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Die Harmonie für Buxtehude
Spectrum

„In welchem Style sollen wir bauen?“ fragte 1828 der „Großherzogliche Badische Residenzbaumeister“ Heinrich Hübsch. Auch heute noch läßt sich über Architektur gut streiten. Ein Brief und eine Erwiderung.

30. Dezember 1995 - Walter Zschokke
Der Wiener Kulturkritiker Robert Schediwy verfaßte zu meinem Beitrag vom 9. Dezember einen Leserbrief und fragte: Wären Sie bereit, sich mit ihm auf der Architekturseite auseinanderzusetzen? Da der behandelte Gegenstand komplexer Natur und kaum abschließend beantwortbar ist, sehe ich in einem Weiterführen der Diskussion eine interessante Aufgabe.

Schediwy: Beim Streit um die Erweiterung des Kremser Bauamtes geht es nicht um eine „Neuauflage“ des „Stadt-Land-Konfliktes“, sondern offenkundig um das Aufeinanderprallen zweier ästhetischer Grundkonzeptionen der Architektur, die einander auch in London, Wien oder anderen Großstädten seit Jahrzehnten nahezu unversöhnt gegenüberstehen: Eine kleine, aktive Minderheit verficht seit Loos und Le Corbusier mit viel Verve den Bruch mit den alten Bautraditionen, wettert gegen das „Geschmückte“ und gegen harmonistische Konzepte wie Bauhöhenangleichungen und Satteldächer.

Die meisten Bürger, auch viele Kunsthistoriker, sehen dagegen genau jene „Harmonie“ als positiven Wert an und stehen Sichtbeton und Flachdächern, wie sie von den „Modernen“ seit den späten zwanziger Jahren forciert wurden, ebenso kritisch gegenüber. Das gilt für Paris mit seinen beliebten traditionellen Mansardendächern ebenso wie für Buxtehude - auch wenn der Vorwurf der „engagierten Modernen“ stets dahin geht, der eigenen Bevölkerung besondere „Provinzialität“ vorzuwerfen.

Der Stadt-Land-Konflikt basiert auf Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung und auf Differenzen des Informationsstandes. Ihrer Behauptung, es handle sich um zwei aufeinanderprallende ästhetische Grundkonzeptionen der Architektur, kann ich nicht folgen, da ich die von Ihnen umschriebene Grundkonzeption weder in der Theorie noch in wichtigen zeitgenössischen Bauwerken zu erkennen vermag.

Hingegen sehe ich im Architekturschaffen der vergangenen zehn Jahre unterschiedlichste Strömungen: Die Bauten von Hans Hollein, Gustav Peichl, Hermann Czech, Helmut Richter, Adolf Krischanitz, Rüdiger Lainer oder Michael Loudon sind in ihren Konzepten verschieden, passen aber kaum auf das von Ihnen angedeutete „ästhetische Grundkonzept“. Die Schaffenskrise der „Traditionalisten“ darf wohl nicht den „modernen“ zeitgenössischen Architekten angelastet werden. Überhaupt scheint es mir unzulässig, daß Sie die Fachdiskussion mit der allgemeinen Geschmacksdiskussion gleichsetzen.

Eine Teilnahme an einer Fachdiskussion erfordert über die oberflächlich visuelle Erfahrung hinaus eingehendere Kenntnis der Materie. Es gibt kein angeborenes Kulturverständnis, das über alles Vergangene ein sicheres Urteil gewährleistet; vielmehr führt das Ambiente, in dem man aufwächst, zu meist unbewußten Prägungen. Diese können durch das Sammeln von Erfahrungen erkannt werden, worauf die Urteilsbildung dem Gegenstand angemessener erfolgen kann. Ihr Harmoniebegriff bedarf einer Nachfrage: Offenbar geht es Ihnen bei „Harmonie“ um selektive Auswahl vertrauter Elemente und die Ausblendung all dessen, was stören könnte. Zahlreiche zeitgenössische Architekten streben nicht weniger „Harmonie“ an, aber sie versuchen, scheinbare Störfaktoren in die Gestaltung einzubeziehen, eine Balance unter Gegensätzen zu suchen, die sich nicht an oberflächlichen Stilmerkmalen oder axialen Symmetrien orientiert.

Schediwy: Die von Ihnen vorgestellten Kremser Entwürfe repräsentieren diesen Jahrhundertkonflikt, der in der Architekturgeschichte früherer Epochen keine Parallelen findet, an Hand zweier ziemlich unbedeutender Projekte.

Ihre Behauptung, es habe früher keine Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Erneuerern gegeben, ist schlicht nicht wahr. Lesen Sie nach, mit welcher Vehemenz sich Kulturschaffende 1888 gegen den Bau des Eiffelturms wandten, versuchen Sie im Gegenzug, den Parisern heute den Turm wegzunehmen. Oder schlagen wir in Heinrich Hübschs Schrift „In welchem Style sollen wir bauen?“ (1828) nach: „Die Malerei und die Bildhauerei haben in der neueren Zeit längst die todte Nachahmung der Antike verlassen. Die Architectur allein ist noch nicht mündig geworden, sie fährt fort, den antiken Styl nachzuahmen. Ein großer Theil (der Architekten) lebt in dem Glauben, daß die schönen Formen in der Architectur etwas Absolutes seien, was für alle Zeiten unverändert bleiben könne.“ In den folgenden Jahrzehnten setzte sich der Historismus gegen den Klassizismus durch. Allerdings ist von Bedeutung, daß sich erst in diesem Jahrhundert die demokratische Gesellschaft in Europa verfestigte, sodaß die Konflikte unter anderen Bedingungen ausgetragen werden.

Schediwy: Bedauerlich erscheint, daß Sie, der unter den Beiträgern der stark „ideologisierten“ „Presse“-Architekturseite bisher eher zu den Besonneneren zählte, nun auf eine denunziatorische Schimpfterminologie setzen. Da ist - angesichts der vielfach ausgezeichneten „Denkmalschutzstadt“ Krems - von „dumpfem Beharren auf einem harmonischen Stadtbild“ die Rede. Da wird, ohne die funktionale Brauchbarkeit der konkurrierenden Projekte zu erörtern, eine „fachliche“ Überforderung des Bürgers behauptet, wo es in Wahrheit um Geschmacksfragen geht. Da liest man von „kleinkrämerischen Attacken“, „Froschperspektive“ und „Zuckerguß der Heile-Welt-Ideologie“.

Sie gehen davon aus, daß die im „Spectrum“ publizierenden Architekturkritikerinnen und -kritiker alle aus derselben „ideologischen“ Schule stammen. Den Vorwurf einer Ideologisierung weise ich zurück, da ich meine Argumentation mit fachlichen und historischen Kenntnissen begründe. Bei der Vermittlung des aktuellen Baugeschehens bleiben die Urteile vorläufig; sie werden sich erst nach 50 und mehr Jahren verfestigen, unterdessen aber womöglich auch ins Gegenteil verkehrt werden. Jeder, der sich mit der Rezeptionsgeschichte von Architektur befaßt hat, kennt diesen wechselvollen Prozeß. Sie aber glauben offenbar an ein fixes Beurteilungssystem.

Soweit „Geschmack“ als unbewußte Vorliebe für diese oder jene Richtung gilt, ist eine Diskussion vielleicht wirklich unmöglich. Sobald sich aber die Gesprächspartner der eigenen Position bewußt sind und fachlich und sprachlich differenzierend in einer Diskussion mithalten können, werden auch Fragen des „Geschmacks“ - ich würde eher sagen, der Gestaltung - diskutierbar. Daß im „Spectrum“ manchmal auch Fehdehandschuhe hingeworfen werden, macht das Schreiben und Lesen nur spannender.

Schediwy: Die asketische Ästhetik, die von Teilen der Kulturelite seit Anfang dieses Jahrhunderts vertreten wird, ist gewiß eine legitime persönliche Entscheidungsmöglichkeit und ein interessantes sozialpsychologisches Phänomen: Ebenso wie die derzeit als „Uniform der Kulturprogressiven“ abzeichenartig getragene Schwarzkleidung darf eine solche Präferenz aber nicht einfach dekretiert werden. Und so wie sehr viele Menschen eben gerne „bunt“ tragen, empfinden viele den Sichtbeton von Adolf Krischanitz' neuer Kunsthalle in Krems als „gefängnishaft“ und seinen Wiener „Kunstcontainer“ nicht unbedingt als „erfrischende Abwechslung gegenüber der historischen Pracht“ rundum. „Fachargumente“ sind für solche grundsätzliche Orientierungen irrelevant.

Von den Schlenkern der Kleidermode einmal abgesehen, ist die Frage interessant, warum viele Menschen den Beton, sobald er sichtbar angewendet wird, ablehnen, sich aber nicht daran stoßen, wenn er unsichtbar als Material für Tragwerk und Wände dient. Daß Architekten derartige Widersprüche zu thematisieren versuchen, ist eines der Merkmale zeitgenössischen Architekturschaffens, das neue Ausdrucksformen sucht, um über die heutige Wirklichkeit hinausbauend Werke zu errichten, die womöglich Denkmale von übermorgen sein werden. Wie der Gestalter die Tiefen des Materials oft in innerem Ringen auszuloten sucht, darf auch ein Betrachter nach einem ersten Eindruck sich und das Werk eindringlicher befragen.

Schediwy: Es ist tief bedauerlich, daß hierzulande derzeit fast nur die F-Bewegung die kulturpolitische Vertretung jener eher harmonisierenden ästhetischen Konzepte übernimmt, die auch die Wiener Gemeindebauten der Otto-Wagner-Schule in der Zwischenkriegszeit auszeichneten.

Die F-Gruppierung arrogiert sich so im kulturpolitischen Bereich eine Repräsentationsbreite, die ihr eigentlich nicht zukommt. Und sie verstärkt die Konfliktdynamik - indem sie für alle harmonisierenden Konzepte den „Rechtsaußenvorwurf“ provoziert. Auch Beiträge wie jener von Ihnen oder von Frau Waechter-Böhm, die einmal von „bonbonfarbener Verkremserung“ sprach, tragen aber zur Aufschaukelung der Gegensätze bei.

Auch ich sehe die Schwierigkeiten, die Kluft zu überbrücken, die sich öffnet zwischen dem langsamer sich entwickelnden breiten Verständnis von bildender Kunst oder Architektur und den verschiedenen Strömungen einer enteilenden Avantgarde. Mit dieser nicht harmonisierbaren Problematik müssen Künstler und Kritiker leben und arbeiten. Indem man sich eingehend mit neuartigen Entwicklungen oder vorerst fremden Kulturen befaßt, wächst das Verständnis.

Wer sich dem Beschreiten dieses Erkenntnisweges verweigert, kann das Fremde oder Neue nicht in sein Weltbild einbauen, wird daher auch nicht zu einer Harmonie der aktuell vorhandenen Aspekte und Erscheinungen mit der jüngeren und älteren Geschichte gelangen, sondern lebenslang nach jener prästabilisierten, in eine virtuelle Vergangenheit „vor dem Sündenfall“ projizierten „Harmonie“ suchen.

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