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Enge Lücke, offenes Wohnen
Spectrum

Wie vollzieht sich die Auftragsvergabe? Welche Kriterien bestimmen die Architektur? Wie entsteht eigentlich guter Wohnbau? Ein kleiner Ausschnitt von wiederkehrenden Fragen – und ein Beispiel aus Wien.

22. April 1995 - Margit Ulama
Mehr als ein halbes Dutzend Kräne, die in den Himmel ragen, unzählige Rohbauten, eben erst aus dem Boden geschossen, und daneben noch freie, weite Felder – das ist der Blick, der sich vor kurzer Zeit entlang der Brünner Straße im Norden Wiens geboten hat, und ein ähnlicher Blick wird sich auch noch längere Zeit bieten. Denn hier liegt eine der Entwicklungsachsen im Rahmen der Stadterweiterung, allein hier sollen Tausende Wohnungen errichtet werden. Mit den verschiedenen Stadterweiterungsgebieten im Nordosten und auch im Süden von Wien reagiert man auf die steigenden Ansprüche der Bevölkerung bezüglich Wohnraum, auf die wachsende Zahl von kleineren Haushalten, auf die Zunahme der Bevölkerung in den letzten Jahren ganz allgemein – nicht zuletzt auf Grund der Zuwanderung.

Natürlich wurde für die geschilderte Entwicklung bereits ein neues Schlagwort gefunden. Von der zweiten, der „neuen“ Gründerzeit ist die Rede. Dieser Begriff bezieht sich aber auch auf Entwicklungen im dichtbebauten Stadtgebiet, auf die sogenannte „innere Stadtentwicklung“, also die Ausnützung von größeren Flächen wie ehemaligen Kasernen oder Gewerbeflächen, aber auch kleineren wie Baulücken.

Man könnte annehmen, auf dieser konkreten Ebene des Bauens müsse es leicht sein, Qualität zu erzielen beziehungsweise zu finden. Man könnte glauben, qualitätsvoller Wohnbau sei leichter möglich als qualitätsvoller Städtebau als Grundlage für die beschriebene Stadterweiterung an den Rändern. Aber sogar beim – im Vergleich zu der äußerst komplexen städtebaulichen Materie relativ einfachen – konkreten Objekt findet sich architektonischer Anspruch eher selten.

Qualität ist natürlich in weiten Teilen ein subjektiver Begriff, höchstens technische und funktionelle Belange lassen sich einigermaßen objektivieren. Es enttäuscht jedoch, daß in vielen Fällen das Interesse an Qualität zu fehlen scheint, wie divergent diese auch verstanden sei. Für die Auftraggeber, also die Wohnbaugenossenschaften oder die Gemeinde, stehen die funktionierende Bauabwicklung und die Einhaltung ökonomischer Grenzen im Vordergrund. Die Auftragsvergabe folgt vielfältigen Kriterien, nur nicht dem einen Kriterium, dem des architektonischen Anspruchs.

In dieser sicherlich etwas verkürzt beschriebenen Situation findet man wohl Ausnahmen, zu denen unter anderem jener vor kurzer Zeit von Dieter Henke und Marta Schreieck für die Österreichische Beamtenversicherung errichtete Wohnbau im 17. Bezirk, in der Kainzgasse, zählt. Von einer allgemeinen Baukultur und dem entsprechenden Bewußtsein ist man aber weit entfernt. Das hieße nämlich, das kreative Potential an

Architekten nicht nur in besonderen Fällen zu fördern (wie zum Beispiel beim Schulbauprogramm der Gemeinde Wien), sondern generell und umfassend. Das hieße weiters, nicht nur einen bestimmten, eng gefaßten Kreis von engagierten Architekten zum Zug kommen zu lassen, sondern eine breite Palette. Erst dann kann eine Baukultur entstehen, die sich auch durch eine hohe durchschnittliche Qualität auszeichnet.

In der Realität ist es jedoch oft schwierig – gerade für junge Architekten –, die Spirale von Gutachterverfahren und Direktaufträgen zu öffnen. Manchmal kommt jedoch der Zufall ins Spiel – im übrigen eine Kategorie der Kunstproduktion, hier im Sinne eines ganz alltäglichen Moments –, so bei den Architekten Eva Ceska und Friedrich Priesner.

In den ersten Jahren ihrer Zusammenarbeit konnten sie für das Architekturbüro Ceska & Musil zwei Wohnprojekte planen und realisieren. In der Folge erhielten sie dann den direkten Auftrag der Genossenschaft „Schönere Zukunft“ für den Bau des Wohnhauses in der Braunhirschengasse.

Das Selbstverständnis der Genossenschaft zeigte sich dabei in der weitgehenden Freiheit, die den Architekten bei der Planung zugestanden wurde, natürlich nur unter Einhaltung des engen finanziellen Rahmens, der die Voraussetzung für die Wohnbauförderung darstellt. Die zugestandene Freiheit oder vielmehr das mangelnde Interesse bezog sich also auf die Planung und deren Qualität. Was aber zeichnet diesen Wohnbau nun aus?

Um bei seiner Funktion zu bleiben: die konzeptuell durchdachten und gleichzeitig wohnlichen Grundrisse. Dabei findet man in der schmalen Baulücke nur eine Wohnung pro Geschoß. Treppe und Lift liegen hinter dem durchgehenden Glasstreifen an der Straßenfront. Von hier betritt man den Vorraum, der ein Kabinett und die Küche an der Hofseite erschließt, außerdem den Wohn- und Eßraum in der Hausmitte, durchgehend von der Hof- zur Straßenfront und daher zweiseitig belichtet; vom Wohnraum geht man dann weiter in einen Zwischenflur, der links und rechts jeweils zu einem Zimmer führt, dazwischen liegt das Bad.

Ein Kennzeichen dieses Grundrisses ist der an den Wohnbereich anschließende Zwischenflur, der die Schlafräume mit dem Bad erschließt. Dieses Konzept verwendete Josef Frank bereits 1932 in dem von ihm geplanten Haus in der Wiener Werkbundsiedlung, später bezeichnete es Friedrich Achleitner als „amerikanischen Grundriß“.

Betrachtet man die einzelne Wohnung des neuen Baus in der Braunhirschengasse genauer, erkennt man eine frappante Ähnlichkeit zu jenem Haus von Josef Frank, auch wenn dieses ein freistehendes Einfamilienhaus ist. Die grundsätzliche Aufteilung der Wohnräume in der jeweils annähernd quadratischen Grundform gleicht sich. In beiden Fällen liegen Vorraum und Zwischenflur auf einer mittigen Querachse, sodaß die Bewegung zwischen beiden und die Achse des durchgehenden Wohnraumes eine Kreuzform ergeben.

Frank versetzte Vorraum und Flur jedoch leicht und knickte dadurch den Weg, eine kleine Irritation, ein kleines Detail; die Bewegungsachse wird zur Bewegungslinie. Diese Form der versetzten Gehlinie in der Querrichtung kann man auch bei Ceska/Priesner beobachten, wie das Photo des Wohnraumes zeigt. Die Bewegung trennt diesen außerdem in die unterschiedlichen Bereiche des Wohnens und Essens.

Ceska/Priesner modernisieren den Grundriß aber, zum Beispiel durch die Verwendung von raumhohen Glasflächen, die den Wohnraum zum Vorzimmer und zur Küche hin öffnen, und auch der Zwischenflur ist nur optisch durch eine mattierte Glasscheibe markiert. Vorraum und Küche ragen in den Wohnraum hinein, was die visuelle Öffnung zum Vorzimmer erst ermöglicht. Eine Wohnung dieser Art braucht natürlich eine „offene“ Haltung des Benutzers, eine grundsätzliche Vorliebe für Ein- und Durchblicke, für raumhohe gläserne Abtrennungen. Allgemeiner Zweck dieser Elemente ist es jedenfalls, im sozialen Wohnbau, also bei beschränkten Raumhöhen und Grundrißflächen, eine räumliche Weite zu erzeugen. Und tatsächlich: Trotz der Standardhöhe von 2,5 Metern wirkt der Wohnraum nicht gedrückt, auch wenn man die großzügigen Höhen eines Altbaus gewöhnt ist.

Zu dieser Raumwirkung trägt auch das große, bis zum Boden reichende Fenster im Wohnraum bei, das aus fixen und beweglichen Teilen besteht. Es weitet den Raum nach außen, ähnlich wie die Glastüren zum Balkon an der Hofseite.

Diese optische Vergrößerung ist auch und besonders bei den einzelnen kleinen Zimmern notwendig. Sie kommt zum Tragen, obwohl deren Fensterbrüstungen mit Eternittafeln abgedeckt sind und nur ein schmaler, vertikaler Glasteil bis zum Boden reicht. Zur psychologischen Vergrößerung der Räume trägt aber auch eine Irritation der Geometrie bei. Da die Grundform des gesamten Baus ein leicht verzogenes Quadrat, also ein Rhombus ist, sind auch die Räume kaum merkbar schräg.

Diese geometrische Ordnung überlagern die Architekten mit einer neuen Richtung, die im rechten Winkel zur Fassade steht. Besonders effektvoll wirkt dies im mittig gelegenen Wohnbereich, dessen eine Wand, die zur Küche hin, auf die Weise gleichsam schräg steht. Der Wohnraum verjüngt sich somit zur Hofseite, die im Ansatz barocke perspektivische Wirkung bedeutet eine leichte Dynamik und optische Verlängerung für den Raum. Eva Ceska und Friedrich Priesner studierten beide an der TU Wien, als Enddreißiger zählen sie noch immer zur jungen Generation der Architekten. Ihre architektonische Haltung zeichnet sich durch einen Pragmatismus aus, der in ästhetischer Hinsicht an die Moderne anschließt. Der Fenstertypus mit den verschiedenen, unterschiedlich gelagerten Teilen, das lapidare Vordach über dem Eingang, die von oben bis unten durchgehende, gerasterte Glaswand vor dem Stiegenhaus – das sind einzelne „moderne“ Elemente. Unübersehbar gleichzeitig die Abweichungen. Nicht nur die Materialien und Details unterscheiden sich (jede Zeit produziert eben ihre eigenen), auch die oben genannten Elemente. Die Stiegenhausverglasung ist wie zufällig und unregelmäßig unterteilt, und gegensätzliche Strukturen sowie Materialien sind in der Fassade bewußt collagiert. Diese Collage setzen die Architekten an der Rückseite des Hauses fort. Durch einen eingeschoßigen Bau, ein Atelier oder Büro, entsteht ein kleiner Innenhof, die Bewegung von der Straße wird durch eine halbkreisförmige Wand aufgefangen. Deren organische Form materialisiert sich auch in einem organischen Material, einem Sichtziegelmauerwerk.

Das Büro selbst ist dann völlig unorganisch, also weiß und geometrisch, mit einem offenen, zweigeschoßigen Raumteil in der Mitte, ein „weißes Architekturexperiment“ in Miniaturform. So entwickelt sich aus einer pragmatischen Haltung doch wieder eine spezifische architektonische Position, die Assoziationen in verschiedenster Richtung zuläßt. Die heterogene Collage, die Überlagerung von Richtungen, die teilweise kargen und spröden Materialien – all das hat Referenzen und führt doch zu einem eigenen Gestus der Architektur.

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