Artikel

Schwimmen im täglichen Zeitstrom
Spectrum

Eine Stadt nimmt das Faktum, daß vor 50 Jahren ein verheerender Krieg zu Ende gegangen ist, zum Anlaß, diese fünf Jahrzehnte, konkreter: deren Alltag, unter die Lupe zu nehmen und noch einmal in die Auslage zu stellen.

3. Juni 1995 - Walter Zschokke
Die Klarheit, mit der uns Fernand Braudel, der große französische Historiker, einen Sachverhalt erläutert, im Original zu genießen, rechtfertigt ein langes Zitat, denn wer hat das Vorwort zum ersten Band von Braudels Sozialgeschichte des 15. bis 18. Jahrhunderts gelesen – und wer von denen, die es gelesen haben, hat es noch in Erinnerung?

„Alltag ist gleichbedeutend mit winzigen Fakten, die räumlich und zeitlich kaum ins Gewicht fallen. Je enger der Blickwinkel, desto besser die Aussicht, in den eigentlichen Bereich des materiellen Lebens vorzustoßen: Die großen Durchzieher informieren über den Fernhandel, über die Wirtschaftssysteme der Staaten und Städte. Engt man dagegen den beobachteten Zeitraum auf winzige Spannen ein, landet man entweder beim Ereignis oder beim Alltäglichen. Das Ereignis beansprucht für sich Einmaligkeit, das Alltägliche wiederholt sich und wird durch die Wiederholung zum Allgemeingültigen oder, richtiger, zur Struktur.“

Soweit Braudel. Dieser Alltag ist nun Gegenstand einer Ausstellung in Villach, die unter dem Titel „Zeitspirale – Alltagskultur in Villach“ die ehemaligen Gebäude der Oberkärntner Molkerei vor dem geplanten Abbruch noch einmal nutzt und bis 30. Juni zum Besuchen einlädt.

Alltag, das ist nicht nur Fron. Das Kultivieren alltäglicher Verrichtungen bietet manche Freude; auch wenn nicht unbedingt Kunst resultiert, so doch da und dort Lebenskunst. Sich dessen zu erinnern erheitert gar manchem das Gemüt. Methodisches Erinnern sieht sich mit verschiedenen Problemen konfrontiert: Im nachhinein ist man immer klüger; man beurteilt weiter zurückliegende Verhältnisse im Wissen um die späteren Ereignisse und verschiebt dadurch die Proportionen. Frühe Ereignisse werden von späteren Begebenheiten verdeckt, andere, unwichtig scheinende, vergessen, dritte, unangenehme oder peinliche, schlicht verdrängt. Die Erinnerung verklärt und schönt das Vergangene, denn wie sollte der einzelne mit der Last der ganzen Geschichte und all seiner Geschichten auf die Dauer leben können. Doch was dem Individuum nachgesehen werden mag, ist für die Gemeinschaft in Abschnitten eine wiederkehrende Aufgabe. Und da provozieren Gegenstände eher ein spontanes, direktes Erinnern, als es selbst Lichtbilder oder gar wohlgesetzte Worte zu tun vermögen.

Das Ausstellen und In-Beziehung-Setzen von Gegenständen des täglichen Gebrauchs schafft eine Stimmung, die vielleicht an Rührung grenzen mag, aber in diesem Zustand meldet sich Vergessenes, und der Kopf akzeptiert auch Verdrängtes, auf daß es bewußt neu geordnet werden kann, um dann abgelegt zu werden. Ausstellen heißt immer Teile für ein größeres Ganzes herzeigen, heißt auswählen müssen, was sowohl ein Auszeichnen und zugleich ein Weglassen bedeutet.

Dieser Aufgabe stellte sich ein Team, das vielleicht nicht zufällig aus drei Frauen bestand. Unter der Leitung der erfahrenen Kulturvermittlerin Elis Zedrosser erarbeitete die Dreiergruppe, der die Künstlerin und Museumswissenschaftlerin Barbara Putz-Plecko und die Architektin Sonja Gasparin angehörten, ein umfangreiches Konzept, das von Sonja Gasparin gestalterisch umgesetzt wurde.

Als Ausstellungsräumlichkeiten stehen die einen Winkel bildenden, zweigeschoßigen Trakte eines Verarbeitungsbetriebs der Molkereibranche zur Verfügung. Das Äußere ist von gediegener Belanglosigkeit, weder schön noch häßlich, ausgeführt mit den baulichen Mitteln, aus denen simple Einfamilienhäuser errichtet werden, aber hier in emotionsloser Aneinanderreihung angewendet. Im Innern rohe Ziegelmauern, roher Betonboden, rohe Elementdecken. Dieses Rohe, Ungehobelte diente der Gestalterin als Hintergrund, vor dem sie thematische Sequenzen arrangierte. Ohne viel Aufwand ergab sich damit ein Kontinuum, das hier betont, dort reduziert, an mancher Stelle zurückgedrängt wurde.

Der Zugang führt über eine lange Rampe ins erste Obergeschoß. Diese vereint Signalwirkung und Notwendigkeit, denn sie erlaubt auch Rollstuhlfahrern die Einfahrt ohne fremde Hilfe. Den Einstieg ins Thema bilden Trümmer und Schutt, zählte doch Villach zu den am stärksten zerstörten Städten Österreichs. An Hand des Warenkorbs von damals und jenes von heute wird die zurückgelegte Entwicklungsspanne aufgezeigt: Was war Brot 1945, was verstehen wir heute darunter?

Eine derart ausgedehnte Schau, die sich über 1300 Quadratmeter erstreckt, kann nicht ohne Unterbrechung durchwandert werden. Aus der Fülle des präsentierten Materials stechen fünf gartenhausgroße, farbige Boxen hervor, die als Stichtag-Kojen jeweils den 11. Mai der Jahre 1951, 1961, 1971, 1981 und 1991 medial evozieren. Sie geben einen Rhythmus vor, sind optische und inhaltliche Stufenbilder, welche die Veränderung pro Zeiteinheit anzeigen. Ihre wechselnden Farbkombinationen bieten Ansatz zu einer raumzeitlichen Orientierung im Ausstellungsablauf, der den Besucher da und dort derart fesselt, daß er im Zeitstrom mitzuschwimmen meint.

Die Masse des Materials stammt nicht vordringlich aus Museen, sondern ist meist direkt aus dem Leben gegriffen. Individuell konkrete Ungleichzeitigkeiten – da der Geschäftseinbau eines gerade geschlossenen Lebensmittelladens, in dem Geselchtes und Dauerwurstwaren die richtige Duftnote beisteuern, dort eine alte Waschküche, in der an die harte Fron des Waschtags, eine heute kaum mehr vorstellbare Belastung der Hausfrauen, erinnert wird.

Und wer als Bub der gehetzten Mutter in der Früh, vor der Schule, noch den Wäscheofen angefeuert hat, wird auch als Mann schlagartig in die Erinnerungsspirale hineingezogen. Dabei stellt man fest, daß der Alltag in Mitteleuropa überall irgendwie verwandt ist. Es hängt nicht an einzelnen Exponaten, sondern an den überall gleichen oder ähnlichen Verrichtungen, die aus den Dingen des täglichen Gebrauchs sprechen, die über jahrelanges Arbeiten gleichsam auf die Gegenstände übergegangen sind, sodaß diese Gegenstände zu uns sprechen wie ein Buch.

Die Umsetzung – das heißt die Antwort auf die Frage: Wie nehme ich als Gestalterin die Besucher bei der Hand? – arbeitet mit „Originalexponaten“, die aus den Haushalten und den anderen Lebensbereichen der Villacher stammen.

Da und dort hat die Gestalterin nicht selbst zu arrangieren versucht, sondern, etwa im Falle der Schaufensterdekoration eines Wäschegeschäfts, die Dekorateurin des örtlichen Kaufhauses beigezogen. Damit sind „Originalpräsentationen“ entstanden und gelungen, die kein Ausstellungsgestalter zu planen vermöchte: Die Fülle der Auslagen, wie sie von der mediterranen Kultur gepflegt wird, der Brauch, alles zu zeigen, was im Geschäft zu kaufen ist, hat sich vor Jahrhunderten bis an den Alpensüdfuß vorgearbeitet und bildet dort einen Teil der bodenständigen Kultur.

Zwischen den Themenbereichen finden sich größere Einzelinstallationen: beispielsweise ein Rundbau mit dem Panorama von Villach, vom Stadtpfarrturm gesehen; dem Problem „Blind sein in der Stadt“ ist ein der Gehörschnecke nachempfundener, dunkler Raum gewidmet, in dem die Stadt nur durch ihre Geräusche präsent ist.

Wer des Flanierens, des Schauens und des staunenden Erinnerns müde ist, kann sich in mehreren, auf den gesamten Bereich verteilten „Sitzecken“ etwas zurückziehen, die Tageszeitung des Stichtags in kopierter Form lesen oder in der einen, etwas größeren Ruhezone, einem Café, dem Musikautomaten die verschiedensten Schlager aus fünf Jahrzehnten entlocken. Die erste dieser Rückzugnischen ist mit Bänken aus Eisenbahnabteilen gestaltet. Sie erinnert uns auch daran, daß früher viel mehr Reisen mit dem Zug unternommen wurden, daß der Reiseradius viel kleiner war.

Eine weitere Rauminstallation gilt einem Kinderzimmer, das halb im Stil der vierziger Jahre, halb in dem der neunziger Jahre eingerichtet ist. Daß in den Vierzigern zwei bis drei Kinder ein Zimmer teilten, bleibt nicht unerwähnt.

Neben den materiellen Dingen galt das Interesse der Konzeptorinnen und der Gestalterin auch Persönlichkeiten der Stadt Villach, deren Meriten nicht offizieller Art waren, sondern durch die Art ihrer Lebensweise gewachsen sind. Auffallend darunter der immer in kurzen Hosen und barfuß gehende Josef Kaus, der seine Tageskommentare in knapper, poetischer Form niederschrieb. Er tat dies auf einer Schreibmaschine mit schwarzrotem Farbband, solcherart eine eigenwillige, aber sehr interessante typographische Wirkung hervorrufend.

Zum Ausklang tritt der Besucher in Konfrontation mit den lebensgroßen Photographien dieser Ausnahmepersönlichkeiten. Persönlichkeiten, die dennoch zum Anfassen waren und sind, keine übersteigerten, überdimensional großen Helden, die dem Normalmenschen jeden Mut zur Selbstentfaltung nehmen. Die Konfrontation „Ich – Du“, die Frage „Wer bin ich eigentlich selber?“, die sich der Besucher, die Besucherin stellen mag, wird so nicht zum Zwang, sondern zu einem spielerischen Ausflug. Villach und diese Ausstellung sind jedenfalls eine Reise wert.

Die Ausstellung „Zeitspirale – Alltagskultur in Villach“ ist noch bis 30. Juni 1995 in den ehemaligen Gebäuden der Oberkärntner Molkerei, Villach, zu sehen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: