: Glockentürme. Berlin 2005.