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Kisten im Kontext
Spectrum

Die Wiener Architekturszene steht in dem Ruf, spezifische Aufgaben immer etwas komplexer und hintergründiger als andere zu interpretieren und zu bewältigen. Doch wie hält sie es mit der aktuellen Strömung der „Neuen Einfachheit“? Zwei Beispiele.

13. Mai 1995 - Walter Zschokke
Nicht immer sind es ausgeführte Projekte, an denen die neuesten Tendenzen ablesbar werden. Oft ist es das kulturseismische Instrument des Architektenwettbewerbs, wo sich Entwicklungen – nicht selten bei zweit- oder drittgereihten Projekten – bemerkbar machen. Denn weil das Neue meist auch etwas fremd wirkt, kommt es nicht immer dazu, daß sich eine Mehrheit des Preisgerichts dafür zu begeistern vermag. Dem aufmerksamen Beobachter aber bieten die jeweils interessantesten Arbeiten aus mehreren Verfahren ein signifikantes Anschauungsmaterial für einen Blick in die Zukunft. Während vor allem die aus der deutschsprachigen Schweiz stammenden Vertreter der „Neuen Einfachheit“ stark objektfixiert entwerfen und meist auch ziemlich detailverliebt agieren, was von den Epigonen des In- und Auslands in der Art einer zweiten Ableitung verflachend kopiert wird, hat sich in Wien eine an mehreren Bauten und Projekten feststellbare zeitgenössische Strömung herausgebildet, die zwar ebenfalls mit einfachen geometrischen Körpern arbeitet, aber sowohl deren Stellung im Raum als auch ihr Verhältnis zu näheren und ferneren Nachbarbaukörpern exakt zu bestimmen trachtet. Ein erstes gebautes Beispiel ist die Kunsthalle Krems von Adolf Krischanitz.

Weniger ins Bewußtsein gerückt sind zwei Wettbewerbsprojekte, die Ende 1994 für ein mit einem Supermarkt kombiniertes Kirchgemeindezentrum in Hörbranz, Vorarlberg, und Anfang 1995 für das Jüdische Museum in Wien ausgearbeitet wurden. Beide zeigen den genannten Umgang mit einfachen Körpern, die in ein spezifisches Verhältnis zum Umraum treten, in sehr ausgeprägter Form.

Hörbranz ist eine große Gemeinde nördlich von Bregenz. Auch im Dorfzentrum stehen die Gebäude in einem lockeren Gefüge, sodaß die öffentlichen Räume nicht durch die Platzwände aneinandergereihter Fassaden gebildet werden, sondern von der räumlichen Abstrahlung der Einzelgebäude gleichsam magnetfeldartig definiert sind. Mitten durch die unverstellte Weite ziehen sich die linearen Elemente Straße und Bach, die als Leiter von Strömen (Wasser, Verkehr) ebenfalls ein imaginäres Feld erzeugen können. In diese heterogene Situation war ein Supermarkt und ein Kirchgemeindezentrum mit Pfarrsaal und Jugendräumen einzuplanen. Der dreieckförmige, angerartige obere Kirchplatz, im Westen vom Kirchturm überragt, im Norden von der Bundesstraße tangiert und nach Osten bei leicht ansteigendem Terrain eher auslaufend, erhielt mit zwei präzisen Setzungen eine unverwechselbare Identität.

Das Wiener Atelier „Stoß im Himmel“, das sich aus den jungen Architekten Robert Felber, Mark Gilbert, Claus Prokop, Stefan Rudolf und Manfred Schluderbacher zusammensetzt, zeichnet für das Projekt verantwortlich, das zum Sieger gekürt wurde. Nach Osten schließen die Architekten den Platzbereich mit dem breitgelagerten Volumen für den Supermarkt ab. Mitten in den Freiraum wurde nun der längliche, schmal-hohe Quader für das Pfarrsaalgebäude plaziert. Seine Ausrichtung zielt nach Westen, an der Kirche vorbei, in den Längsraum der Bundesstraße. Wenn man nun von unten her auf dieser Straße in das Dorfzentrum fährt, tritt einem das Kirchgemeindezentrum mit seiner Stirnseite entgegen, es bremst den Verkehrsansturm, läßt ihn aber dennoch ungehindert links vorbei.

Mit seiner ausgewogenen Stellung gelingt es dem einfachen Quader im Verein mit den anderen Gebäuden, einen westlichen Platzteil auszugliedern, der, vom Kirchturm dominiert, sowohl Ruhe und etwas Weihe als auch Geborgenheit vermittelt. Der Pfarrsaal, im Obergeschoß an der Stirnseite gelegen, tritt dazu in ein besonderes Verhältnis: Er bildet den eigentlichen Kern der räumlichen Verdichtung, umgekehrt ergibt sich von dort aus ein attraktiver Blick die Dorfstraße hinunter.

An der breiten Südseite des Bauwerks liegt der Eingang. Davor bleibt Raum für fröhliche Anlässe der Dorfgemeinschaft, die Stimmung ist weltlicher und erträgt im Alltag auch geparkte Autos. Ostseitig schließt der Vorbereich des Supermarkts an, wo wochentags geschäftiges Hin und Her viel Platz erfordert.

Obwohl der Baukörper eine einfache Kistenform aufweist, ist sein Größe, seine Stellung und Ausrichtung sowie seine Proportionierung derart präzis auf die vielgestaltige Umgebung abgestimmt, daß sinnvolle Räume und Zonen für entsprechende Nutzungen entstehen. Von schlichter geometrischer Gestalt, tritt der Körper trotzdem in architektonische Kommunikation mit den Nachbarbauten. Derselbe Körper könnte an anderer Stelle beziehungslos und stumm, ja autistisch isoliert wirken. Dies zeigt, daß architektonische Wirkung nie nur vom Objekt ausgeht, sondern sich immer im Wechselspiel mit dem Kontext ergibt.

Das zweite Beispiel ist der Entwurf für das Jüdische Museum in Wien von Ursula Klingan und Andrea Konzett. Ihr Wettbewerbsbeitrag unterlag vor allem aus Kostengründen dem klugen Low-budget-Projekt von „Eichinger oder Knechtl“. Die architektonische Qualität der Arbeit war nie in Zweifel gezogen worden.

Das ehemalige Palais Eskeles in der Dorotheergasse 11 gehört nicht zu den großartigen Wiener Adelspalästen. Der Grundriß verrät, daß bei seiner Entstehung drei oder gar vier gotische Häuser zusammengefaßt wurden, denen man eine vereinheitlichende Fassade applizierte – früher ein normaler, kostensparender Vorgang, durch den möglichst viel bauliche Altsubstanz bewahrt werden konnte. Im Verlauf der wechselhaften Geschichte blieb vom ehemaligen Ausbau nur wenig erhalten. Für die Nutzung als Jüdisches Museum sollte das Gebäude daher nach Möglichkeit erweitert und aufgewertet werden. Die zur selben Generation wie „Stoß im Himmel“ gehörenden Architektinnen Ursula Klingan und Andrea Konzett passen ihren schachtelartigen Neubauteil von oben in den Hof ein, sodaß rundherum zirka 60 Zentimeter Schlupf offen bleiben. Die Leichtbaukonstruktion in Stahl wird von den Hofmauern getragen. Der Boden des Quaders bildet die Decke eines zwei Stockwerke hohen Raumes im Eingangsgeschoß.

Diesmal tritt die geometrisch exakte Quaderform in einen räumlich sehr engen Kontakt zur Nachbarschaft, es bleibt nur eine schmale Lichtfuge offen. Zum Erdboden hält der autonome Körper einen größeren Abstand, sodaß ein repräsentativer Raum entstehen kann. Sowohl aus betrieblich-funktionellen Gründen als auch zum Erleben dieses Raumes quert ihn im hinteren Bereich ein Steg in der Höhe des ersten Obergeschoßes. Mit dieser konzeptuellen Maßnahme gelingt es, dem Palais eine architektonische Mitte zu geben und es damit entscheidend aufzuwerten. Obwohl Alt und Neu in ihrem architektonischen Ausdruck deutlich verschieden sind, erzeugen die beiden Teilsysteme ohne Identitätsverlust gemeinsam einen neuen Binnenraum von hoher gestalterischer Qualität.

In Summe betrachtet, weisen die kargen Kisten, die ihren geistigen Ursprung in Wien haben, eine spezifische Eigenart auf: Sie sind kommunikativ. Ihre Entwerfer sind offenbar nicht zuvörderst an einem modischen Effekt interessiert, obwohl sie punkto Aktualität durchaus mithalten können, sondern sie befassen sich mit den neu entstehenden Räumen und Zwischenräumen sowie mit den möglichen Aktivitäten in diesen Bereichen.

Diese Haltung bezieht ihr Qualitätsstreben aus der schon seit Jahrzehnten geführten Wiener Architekturdiskussion. Damit erweist sich Wien auf dem Architektursektor als echte Metropole, in der sich die Architekturpraxis ständig auf hohem Niveau weiterentwickelt.

Anders als bei lokalen Konjunkturen in der Provinz, die nach fünf, zehn Jahren bis auf ein paar Ausnahmefiguren wieder einschlafen, hält ein engagierter Nachwuchs die Wiener Szene lebendig. Zusammen mit der Tradition einer differenzierten Betrachtungsweise bildet dies den Treibstoff für den Fortbestand einer hohen Architekturkultur. Dies gilt selbst dann, wenn nicht jedes gute Projekt auch ausgeführt wird.

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