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Die Demokratie der Architektur
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„Wenn man mit Partizipation meint, die Leute sollen selber entwerfen – das halte ich für unsinnig. Man kann ja auch ein Auto nicht selber entwerfen.“ Roland Rainer über Moderne, Postmoderne und die Wünschelrute. Ein Gespräch zum 85. Geburtstag.

29. April 1995 - Thomas Götz
Daß Roland Rainer am 1. Mai vor 85 Jahren zur Welt gekommen ist, muß man ihm glauben. Der rüstige Kärntner, der von 1958 bis 1963 Stadtplaner Wiens war, der das ORF-Zentrum auf dem Küniglberg, die Wiener Stadthalle und zahlreiche Wohnsiedlungen entworfen hat, arbeitet nach wie vor am liebsten an dem, was ihm stets das wichtigste war – Häuser, Behausungen für Menschen zu bauen.

Roland Rainer, Sie haben eine Vitalität, die manchen jungen Menschen alt aussehen läßt.

Das kommt davon, weil ich begeistert bin. Weil ich begeistert bin von einer Idee, weil ich begeistert bin auch von der Schönheit der Natur und der Pflanzen. Das ist etwas Wichtiges zum Verständnis meiner ganzen Arbeit: daß ich lange Zeit geschwankt habe, ob ich Biologie oder Architektur studieren soll. Erst in den Ferien zwischen der Matura und dem Eintritt in die Hochschule hab' ich mich endgültig dazu entschlossen, Architektur zu machen. Für mich waren Bäume und Tiere seit frühester Jugend etwas sehr Wichtiges, ich habe sehr viele Landschaften gemalt. Auch die Architektur entsteht bei mir nicht zuerst durch einen technischen Plan, sondern immer erst durch Skizzen.

Dann kommt der Computer?

Nein, ich will meinen Mitarbeitern den Computer nicht zumuten, weil der gesundheitsschädlich ist – und meinen Kunden nicht diese mechanische Graphik. Wir sind bisher sehr gut mit einem kleinen Büro ohne Computer mit großen Aufgaben fertig geworden.

Wie viele Mitarbeiter haben Sie?

Ich habe jetzt acht Mitarbeiter. Der Höchststand meiner Mitarbeiter war 25, als ich den Küniglberg gebaut habe. Am liebsten habe ich zwischen sechs und zehn Mitarbeiter, weil das dann noch persönliche Arbeit ist. Und die Persönlichkeit der Arbeit ist die Voraussetzung auch für die Lebendigkeit. Sonst wird es mechanisch. Sie haben einmal gesagt, Sie hätten Ihre Grundideen nie verändern müssen. Welche sind das ?
Das ist die sogenannte klassische Moderne: Beschränkung auf das Wesentliche; ausgehend vom Bedarf, vom Material, von der Konstruktion, jeweils die zeitgemäße Form entwickeln. Mit diesen Gedanken bin ich aufgewachsen. Als ich in Wien studiert habe, bewegten die ersten großen Bauten und Publikationen von Le Corbusier, von Mies van der Rohe die Studenten. Heute werden deren Gedanken wieder lebendig – nach dem Rückschlag der Postmoderne, die nun überwunden ist, weil sie keinen Erfolg haben konnte.

Warum nicht konnte?

Weil es unlogisch ist, bei einem Baugedanken mit den Äußerlichkeiten zu beginnen. Und weil es keinen Erfolg haben kann, statt eine zeitgemäße Lösung mit zeitgemäßen Mitteln zu suchen, sich der Dekorationen vergangener Zeiten zu bedienen. Solche Dinge sind von vornherein zum Tod verurteilt.

Weil es nicht von innen gedacht ist?

Es ist nicht logisch gedacht. Es ist nicht von innen gedacht, es ist nicht klar gedacht, ich möchte sagen, es ist überhaupt nicht gedacht, sondern es ist nur nach dem populären Erfolg kalkuliert – und das konnte zu nichts führen.

Wenn Sie von Rückschlag sprechen, dann setzen Sie eine Fortschrittsidee voraus. Die haben Sie für die Kunst aber stets abgelehnt.

Das ist richtig. Aber was wir erwarten können, ist eine logische Entwicklung. Auch jeder vergangene Stil hat eine Entwicklung, bis er von einem neuen Gedanken abgelöst worden ist. Aber der Gedanke der Moderne konnte sich bisher nur sehr kurzfristig und teilweise verwirklichen. Weniger ist mehr?

Am schönsten hat es der heilige Augustinus gesagt: Schönheit ist der Glanz des Wahren. Darum ging es bei der Moderne. Es ist nämlich nicht richtig, daß es der Moderne nicht um Schönheit gegangen ist. Es ging um eine andere Art von Schönheit, eine, die auf das Wesentliche, auf den Inhalt und nicht auf das Äußerliche abzielt. Und es ist eine sehr demokratische Grundhaltung.

Inwiefern demokratisch?

Die klassische Architektur, die Architektur der Mächtigen, des Barock, der Renaissance, hat immer den Stadtraum und das Gebäude auf beherrschende Punkte orientiert. Die große Achse. Die hat es in ägyptischen Gräberstädten gegeben, die hat es in Versailles gegeben, die hat es unter Hitler gegeben, die hat es auch in Moskau gegeben.

Die Moderne schließt Achsen ja nicht aus. Wenn man La Défense in Paris anschaut . . .

Da haben Sie schon recht. Es ist auch so, daß Mitterrand durchaus Herrschaftsarchitektur macht. Dagegen gibt es eine Definition dessen, was wir eigentlich unter modernem Ordnungsprinzip verstehen. Am besten formulierten das die Holländer, Leute wie Mondrian. Die sehen darin eine Balance verschiedenartiger, aber gleichgewichtiger Teile, Linien oder Flächen. Und das ist eigentlich ein demokratisches Prinzip. Es gibt keine Dominanz. Auch das Kleine wird in seinem Wert erfaßt, in seiner Eigenart respektiert, es ist gleich wichtig. Es ist doch möglich, mit der Formensprache der klassischen Moderne geistlose, schreckliche Siloarchitektur zu machen, die überhaupt nicht auf die Bedürfnisse der Menschen eingeht.

Aber das ist nicht die typische Sprache der Moderne.

Also ich habe Projekte von Le Corbusier gesehen . . .
Le Corbusier ist ein charakteristisches Beispiel dafür, daß es bei Architekten oft zwei ganz verschiedene Ansatzpunkte gibt. Er hat bei seiner Hochhausstadt, die rings um einen Flugplatz gedacht war, ein Symbol einer ganz technokratischen Architektur gesetzt. Andererseits war es Le Corbusier, der in seinen Dachgärten und seinen berühmten Villen alles vorweggenommen hat, was wir uns heute wieder an Benutzbarkeit und Durchsonnung einer Stadt vorstellen.

Das Technoide würden Sie gar nicht modern nennen?

Das hat nichts mit Moderne zu tun, das sind technokratische Utopien, und die sind noch geistiger Bestandteil des Industriezeitalters, das jetzt ins Zeitalter der Dienstleistungen übergeht.

Sie haben grüne Gedanken propagiert, lange bevor sie „in“ waren.

Wenn ich alte Kulturen besucht habe, hatte ich plötzlich den Eindruck, daß dort schon gemacht worden ist, was wir machen werden müssen. Damals hat man nicht Energie verschwenden dürfen, weil man sie noch nicht hatte. In Zukunft werden wir sie nicht verschwenden dürfen, damit die Welt nicht zugrunde geht. Eine Parallele.

Und Sie glauben, daß man die Resultate des Industriezeitalters kombinieren kann mit den Erfahrungen vorindustrieller Kulturen?

Man muß zunächst die Resultate des Industriezeitalters sehr kritisch betrachten und womöglich vergessen, um wieder unbefangen die alten Grundsätze menschlichen Bauens und Lebens zu finden.

Sie machen Wünschelrutengänge, bevor sie bauen.

Genau, das sind wichtige Dinge.

Das wäre einem Corbusier nie eingefallen.

Nein, der hat an das nicht geglaubt. Diese Zeit der Anbetung der Technik ist aber vorbei.

Das klingt fast technikfeindlich.

Nein, ich bin nicht technikfeindlich, weil ich ja mit Technik arbeite, aber wir dürfen keinesfalls glauben, daß wir mit Technik alles bewältigen. Das ist nur zu erreichen, wenn wir die natürlichen Voraussetzungen als wichtigen Ausgangspunkt betrachten und ihre Erhaltung als wichtiges Ziel. Wir sind ja in Gefahr, daß wir jetzt fast alles den sogenannten technischen Errungenschaften opfern. Wir haben schon sehr viel geopfert. Wenn man Ihnen zuhört, könnte man glauben, es gäbe heute keinen Bruch zwischen Architektur und ihren Benutzern.

Wir sind heute in einem neuen Stadium der Moderne. Die Architekten wie Le Corbusier oder Mies waren fasziniert von der Technik als der Lösung. Wir sind einen großen Schritt weiter.

Österreich wird hemmungslos und häßlich zersiedelt .

Entsetzlich.

Architekten bauen für eine kleine Schicht wohlhabender Leute, der Rest baut Häßliches aus den Schubladen der Baumeister.

Ja, freilich. Die größte Tragödie auf diesem Gebiet sind die Fertighäuser. Die Industrie baut leider nach dem Geschmack des Publikums. Warum ist der so?

Die Leute schauen alle immer noch – ganz im Sinne der Untertanen von gestern – nach oben. Was früher der kaiserliche Palast war und die Achse dorthin, das wird heute in den verschiedenen Zeitschriften propagiert. Da gibt es noch die alten Paläste, das Alpenhaus mit geschnitztem Balkon und Hirschgeweih – lauter romantische Vorstellungen, mit denen sich die Leute über ihre Situation hinweglügen. Weil die Stadt unbefriedigend ist, flüchten sie in eine gegenteilig strukturierte Welt. Und was finden sie dort? Ein Bauernhaus oder eine Jagdhütte. Und jetzt machen sie das Bauernhaus nach, ohne sich bewußt zu sein, daß sie eben keine Bauern sind. In Wirklichkeit, glaube ich, wünschen sie sich einfach einen freien Raum inmitten von Natur.

Sie geben ihnen den?

Seit ich Architekt bin, habe ich mir vorgenommen, ich möchte so bauen, wie es sich die Leute wünschen.

Sind Sie mit ihrer Bauweise nie auf Widerstand gestoßen?

Ich habe nur bei meiner allerersten Siedlung Schwierigkeiten gehabt. Man hat in Linz/Puchenau kritisiert, daß die Gärten von Betonmauern umgeben waren. Bevor sie noch begrünt waren, haben die Architekten gesagt: „Rainer-KZ.“ Die Leute nannten es „Wohlstands-KZ“. Nach einem Jahr war alles grün und absolut akzeptabel. Lassen Sie die Bewohner mitbestimmen?

Wenn man mit Partizipation meint, die Leute sollen selber entwerfen – das halte ich für ganz unsinnig. Man kann ja auch ein Auto nicht selber entwerfen. Das war nur Popularitätshascherei. Man muß wissen, was die Leute brauchen, aber wie man diese Bedürfnisse befriedigt, das muß schon der Architekt wissen.

Weiß er aber zu oft nicht.

Genau, aber die Bewohner wissen es auch nicht. Man kann nicht von einem Laien verlangen, er solle sich etwas wünschen, was er noch nie gesehen hat. Diese Vision muß der Architekt haben, dann muß er sie mit den Bewohnern besprechen.

Gehen Sie auf Anregungen ein?

Wir lernen auch von den Leuten.

Und dann funktioniert das ?

Wo auch immer ich hinkomme, kommen die Leute heraus und sagen: „Kommen Sie herein und schauen Sie, wie schön es bei uns ist.“ Was kann einem Architekten Besseres passieren? Mehr braucht man nicht.

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