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Die Sechziger: War da was?
Spectrum

Klare Formen und die Verwendung von Stahlbeton kennzeichnen die Bauten der sechziger Jahre. In den Werken des Wiener Architekten Karl Mang zeigt sich der künstliche Stein mit Blähtonzuschlag von der freundlichen Seite.

22. Juli 1995 - Walter Zschokke
Die zeitliche Einteilung der Geschichte nach Jahrhunderten und Jahrzehnten ist ungenau und oft falsch, aber sie ist praktisch im Sinne einer vorläufigen Benennung. Zwar halten sich Epochen und Entwicklungsphasen nicht an runde Jahreszahlen, aber wenn man weiß, was darunter zu verstehen ist, bieten Jahrzehntbezeichnungen eine neutrale Chiffre für die grobe Strukturierung der jüngst zurückliegenden Kultur- und Kunstgeschichte.

Mit dem, was die fünfziger Jahre ausmachen könnten, hat man sich mittlerweile angefreundet. Das „Daisy-Service“ aus Lilienfelder Porzellan hat seinen festen Platz in zahlreichen privaten Sammlungen, und der Stadthallenstuhl von Roland Rainer findet wieder Produzenten und Abnehmer. Nun aber die sechziger Jahre, war da überhaupt etwas Nennenswertes los? Betrachten wir die Masse des Gebauten, so können wir feststellen, daß ein unbedarfter Bauwirtschaftsfunktionalismus vorherrscht, dessen Qualitätskriterien sich in einer vereinfachten, weil gewinnträchtigen baulichen Herstellung erschöpfen.

Wir treffen in dieser Zeit auf das Bauen mit vorgefertigten Elementen, vornehmlich aus Beton. Überhaupt fand dieses Material in den sechziger Jahren eine ungeheure Verbreitung, sodaß es den Menschen bald zuviel und der Beton zum Inbegriff des Unveränderlichen, zum Symbol einer fortschreitenden Naturzerstörung wurde. „Zubetonieren“ lautete ein vorwurfsvoll gemeintes Schlagwort, das aber bereits zu den siebziger Jahren gehört, denn die Sechziger waren noch unbedarft grenzenlos und hoffnungsfroh.

Für die sechziger Jahre steht beispielsweise die Kugelkopfschreibmaschine von IBM, ein technisches Wunderwerk, bei dem Typenwahl und Anschlag mit ein und demselben Teil erfolgte, eben jenem Kugelkopf, und das alles mit ungeheurer Genauigkeit und Schnelligkeit. Spätere Modelle trennten diesen Vorgang wieder. Der Typenradschreibmaschine fehlte allerdings das faszinierende Moment der Letternkugel. (Und wer redet heute noch von den Typenradschreibmaschinen, wo es Laserdrucker gibt!) Die sechziger Jahre dürften jedenfalls als die Kugelkopf-Zeit in die Geschichte eingehen, als Inbegriff eines Denkens, das die Probleme mit einer einfach wirkenden, technisch anspruchsvollen Lösung in einem einzigen Punkt fokussierte. So gesehen hätte dieser Zeitabschnitt 1969 mit der erstmaligen Landung von Menschen auf der Mondkugel bereits seine Erfüllung gefunden.

Aber, wird man sich fragen, was hat das alles mit Architektur zu tun? Spezifische Denkmuster treten in der Regel zeitgleich in allen gestalterischen Disziplinen auf. In der Architektur galt die Faszination klaren Formen wie Quadrat und Kreis oder Kugel, Buckminster Fuller und seine geodätische Kuppel für die Weltausstellung 1967 in Montreal gehören dazu, wobei die Großform der Kugel die komplizierte Detailkonstruktion überstrahlte.

Das Prinzip der Königsidee – der Lösung aus einem Punkt oder jener mit einem einzigen Material – scheint auch beim Material Beton beziehungsweise beim Verfahren Stahlbeton enthalten: Man baut eine Schalung, gibt die erforderliche Armierung hinein und gießt das Ganze aus. Fertig. So wurden zahlreiche Dutzendbauwerke errichtet, aber auch einige außerordentlich interessante, etwa das Seelsorgezentrum in Steyr-Ennsleiten der Arbeitsgruppe 4 (Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent und Johannes Spalt) und Johann Georg Gsteus, 1958 bis 1961, oder das Clima-Villenhotel in Wien-Nußdorf von Ernst Hiesmayr, 1966. Bei diesen beiden Projekten ging die Plastizität des Baumaterials vor dem Erhärten in der plastischen Wirkung des fertigen Bauwerks und seiner Teile auf.

Aber die einschichtige Betonwand hat bauphysikalisch betrachtet schwache Wärmedämmwerte und fühlt sich kalt an. Hier hat der Wiener Architekt Karl Mang zusammen mit seiner Partnerin, Eva Mang-Frimmel, Pionierarbeit geleistet, indem er zwei Bauwerke aus Leca-Beton errichtete: eines als Atelierkomplex für die oberösterreichische Künstlerin Lydia Roppolt, das andere für sich selbst. Bei dieser Bauweise wird dem Zement-Wasser-Gemisch – statt Kies und Sand – Blähton in verschiedenen Kornabstufungen beigemischt. Allerdings ist die Verarbeitung anspruchsvoll. Ist ein handwerklich perfekter Sichtbeton schon schwer zu bekommen, wächst bei Leca-Beton die Gefahr von Kiesnestern; und wenn zu lange verdichtet wurde, geht der Dämmeffekt verloren. Aber der Ertrag einer sorgfältigen Arbeit ist die einschichtige, Masse bedeutende Wand aus Beton mit klassischer Sichtbetonoberfläche, „frisch aus der Packung“, aber darüber hinaus wärmedämmend und oberflächenwarm.

Karl Mang ist der Architekturpublizistik nicht unbekannt. 1922 geboren, wurde sein Architekturstudium vom Krieg durchkreuzt. In dieser Zeit konnte er dennoch auf seinen Patrouillen mit Schiern in Finnland tiefe Landschaftserfahrungen sammeln. Es folgte eine schwere Verwundung. In der Genesungszeit belegte er ein Semester an der Technischen Hochschule Wien; schließlich mußte er noch einmal einrücken. Danach folgten das Studium und eine Assistentenzeit bei Friedrich Lehmann. Mang gehört daher nicht zur Holzmeister-Schule, die in Wien wesentlich wurde. Ein längerer Romaufenthalt mit kargem Stipendium ermöglichte ihm eine räumliche und inhaltliche Befreiung. Neben weiterer Lehrtätigkeit publizierte Karl Mang die Resultate seiner Forschungen in Buchform: „Die Geschichte des modernen Möbels“ und „Thonet Bugholzmöbel“.

Auf großes Interesse stieß die von Mang initiierte Ausstellung über die Shaker, die er zusammen mit Wend Fischer für die Neue Sammlung München erarbeitete und die an mehreren Orten gezeigt wurde, darunter auch im Centre Pompidou und in anderen renommierten Museen. Später war es die Ausstellung „1800 bis 1900 – Moderne Vergangenheit“, in der die Kontinuität einer einfachen und unaufgeregten Architektur für Europa nachgewiesen wird. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Shakerkultur und mit den einfachen Bauten bürgerlich-klassischer Tradition sowie Reiseerfahrungen in Japan ließen bei Karl Mang das Engagement für eine „Architektur der Stille“ heranwachsen.

Dafür sind die beiden Leca-Betonbauten ausgezeichnete Beispiele: Das Atelierhaus Lydia Roppolt entwickelt sich, ausgehend von einem ländlichen Haus aus der Zeit der Jahrhundertwende, den sanft abfallenden Wiesenrain hinunter. Als erstes liegt linker Hand in nächster Nähe das Volumen einer Garage, dann rechts ein zweites Volumen mit einem minimierten Wohnteil und als Abschluß ein drittes mit dem Atelierraum. Die Pultdächer auf den quadratischen Grundrissen steigen wechselnd von links und rechts zu Weg und Entwicklungsachse in der Mitte an. Der Boden des Ateliers liegt sechs Stufen tiefer, die gefühlsmäßige Beziehung des oberen Volumens setzt, ausgehend von der Augenhöhe eines Menschen, in der Hälfte des unteren, fast kubischen Volumens an. Man erhält daher zuerst einen Überblick, bevor man in den Hauptraum eintaucht.

Im Garten stehen die in den drei Jahrzehnten gewachsenen Bäume nahe an den klaren Baukörpern, der Rasengrund stößt an den Sichtbeton, der die Maserungen der Schalbretter zeigt. Er ist in bestem Zustand. Dieselbe Oberflächenqualität finden wir auch auf der Innenseite, natürliches Zementgrau dämpft das Licht wie in einer Natursteinhütte im Alpenraum. Der künstliche Stein spielt seine bergende Kraft aus, die Öffnungen wirken wie herausgeschnitten; präzis stellen sie mit Ausblicken die Beziehung zum Umraum her.

Es ist eine ruhige, eindeutige Architektur, die sich auf das theoretisch einfache Verfahren des Leca-Betons stützt. Wenige, unkomplizierte Details reichen aus; der künstliche Stein zeigt sich von der freundlichen Seite. Diese Art von Harmonie gehört noch in die Zeit vor der kritischen Schwelle 1968/1973, nach der die „grenzenlosen“ sechziger Jahre aus und vorbei waren.

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