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Köpfe, Bauten, Bild und Ton
Spectrum
14. Oktober 1995 - Walter Zschokke
Als Giorgio Vasari 1550 die erste Auflage seiner Lebensbeschreibungen von Künstlern der Renaissance herausgab, war der Buchdruck knappe 100 Jahre alt. Eine zweite, stark erweiterte Ausgabe folgte 1568. Vasaris Medium war die Sprache in Schriftform, sein Kanal war das Buch. Abbildungen waren darin wegen der hohen reproduktionstechnischen Hürden keine enthalten. Die Kenntnis der Werke der Renaissance wurde beim Leser vorausgesetzt. Die Schrift hatte eindeutig Vorrang. Ob es sich dabei um Literatur handelt, dürfen wir in Zweifel ziehen. Das Werk ist vielmehr als Sachbuch einzustufen, wurde aber nichtsdestoweniger in den vier Jahrhunderten seit seinem Erscheinen zu einem Bestseller. Soweit die Alten.

Der Aderlaß, den die österreichische Architektur der Moderne in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts als Folge erzwungener Emigration erleiden mußte, hat sich bis weit in die fünfziger und sechziger Jahre hinein ausgewirkt. Die Ausstellung „Visionäre & Vertriebene“, erarbeitet von Matthias Boeckl, Otto Kapfinger und Adolph Stiller, die im Frühjahr in der Wiener Kunsthalle zu sehen war, hat das Ausmaß des Verlustes aufgezeigt und die Qualität der exilierten Fachleute belegt. Auch wenn einige – wie Rudolf M. Schindler, Richard Neutra oder Friedrich Kiesler – schon vor 1930 die mitteleuropäische Enge mit den weiträumigen USA vertauscht hatten, lag das Schwergewicht der Ausstellung doch bei jenen Architekten, die in den späten dreißiger Jahren das angeschlossene Österreich verlassen mußten. Bekannte Namen wie Felix Augenfeld, Josef Frank, Viktor Gruen, Bernard Rudofsky und Oskar Wlach gehören zu dieser Gruppe.

Es handelt sich bei dieser Phase österreichischer Kulturgeschichte um äußerst komplexe Inhalte: politische Geschichte, Lebenswege und die Werke der Protagonisten. Gebautes und Projektiertes bilden ein dichtes Gewebe. Dazu kommt die bekannte Problematik des Architektur-Ausstellens, bei der mit Plänen, Photographien und Modellen weitere Medien beigezogen werden müssen, sodaß der Besucher in die Lage versetzt wird, sich das gebaute Original vorzustellen. Die Ausstellung erreichte ein außerordentlich hohes Niveau, das von einem Katalog nur teilweise konserviert und für die Nachwelt erhalten werden kann.

Schon in der Kunsthalle war daher eine Multimediaproduktion über die Biographien der wichtigsten Köpfe in der Ausstellung zu sehen gewesen. Nach weiterer Überarbeitung ist nun eine CD-ROM unter dem Titel „Visionäre im Exil“ für Macintosh oder für Windows erhältlich. Wer sich nun vor das Bildschirmfenster begibt, kann durch dieses in ein unübersehbares Labyrinth aufbereiteter Fakten, Bilder und Texte hineinsteigen. Erst nach mehrmaligem Durchstreifen und nach einigen verklickten Stunden werden einem die Dimensionen gegenwärtig. In jedem Fall hat man sehr viel erfahren, Quervermerke registrieren und vor allem nach Lust und Interesse dieser oder jener Spur nachgehen und so ein eigenes Wegsystem durch den Materialberg legen können, sodaß ein zufriedenes Forschergefühl aufkommt: Man sucht, vermutet, stößt auf neue Fakten und auf spezielle Formen der Präsentation. Dabei überlagern sich Geschriebenes, Gesprochenes, Bilder, Pläne und dazupassende Musik.

Wenn man etwas Bestimmtes sucht, gibt es Register für Historie, Namen und Bauwerke. Gleich einem imaginären Gebäude, einem Gedankengebäude eben, läßt sich in der Multimediaproduktion herumspazieren, Wiederholungen und Schlaufen oder Abkürzungen und direkte Wege sind nebeneinander möglich. Man kann beliebig auswählen und ist nach fünf Minuten mit den meisten Interaktionsregeln vertraut, sodaß die Inhalte hinter der Programmstruktur greifbar werden.

Das anspruchsvolle und komplexe Thema aufzuarbeiten und multimedial umzusetzen war eine Riesenarbeit. Die eingangs genannte Forschergruppe Boeckl, Kapfinger, Stiller lieferte Inhalte, die Umsetzung wurde von einem jungen Team, das sich in der Firma „Science Wonder Productions“ zusammengeschlossen hat, in vielen und langen Wochen erarbeitet. Michael Perin-Wogenburg, Wolfgang Oblasser und Stefanie Sachweh sind alle unter 30 Jahre jung und kommen von anderen Fachgebieten als der Architektur oder der Informatik. Insofern sind sie „Wilde“, engagierte Autodidakten, die sich über verschiedene Projekte in die Welt der Multimediaproduktion eingearbeitet haben. Perin-Wogenburg kommt von der Malerei her, Oblasser studierte Japanologie und Ethnologie, Stefanie Sachweh schloß die Meisterklasse für Modedesign ab.

Diese Mischung garantierte eine interessante und formal anspruchsvolle gestalterische Umsetzung. Neben der Programmierarbeit und der Digitalisierung von Bild und Ton benötigte das Team auch Sprecher für die Texte, die in ihrer kompakten Form nur von einem Formulierer vom Format eines Otto Kapfinger zu bewältigen waren. Weitere Bildquellen mußten erschlossen, die Rechte gesichert werden, und es galt, passende Begleitmusik zu finden.

Dabei zeigt es sich, daß das Bemühen um individuelle Darstellung der jeweiligen Lebensläufe es absolut verbietet, mit Klischees zu arbeiten, weil dies beim mehrmaligen Durchgehen für die Benützer rasch ärgerlich würde. Die umfangreiche Arbeit ist zu vergleichen mit dem Aufwand für einen Film oder für eine Theaterinszenierung. Jeder Vergleich und jedes Beispiel, das man erwähnen will, verlangen nach einem Bild und einem erklärenden Text. Bei der Fülle des Materials gerät man auch bald einmal an die Grenzen des Speichermediums. Man muß auswählen, kürzen und verknappen, darf aber nicht flach werden, sondern muß dicht bleiben, denn der Benützer will nicht belehrt, sondern informiert und unterhalten werden.

Damit ist die Multimediaproduktion auf CD-ROM viel mehr als ein Sachbuch im Sinne der eingangs genannten Viten von Vasari. Es handelt sich um eine neue Medienkategorie, deren Qualitätskriterien noch in Entwicklung begriffen sind. Doch läßt sich jetzt schon sagen, daß sehr viel hochqualifizierte Arbeit hineingesteckt werden muß. Obwohl der Benützer frei im Labyrinth vernetzter Fakten herumspazieren kann, muß eine Art Regie dafür sorgen, daß Rhythmus und Abläufe ihren spezifischen Charakter erhalten, daß Brüche oder gleitende Übergänge aus inhaltlichen Gründen erfolgen und nicht wegen Wechseln in der Bearbeitergruppe. Daß solcher Aufwand kostet, wird jedem klar. Der silbern glänzenden CD-Scheibe ist dies nicht anzusehen.

Es wird jeweils genau zu überlegen sein, ob ein Stoff für die Umsetzung in eine Multimediaproduktion geeignet ist und ob genügend Material für eine audiovisuelle Umsetzung vorliegt. Man würde einem Bild anmerken, daß es nicht das richtige ist, daß es nur als Platzhalter dient für ein anderes, das nicht ausgeforscht werden konnte. Nichts ist peinlicher als leeres Gerede, weil der Texter den Sachverhalt nicht begriffen hat oder unfähig war, die Inhalte auf die nötige Knappheit zu verdichten. Ärgerlich, wenn Musik zum lästigen Gedudel wird, das man gern ausblenden möchte.

Gemessen an diesen drohenden Klippen und Untiefen ist das wissenschaftlich von Otto Kapfinger angeleitete Team Perin-Wogenburg – Oblasser – Sachweh von „Science Wonder Productions“, unterstützt von zahlreichen Mitarbeitern und Helfern, sehr tief in das Gebiet der neuen Kommunikationsform vorgedrungen, hat ein erstaunlich reifes Produkt erzeugt und eine Qualitätsmarke vorgegeben.

Wenn jetzt die CD-ROM „Visionäre im Exil“ an der Buchmesse in Frankfurt auf den Markt kommt, stellt sich sofort die Frage, ob diese neue Form das Buch, zuvorderst das Sachbuch, ersetzen wird. Natürlich nicht, es scheint einer der Grundirrtümer der linearen Fortschrittsideologie des 20. Jahrhunderts zu sein, daß das Neue das Bestehende restlos verdrängen wird. So behauptete Richard Buckminster Fuller, das Flugzeug habe die Eisenbahn aus dem Feld geschlagen und die Rakete würde das Flugzeug ersetzen, was Unsinn ist. Warum holt man die Zigaretten in der Trafik ums Eck immer noch zu Fuß, warum rentiert die Eisenbahn auf den Hauptstrecken, und wie bitte ist der Fahrradboom des letzten Jahrzehnts zu erklären?

Der Lauf der kulturellen und technischen Entwicklungen ist unstetiger, komplexer, widersprüchlicher und mehrspuriger, als selbst eine Multimediaproduktion es widerzuspiegeln vermag. Doch für das Verständnis und die Vermittlung dieser mehrdeutigen Vorgänge, der Ungleichzeitigkeiten und Unstetigkeiten scheint das Multimediale das geeignete Mittel, das zusätzlich zum bisherigen Instrumentarium genutzt werden kann. Es ist das mehrfach wirksame Gegenmittel gegen Simplifizierer, eindimensional denkende Sturschädel und gleichschalterische Demagogen. Denn bei intelligenter Bearbeitung bietet es Wahlfreiheit und beliebige Vertiefungsmöglichkeiten.

Und es wird auf der Produzentenseite selektierend wirken. Nur wer die komplexe Klaviatur mehrerer Medien beherrscht, kann Spielmacher werden; die andern werden scheitern. Damit wird eine breite Bildung erforderlich – in sprachlichen, bildnerischen und technisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen. Selbst wenn im Team gearbeitet wird, wachsen die Anforderungen an den einzelnen. So kann der flache Bildschirm zum Fenster werden in eine anspruchsvolle und spannende Zukunft kultureller Erkenntnis- und Vermittlungstätigkeit.

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