nextroom.at

Artikel

26. Dezember 2024 Spectrum

Was kann eigentlich recyceltes Aluminium besser?

Die Designerin Inga Sempé ist für ihre kritische Haltung bekannt, sie baut auf die vertrauensvolle Koproduktion mit Firmen. Für einen Alu-Hersteller hat sie erstmals mit wiederverwen­detem Aluminium gearbeitet. Wurde ihr Vertrauen enttäuscht?

Aluminium ist ein wichtiger Werkstoff in Architektur und Design – aber ist es auch zukunftsfähig? Und wie sieht es mit seiner Recyclingfähigkeit aus? Ein Blick in den „Atlas Recycling. Gebäude als Materialressource“ (2021) beruhigt vorerst hinsichtlich der Verfügbarkeit des Materials: Aluminium ist das in der Erdkruste am häufigsten vorkommende Metall. Eine Verknappung wie bei anderen Rohstoffen ist demnach nicht zu befürchten. Die Produktion von neuem (virgin) Aluminium erfordert den Aufschluss von Bauxiterz mit Natronlauge, dabei fällt giftiger Rotschlamm als Abfallprodukt an.

In der Vergangenheit war das Ablassen von Rotschlamm in Flüsse oder ins Meer ein durchaus gebräuchliches Abfallszenario. Die Umweltauswirkungen müssen nicht weiter ausgeführt werden, man denke nur an die Naturkatastrophe, die in Brasilien der Dammbruch von Bento Rodrigues 2015 ausgelöst hat, bei der Millionen Kubikmeter Giftschlamm Dörfer und Umwelt zerstörten. Der Rotschlamm wird in abgedichteten Becken gesammelt, die Natronlauge wiederverwendet. Und es wird zumindest versucht, Feststoffe im Rotschlamm für die Zementindustrie, die Stahlproduktion, den Straßenbau und die Baustoffindustrie zu nutzen – doch ist das ein verschwindend geringer Prozentsatz.

Kein Verbrennen oder Deponieren

Kreislaufwirtschaft stellt man sich anders vor. In Aluminiumhütten wird dann durch Schmelzflusselektrolyse Reinaluminium hergestellt; dass dafür einiges an elektrischer Energie nötig ist, hat sich schon herumgesprochen. Je nach Stromgewinnung hat das Endprodukt dann einen größeren oder kleineren CO2-Fußabdruck.

Es ist nur eine Mutmaßung, aber vielleicht ist die „Vorgeschichte“ von Neualuminium nicht so attraktiv zu erzählen – lieber redet man doch über Recycling. Betrachtet man die österreichische Kreislaufwirtschaftsstrategie, ist Recycling das Zweitdümmste, was man machen kann. Nur Verbrennen ist dümmer, das funktioniert aber mit Aluminium nicht. Deponieren wäre eine ähnlich sinnlose Alternative. Also bleiben wir beim Recycling von Aluminium. Wie bei Stahl gibt es auch hier verschiedene Legierungen, die bestimmte Verarbeitungseigenschaften ermöglichen.

Gebäudeabrisse erinnern an Bergwerke

Aluminium für Fensterprofile haben eine andere Zusammensetzung als das Fußkreuz eines Bürodrehstuhls oder eine Getränkedose. Aus dem Fußkreuz eines Designklassikers aus den 1950er-Jahren wird weder eine moderne Aluminiumfassade des 21. Jahrhunderts noch eine Verpackung für Bier oder Softdrinks. Das liegt nicht am Materialalter, sondern an der Legierung. Die Stadt als Rohstofflager oder Bergwerk war einmal so ein geflügeltes Wort, als die Architektur die Kreislaufwirtschaft in ihre Überlegungen einbezog. Der Abriss von Gebäuden erinnert tatsächlich an Bergwerke, wo unfassbare Materialmassen mit übergroßen Maschinen abgebaut werden. Das, was man eigentlich an Rohstoffen verwendet, ist oft nur ein Bruchteil der abgebauten und bewegten Materialmenge.

Aus Sicht von Konsument:innen ist beim Kauf eine klare und einfache Botschaft gefragt, etwa: „Aus 100 Prozent Rezyklat“ oder „Aluminium ist unendlich oft rezyklierbar“. Es macht ein gutes Gewissen, dass hier alle Probleme der Kreislaufwirtschaft gelöst sind. Letztere Aussage ist wohl mathematisch richtig, denn wenn man von 100 Prozent immer zehn Prozent abzieht, bleibt auch nach mehrmaligem Abziehen noch etwas übrig. „90 Prozent des Aluminiums wurden aus Bau und Transport wiederverwendet“, liest man in einem Bericht der Europäischen Interessenorganisation der Recyclingwirtschaft EuRIC. Man liest allerdings auch, dass der Bedarf an Aluminium bis 2050 um 50 Prozent steigen wird.

Stellt man sich ein Aluminiumprofil mit einem Meter Länge vor und schneidet man immer zehn Prozent ab (= Recyclingrate), nach wie vielen Schnitten ist weniger als die Hälfte des Profils übrig? Nach sieben Schnitten. Die Kurve nähert sich dann etwas langsamer dem Nullpunkt an, Aluminium ist ja unendlich oft wiederverwendbar. Bei der Rechnung wurden nicht einmal die schwindenden Eigenschaften des Sekundär­aluminiums berücksichtigt, die durch derzeit noch schwer entfernbare Störstoffe in der Schmelze auftreten.

Ein nordischer Aluminiumhersteller hat bei der Milan Design Week im April 2024 das außerordentliche metallurgische Kunststück vollbracht, Aluminiumprofile aus 100 Prozent wiederverwendetem Aluminium zu präsentieren. Das alchemistische Projekt, das aus Aluminiumschrott „makellos aussehende Designobjekte“ zauberte, bediente sich einer handverlesenen Runde von sieben „weltbekannten Designschaffenden“, die aus der „sehr speziellen Legierung“ Möbel oder andere kleine Designobjekte erschaffen sollten. Die Objekte sollten monomateriell, leicht zerlegbar und rezyklierbar sein. Als übergeordneter ästhetischer Ausdruck wurden die Objekte mit bunten Eloxalschichten überzogen.

Warum ist ein Stuhl „grün“?

Der Recyclingatlas bestätigt den konstruktiven Ansatz des Projektes, zeigt aber auch, dass der Oberflächenschutz aus organischen Beschichtungen gewählt werden sollte, da diese beim Einschmelzen besser entfernt werden können. Es entstehen zwei kleine Tischleuchten, die ohne Not schwer rezyklierbaren Elektronikschrott in das Recyclingszenario einbringen. Wäre eine Blumenvase oder ein Stifthalter nicht besser gewesen?

Die Rolle von Design und Architektur im Greenwashing ist äußerst problematisch. Das beginnt mit wundersamen Narrativen, warum ein Haus, ein Stuhl oder eine Verpackung grün oder nachhaltig wäre. Hintergrund für das wohlwollende Aufnehmen der Geschichten ist eine unzureichende (Aus-)Bildung, die auch die Jahre nach dem offiziellen Bildungsabschluss einschließt. Der Echoraum des Greenwashing wird durch uniformierte Berichterstattung in Fachzeitungen, Design- und Architekturblogs aufrechterhalten und verstärkt. Gut gemachte Presseaussendungen, schöne Bilder und berühmte Designschaffende, wissenschaftliche Erkenntnisse und Studien erzeugen ein Klima des Wohlwollens.

Selbstüberschätzung von Designschaffenden

Inga Sempé ist für ihre reflektierte Art gegenüber dem Designzirkus eine respektierte Persönlichkeit, die dem Geniekult und der Selbstüberschätzung von Designschaffenden mehr als kritisch gegenübersteht. Sempé hatte bis zu dem Projekt keine Erfahrung mit Aluminiumprofilen. Ihr Credo ist das vertrauensvolle Zusammenarbeiten mit guten Firmen. Wurde dieses Vertrauen hier enttäuscht? Auf ihrer Homepage findet sich das Projekt jedenfalls nicht.

Zum Schluss noch einmal die Umweltvorteile von Sekundäraluminium: ein um 92 Prozent reduzierter CO2-Fußabdruck und eine Energieeinsparung von 95 Prozent gegenüber Rohaluminium sowie die Einsparung von acht Tonnen Bauxit, 14.000 Kilowattstunden Ener­gie und 7,5 Kubikmeter Deponiematerial pro Tonne Sekundäraluminium gegenüber Rohaluminium. Das im Designprojekt verwendete 100 Prozent rezyklierte Aluminium ist bisher nur „sehr limitiert“ verfügbar. Über den Preis herrscht auch nach Nachfrage bei der Presseabteilung Stillschweigen.

27. September 2024 Spectrum

Vienna Design Week: Mit dieser Maschine wird keine Wäsche gewaschen

Funktionalismus, neu definiert: eine Waschmaschine, die nur so aussieht, aber nicht so arbeitet. Dieses Designobjekt könnte die mentale Gesundheit fördern, indem es den Blick auf die beruhigende Glastrommel lenkt – wie einst die Lavalampe.

Die diesjährige Vienna Design Week empfängt ihre Gäste in dem von Artec Architekten (Bettina Götz und Richard Manahl) geplanten Gürtelbogen. Der 320 Meter lange, dem Landstraßer Gürtel entlanglaufende Bau wurde als Pioniergebäude des „Village im Dritten“ im Edelrohbau für das Designfestival temporär vor dem Erstbezug zur Verfügung gestellt. Damit wird dem Verwertungstypus Zwischennutzung eine neue Facette hinzugefügt, die es ermöglicht, das Gebäude in seiner konstruktiven Klarheit aus Fertigteilen zu erleben.

Das Gebäude wird nach Übergabe Geschäfte, Dienstleistungsbetriebe und Büros aufnehmen. Vom Dach aus kann der Baufortschritt des neuen Quartiers verfolgt werden, während im Inneren ein Blick auf die Designszene, Designfirmen und kuratierte Ausstellungsformate geworfen werden kann.

Designfestivals wie dieses bieten die Möglichkeit und regen gleichzeitig dazu an, auch abseits der Verwertungslogik entstandene Designprojekte zu präsentieren. Als prominentestes Beispiel zeigt Ikea die drei Schlafzimmerkonzepte „Dare to Dream“, die aus einem Open Call ausgewählt wurden.

Anfangs irritiert das Objekt

Gleich neben Ikea präsentiert sich das Projekt „Is Ok It?“, das von Lena Beigel, Georg Sampl und Tobias Lugmeier konzipiert wurde. Die drei Designschaffenden haben in internationalen Designstudios gearbeitet und kennen den Designzirkus und seine Logiken. Dass dieser Erfahrungshintergrund nicht ganz in ihre zukünftige Vision von Designschaffen passt, macht das von Tobias Lugmeier gestaltete Designobjekt „Spa Machina 1“ (2024) klar. Das Objekt, das wie das Innere einer Waschmaschine ohne weißes Blechkleid dasteht, irritiert zuallererst.

Da sind konstruktive Elemente, welche aus dem Referenzobjekt kommen, wie ein Rahmen, eine gefederte Aufhängung und ein Riemen, der zu einem Antrieb führt. Der Rahmen ist aus gebogenem Rohr und erinnert an Stahlrohrgestelle der Moderne, eine Zeit, in der industrielle Fertigungstechniken aus dem Flugzeugbau am Bauhaus in Dessau von Mart Stam zu disruptiven Freischwingern und anderen Möbeln uminterpretiert wurden. Kontrastiert wird das durch die handwerkliche Ausführung der Trommel, welche von Glasbläsern in Tschechien in rosa Glas ausgeführt wurde. Die Bewegung der Trommel erinnert unweigerlich an den Betriebszustand von Waschmaschinen, nachdem sie das Ende des Waschvorgangs mit einem Piepton signalisiert haben. Sie steht still, dann bewegt sie sich ein wenig, dann wieder Pause.

Die banale Weißware hat Potenzial

In der Trommel der „Spa Machina 1“ liegt jedoch keine Wäsche, es gibt auch keine Tür, um welche hineinzulegen, und auch keinen Griff. Drinnen ist ein wenig Wasser, das mit den Umdrehungen der Trommel die Lichtreflexe verstärkt, die von einem Leuchtring an der Hinterseite des Glaszylinders kommen. Der Antrieb des kinetischen Objektes ist ein abstrakter Zylinder, der keinerlei Bedienelemente aufweist. Der gestalterische Aufwand in der Abstraktion der Waschmaschine ist offenkundig und zeigt, dass die banale Weißware jenseits der Internetanbindung noch erheblichen Innovations- und Gestaltungsspielraum besitzen würde.

Es geht aber nicht nur um die Banalität der Massenwaren unserer Konsumkultur, sondern auch um den Designprozess. Die Digitalisierung hat den Designprozess entfremdet. Deshalb plädiert dieses Designprojekt für eine „ideale Profession“, in der Handwerklichkeit, ein anderes Narrativ, Sorgfalt in der Detaillierung und die Eigenproduktion des Prototyps die Hauptrollen spielen. In industriellen Entwicklungsprozessen werden allzu schnell ambitionierte und unangepasste Ideen beiseitegeschoben. Prototypen wie diese könnten zu disruptiven neuen Lösungen führen – ästhetisch wie funktional. Das Funktionale wird in diesem Fall vom Wäschewaschen weg hin zu einer anderen Funktion geführt: mentale Gesundheit zu fördern. Man stelle sich das Objekt im Wohnzimmer vor, das die Blicke magisch vom Social-Media-Konsum am Mobiltelefon weg auf die beruhigende, fast ein Eigenleben führende Glastrommel lenkt, als wäre es die Lavalampe für das 21. Jahrhundert.

Zieht man jedoch den Aufwand in Betracht, der hinter dem Projekt steht, handelt es sich hier eher um einen Hilfeschrei des Designs nach einer Neudefinition des Funktionalismus als um eine therapeutische Lösung. Und doch könnte es neue Alltagsrituale geben, die das Wäschewaschen und mentales Wohlbefinden als gleichwertige menschliche Bedürfnisse und Routinen integrieren. Vielleicht löst die Designkategorie Waschmaschine in Zukunft die Stühle ab, die in jedem Designmuseum alle anderen Alltagsgegenstände überstrahlen. Die Sesselregale müssten vielleicht nicht einmal umgebaut werden, um dem zukünftigen Waschmaschinenklassikern Platz zu machen. Es zeigt sich, dass es in dieser Arbeit auch um neue, unterrepräsentierte Themen und deren Verhandlung gehen soll.

Welche Werkzeuge haben ausgedient?

Diskursiv passt dazu die Arbeit einer noch jüngeren Generation von Gestalterinnen und Gestaltern, die unter dem Kollektivnamen Design Revolution Now! das gängige und angepasste Denken der Disziplin herausfordert. Die Gruppe formierte sich auf der Universität für angewandte Kunst und besteht aus Mitgliedern unterschiedlicher Studienrichtungen.

Die Vienna Design Week gab der Gruppe unter dem Format „Debüt“ eine Carte blanche. „A Designer’s Toolbox for Revolution“ stellt herkömmliche Praktiken des Designs infrage und präsentiert neues „Werkzeug“. Als ausgedientes Werkzeug führt das Kollektiv die ignorante Ressourcennutzung, grüngewaschene Konventionen, Problemverschiebung durch Externalisierung von Arbeit, Produktion und Umweltschäden und die Selbstüberschätzung der Designschaffenden an. Vor allem letztere Erkenntnis ist wertvoll, denn noch immer glauben Designschaffende, die Lösung zu haben und anderen vorschreiben zu können, wie Verbesserung geht. Dieses Fortschrittsnarrativ wird als zerstörerischer, kapitalistischer Rückschritt enttarnt, der die Realität der Menschen von oben herab formen will.

Als zukunftsfähig werden ehrliches und empathisches Geschichtenerzählen, der Einsatz von handwerklichem Können und das Entwerfen in größeren Systemen, die Menschen, Objekte, Pflanzen und Tiere einschließen, aufgeführt. Während die Revolution als Überschrift Gewalt und Anführer assoziiert, wählen die Studierenden eine fragile und verletzliche Revolution. Diese junge Generation von Designschaffenden ist in eine Welt geworfen, in der sie der eigenen Fehlbarkeit gewahr wird und nicht mehr an die heroische Rolle von Design glaubt, das die Welt verändert.

Noch Generationen vor ihnen war der Glaube an Autorschaft, Glamour und Designzirkus so stark, dass der Blick auf die wirklich wichtigen Aufgaben des Designs vernebelt war. Diese Erkenntnis müsste allerdings auch in die Ausbildungsstätten zurückwirken. Theorie und Praxis müssen stärker verwoben und neue Orte des Experiments geschaffen werden. Das Unbehagen im Design braucht eine breite Öffentlichkeit und mutige Akteure, die von den gewohnten Wegen abweichen, neue Koalitionen bilden und zukunftsweisende Wege aufzeigen. Die Designgeschichte wird nicht linear weitererzählt werden. Das Bild, die Rolle und der Wirkungsbereich von Designschaffenden werden gerade generationenübergreifend hinterfragt und neu definiert.

26. Juli 2024 Spectrum

Der neueste Bau-Trend: Ziegel aus lokalem Abfall

Wie gelingt Kreislaufwirtschaft? Indem man zum Beispiel Ziegel aus regionalen Abfallmaterialien herstellt: aus Lehm von der U-Bahn-Baustelle, Biertreber oder Carbokalk (Kalkdünger) aus der Zuckerrübenproduktion, Holzwollresten oder Backmehl.

Das Kürzel BFV prangt auf dem ungebrannten Lehmziegel der Biofabrique Vienna. Damit reiht sich ein neuer Ziegel in die Geschichte der Ziegelproduktion in Wien ein, die eine lange Tradition hat. Die besondere geologische Situation Wiens mit seinen tonreichen Geländeterrassen rund um die Stadt ermöglichte den Betrieb von Ziegeleien von der Römerzeit bis ins 16. Jahrhundert. Die Bautätigkeit nahm damals stark zu; für die Stadtbefestigung, den Ausbau der Hofburg und den Bau von Bürgerhäusern wurde ein billigerer Baustoff als Stein gebraucht.

Im 18. Jahrhundert ließ Kaiserin Maria Theresia auf dem Wienerberg die erste staatliche Ziegelei errichten – die Stadtmauer musste verbessert, Linienwälle mussten errichtet werden. Mit der Industrialisierung der Ziegelproduktion im 19. Jahrhundert entstanden prekäre Arbeitsverhältnisse, es gab Seuchen, Kinderarbeit und erste Umweltprobleme. Der Wiener Industrielle Heinrich Drasche besaß Mitte des 19. Jahrhunderts neun große Ziegelfabriken mit über 4700 Beschäftigten. Um Energie für das Brennen der Ziegel zu gewinnen, betrieb er außerdem 30 Kohlebergwerke, in denen rund 2300 Bergleute arbeiteten.

Biofabrique Vienna

Die größte Ziegelfabrik Europas produzierte im Jahr 1862 130 Millionen Stück Ziegel. Die Ringstraßenbauten, das Arsenal sowie die Semmeringbahn sind prominente Bauwerke aus Wiener Ziegel. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Ziegel auf dem Wienerberg produziert, doch langsam erschöpften sich die Ressourcen, die Produktion wurde unrentabel. Die Lehmgruben wurden von der Stadt Wien erworben und als Deponien für Bauschutt und Hausmüll verwendet.

In den 100 Tagen der Klima Biennale Wien haben Studierende der TU Wien (Institut für Architektur und Entwerfen/Gebäudelehre und Entwerfen) ein neues Kapitel des Wiener Ziegels aufgeschlagen: in der Biofabrique Vienna. Sie ist ein Pilotprojekt der Wirtschaftsagentur Wien und des Ateliers Luma aus Arles. Die Partner haben basierend auf dem bioregionalen Designansatz des Ateliers eine Methode entwickelt, um aus nicht genutzten lokalen Ressourcen in Wien Materialien für Architektur und Design zu entwickeln. Eines der bearbeiteten Themenfelder der Biofabrique enthielt das Projekt „Material Assemblies“, das von den Mentoren Benedetta Pompili, Hannah Segerkrantz und Thomas Amann betreut wurde, die sich mit dem Thema Lehmziegel befassten.

Das Geschäftsmodell fehlt noch

Das Projekt war in vier Phasen gegliedert: Phase 1 diente dem Sammeln und Kartografieren. Hier wurde ein Kreisdiagramm verwendet, das zeigte, wie weit jene Partner, mit denen zusammengearbeitet werden sollte, vom Standort der Biofabrique Vienna entfernt waren. So sollten eigentlich alle Designprozesse starten, die der bioregionalen Logik folgen.

In Phase 2 besuchten Studierende beispielsweise eine U-Bahn-Baustelle, bei der eine eher kleinere Bohrung 15 Tonnen Lehm pro Stunde an Aushub produziert. Ein Lastwagen fährt damit jede Stunde zur Deponie, dem Abfallwirtschaftsgesetz Folge leistend. Es wurden einige Kübel Lehm mitgenommen, um mit dem Material zu experimentieren und Wissen aufzubauen.

In Phase 3 entstanden erste Ziegelmuster. Dabei wurde auch mit überraschenden ­Zutaten gearbeitet – wie Biermaische (Adobe Brick) oder Carbokalk, einem Abfallstrom aus der Zuckerrübenproduktion, der als Kalkdünger veredelt ist. Bestandteil des Rezepts für den organischen „Carbo Wood Wool Brick“ sind Holzwollabfälle einer Zimmerei oder nicht mehr verwendbares Mehl aus der Backindustrie.

In Phase 4 erfolgten die Dokumentation und gerade noch laufende Werkstofftests. Die Herausforderung der Kreislaufwirtschaft, Stoffströme sektorübergreifend umzuleiten, wird somit mustergültig umgesetzt.
Ergebnisse bei der Vienna Design Week im September

Was noch fehlt, ist das Geschäftsmodell. Denn warum sollen Rohstoffe an einen anderen Industriezweig verschenkt werden? Das Projekt erprobt einen notwendigen Paradigmenwechsel im bioregionalen Entwurfsprozess in Design und Architektur: durch den Aufbau und die Nutzung lokaler Wissens- und Ressourcennetzwerke, Werkstoffforschung parallel zum Entwurfsprozess und den Umgang mit nicht normierten Werkstoffen, die für jede Anwendung erst untersucht werden müssen, etwa Lehm.

Das belgische Architekturbüro BC Architects & Studies & Materials hat sich pionierhaft diesen Herausforderungen gestellt, produziert selbst Lehmziegel, macht Materialforschung, lehrt an Universitäten und baut. In Paris wurden im Projekt „Cycle Terre“ aus dem Aushub einer neuen Pariser Métro-Linie in einer Fabrik vor Ort in einem Jahr rund 120.000 Lehmziegel, 800 Tonnen Lehm(putz)mörtel sowie 500 Tonnen Stampflehm hergestellt. In Brüssel betreibt BC eine eigene Stampflehm- und Lehmziegelfabrik mit lokalen Lehmressourcen.

In Wien hatte Thomas Amann auf seiner Besorgungsliste für die gerade angelaufene erste größere Ziegelproduktion der Biofabrique Vienna Folgendes stehen: zwei Tonnen Wiener-Linien-Lehm, 1,5 Tonnen Carbokalk, 1,5 Tonnen Ziegelsand, drei Big Bags mit Holzwolle und 800 Kilogramm Biertrebern. Daraus sollen in zwei Wochen mit 20 Studierenden der TU Wien mindestens 1000 Ziegel produziert werden, die vom Studio Dreist im September im Rahmen der Vienna Design Week mit anderen Ergebnissen der Biofabrique vorgestellt werden.

„Ideen sind leicht und können reisen“

Das Österreichische Institut für Baubiologie und -ökologie (IBO) hat in einem jüngst erschienenen Artikel zum Lowtech-Baustoff Lehm auf dessen baubiologische Vorteile, Zirkularität und den signifikant geringeren CO2-Fußabdruck hingewiesen. Es gibt aber auch Hindernisse wie Skepsis und uniformierte Vorbehalte in der Baubranche. Die technischen Werte wie etwa die Druckfestigkeit des BFV-Ziegels sind jenen eines gebrannten Ziegels unterlegen – macht aber nichts, wenn man ihn statisch richtig einsetzt, wie zum Beispiel als Zwischenwand. So kann bei Bauwerken die Ökobilanz beträchtlich verbessert werden; obendrein erhält man ein gesundes Raumklima sowie einen guten Wärmespeicher. Laut DIN 18940 können Lehmbauwerke eine Gebäudehöhe von 13 Metern erreichen, und so zeigt sich das Potenzial für Größeres.

Die BFV-Ziegel werden gerade in den Prüflabors der TU Wien auf ihre Festigkeit getestet, das IBO überprüft Ziegel mit biologischen Ingredienzien. Es braucht jetzt Anstrengungen, den regionalen Baustoff Lehm von der Deponie zum lokalen Baustoffhändler zu bekommen. Das Prinzip der Lokalität ist das Grundprinzip der Natur und des regenerativen Bauens. Elisabeth Noever-Ginthör von der Wirtschaftsagentur Wien fasst die Philosophie der Biofabrique Vienna so zusammen: „Materials are heavy and should stay local, ideas are light and can travel.“

Es bleibt zu hoffen, dass die Begeisterung der Studierenden auf die Architekturschaffenden, die Bauwirtschaft und die Stadt Wien übergreift, um aus der Inspiration dieses Pilotprojekts eine neue, bioregionale Baukultur nachhaltig zu etablieren und langfristig zu unterstützen.

19. Juli 2023 Spectrum

Gefiederte Mieter in der Stadt: Brutplätze für Mauersegler

Mauersegler finden ihre Nistplätze in nicht ausgebauten Dachböden und ungedämmten Fassaden, doch die werden immer weniger. Architektur, Kunst und Design arbeiten zusammen, um den Lebensraum der Vögel zu sichern.

Von Ende April an sind grelle Vogelrufe in Wien zu hören. Sie stammen von Mauerseglern (Apus apus), die mit bis zu 200 km/h in kleineren Schwärmen Insekten jagen. Ihr Flugstil ist akrobatisch: schnelle Richtungswechsel, Tiefflug über Häuserdächer oder entlang von Fassaden, Gleitflug, kurzes Flügelschlagen – schon schrauben sie sich wieder bis zu 3000 Meter in die Höhe. Ein Tier, das fast immer in der Luft ist, auch im Schlaf. Bis zu 800 Flugkilometer legen die Vögel in der Brutzeit pro Tag zurück.

Birdlife Österreich beziffert die Population auf 25.000 bis 50.000 Brutpaare in Österreich, Wien beherbergt ein Fünftel. Als Naturschutzbehörde des Bundeslandes Wien setzt sich die Umweltschutzabteilung (MA 22) für den Schutz dieser Vogelart ein und hat in einem Citizen-Science-Projekt, d. h., in Zusammenarbeit von Zoologen mit der Bevölkerung, mehr als 2000 Brutplätze der Mauersegler in einer digitalen Karte kartografiert. Neben den Mauerseglern gibt es auch Brutplätze und Nisthilfen von Dohlen, Mehlschwalben, Rauchschwalben, Turmfalken und Fledermäusen zu entdecken.

Mauersegler sind Kulturfolger, die sich von ihrer ursprünglichen Behausungssuche in Felswänden an die Gegebenheiten der Stadt angepasst haben. Dort finden sie in nicht ausgebauten Dachböden und kleinen Maueröffnungen ihre Nistplätze, die sie über viele Jahre immer wieder aufsuchen. Wie in der Luft bevorzugen die Vögel auch beim Nisten die Nähe anderer Brutpaare. Die Brutplätze sind nicht einfach auszumachen, da die Mauersegler sie sehr schnell anfliegen, um in sehr kleinen Öffnungen plötzlich zu verschwinden.

Wer bezahlt den Einbau?

Werden Fassaden gedämmt oder Dachgeschoße ausgebaut, gehen diese informellen „Sommerwohnungen“ der Vögel verloren. In Wien schreitet dann die Umweltbehörde ein und verpflichtet die Hauseigentümer, die Nistplätze wiederherzustellen und den Umbau außerhalb der Brutzeit durchzuführen. Der Mauersegler ist durch das Wiener Naturschutzgesetz geschützt – es dürfen keine Nester zerstört werden. Naturliebende können allerdings jederzeit gern neue Nistmöglichkeiten schaffen.

Für die Neuerrichtung von Mauersegler-Wohnungen gibt es zahlreiche Lösungen; ­­­die meis­ten können nahezu unsichtbar in die Architektur integriert werden. In Zusammenarbeit von Zoologen und der Architekturfachplanung wurden so viele neue Behausungen geschaffen. Die herrschaftlichste nennt sich „Wiener Modell“ und befindet sich gut getarnt in den Zierkonsolen der Altbauten unter dem Gesimse. Das Zierelement hat eine vier mal sechs Zentimeter große Öffnung und ist so die perfekte Altbaustadtwohnung der Mauersegler. Die Wiener Stuckmanufaktur stellt die Öffnung sogar ohne Aufpreis her, der Einbau dauert etwa eine Stunde für fünf solcher Nistplätze. Nicht so kostengünstig wird es, wenn die Mietwohnung der Vögel im Rahmen einer thermischen Sanierung in die Fassade integriert wird. In der Beispielsammlung „Bauen für Wildtiere“ werden mehrere Lösungen vorgestellt, die zeigen, wie komplex die Umsetzung ist. Wer initiiert das Projekt? Werden Umweltsachverständige zugezogen? Sollen die Nistplätze unsichtbar sein oder dekorativ in die Fassade integriert? Wer bezahlt den Einbau? Bei thermischer Sanierung von Fassaden kann der Brutkasten in die Dämmung eingebaut werden, dann bleibt nur das kleine Loch für den Einflug sichtbar.

Ein Wiener Vogelhotel, das den geschützten Tieren maximale Sichtbarkeit verleiht, entstand im Zuge des „Calle Libre“-Festivals in der Burggasse durch den Künstler Crazy Mister Sketch. Das Graffito mit Mauerseglern beherbergt 22 Nistkästen und wurde im Jahr 2020 zum Thema „Die perfekte Zukunft“ geschaffen: „Das Bild zeigt drei Mauersegler bei der Landung. Ein bedeutsamer Moment, denn er findet nur selten außerhalb dieses Ortes statt – Mauersegler verbringen die meiste Zeit ihres Lebens in der Luft. Die etwas düstere Kulisse der Stadt ist vom Film noir und der industriellen Revolution inspiriert und symbolisiert das menschliche Element. Sie ist abstoßend, gefährlich und wenig einladend für die Tiere. Und doch sind Arten wie der Mauersegler in solchen Umgebungen zu finden. Es findet eine Art Zweckentfremdung statt. Dies führt zu einer unwahrscheinlichen Koexistenz, die für die Zugvögel gut funktioniert, auch wenn sie von den Menschen nicht vorhergesehen wurde. Trotz des erwähnten unfreiwilligen Elements könnte dies als Symbol für zukunftsorientiertes Denken dienen – in einer perfekten, utopischen Zukunft könnten Architektur, Kunst und andere Aspekte bewusst auf eine solche Koexistenz hingearbeitet werden.“

Vögel scheren sich wenig um die Semantik der Arbeit

Architektur und Design könnten sich der Herausforderungen von Artenschutz und der Koexistenz von nicht humanen Bewohnern unserer Städte noch mehr annehmen. Als Friedensreich Hundertwasser vor 50 Jahren während der Triennale in Mailand 15 Bäume in Wohnungen als „Baummieter“ installierte, machte er auf die Rechte der Natur und eine gewinnbringende Koexistenz mit der Natur auf poetische Weise aufmerksam. Dieser Diskurs muss wieder aufgegriffen werden: vom „Human Centred Design“ zu einer Designhaltung, die Natur und nicht menschliche Lebewesen als „Auftraggeber“ und „Mieter“ berücksichtigt. Das Vogelhaus des holländischen Designers Klaas Kuiken zeigt, wie Design diese Koexistenz sichtbar machen kann. Für die Menschen ist das archetypische Vogelhäuschen mit Satteldach, runder Einflugöffnung und einem Sitzstab aus Holz klar dem tierischen Mieter zuordenbar. Die Vögel scheren sich wenig um die Semantik der Arbeit, sondern nehmen eher die Einflugöffnung als Einladung zum Nisten an. An der Stelle, wo wir wissentlich zahlreiche Arten verlieren oder vertreiben, hilft die Sichtbarmachung eines gemeinsamen Lebensraums von Mensch und Tier – hier auf surreale Weise in einen Dachziegel integriert.

Bald werden die Mauersegler zurück nach Afrika ziehen. Wenn sie wiederkommen, erinnern sie uns vielleicht daran, unsere Rolle in der Welt zurechtzurücken und im Sinne von Crazy Mister Sketch die utopische Zukunft von Architektur, Kunst und Design punkto Koexistenz mit der Natur zu träumen und umzusetzen.

27. Januar 2023 Spectrum

Nachhaltigkeit: Sind Pilze die Zukunft?

Sie können fast alles: Myzelien werden als Platten verarbeitet zur Wärmedämmung genutzt, es gibt Pilzleder und sogar Speckstreifen aus Pilzschaum. Doch können auf diese Art sämtliche (Design-)Probleme gelöst werden?

Wie heißt das größte Lebewesen der Erde? Der Blauwal kommt mit einer Länge von 33 Metern und 200 Tonnen auf den Podestplatz der Tiere. Der größte Organismus lebt in einem Naturschutzgebiet in Oregon und hat eine Ausdehnung von neun Quadratkilometern, ein Gewicht von 7500 Tonnen und ein Alter, das über 2000 Jahre geschätzt wird: Es ist ein Pilz, ein dunkler Hallimasch. Was aber oft fälschlich als Pilz bezeichnet wird, ist nur der Fruchtkörper des Pilzes. Unterirdisch befindet sich das Myzel, die schnell wachsenden Wurzeln. Pilze bilden neben den Pflanzen und den Tieren eine eigene Gruppe von Lebewesen. Sie sind zwar sesshaft wie Pflanzen, betreiben aber keine Fotosynthese; ihre Nahrungsaufnahme erfolgt wie bei Tieren durch organische Stoffe, die sie in gelöster Form aus der Umwelt aufnehmen. Daher sind sie eher Tier als Pflanze.

Im Designkontext tauchten schon vor einigen Jahren erste Experimente mit Myzelien auf. Die Biotechnologie eignet sich für das Heimlabor zumindest im kleinen Maßstab. Heute kann das Substrat schon fertig angeimpft online bestellt werden, fast so wie eine Fertigsuppe oder Backmischung. Für rund 40 Euro erhält man ein GIY-Kit (Grow It Yourself) nach Hause: ein Liter eingeschweißtes Substrat, blaue Gummihandschuhe und eine durchsichtige Plastikform, in die die Biomasse hineinkommt. Das Substrat kann aus unterschiedlichen biologischen Stoffen bestehen, zum Beispiel Strohresten aus der Agrarindustrie oder Holzspänen. Mit Ethanol wird eine Rührschüssel sterilisiert und das Substrat mit ein wenig Mehl vermischt, mit den sterilen Handschuhen die Masse aufgelockert und danach in die sterilisierte Form gegeben. Die Form wird mit Frischhaltefolie abgedeckt, in die ein paar kleine Löcher gestochen werden.

Nach drei bis fünf Tagen bei 24 bis 26 Grad wächst das Myzel und fixiert das lose Material. Der Wachstumsvorgang kann abgebrochen werden, wenn die Form außen homogen mit dem weißen Myzel überzogen ist. An der Stelle endet die freundschaftliche Kooperation mit dem Lebewesen, und es wird im Backrohr bei 40 Grad und offener Tür entfeuchtet (drei bis vier Stunden) und dann bei 80 Grad abgetötet (zwei Stunden Backzeit).

Die Haptik ähnelt einem Camembert

Die so entstandenen Gegenstände haben eine Ästhetik, die durch das Durchscheinen und haptische Abzeichnen des Substrats (Gräser, Fasern, Holzspäne) an der weißen, weichen Oberfläche geprägt wird. Die Gegenstände werden im Verhältnis zu Größe und Volumen als leicht wahrgenommen, sie wirken fremd und vertraut zugleich. Haptik und Ästhetik der Oberfläche sind sehr ähnlich einem Camembert: leicht flauschig und nachgiebig. Plattenmaterial, das nach diesem Verfahren hergestellt wird, hat für die Architektur zwei wertvolle Eigenschaften: akustische Dämpfung und gute Wärmedämm-Eigenschaften. Erste Anwendungen als Akustiksystem gibt es bereits: Etwa hat das Ingenieurbüro ARUP mit dem italienischen Hersteller Mogu ein sehr schönes Akustikwandsystem entwickelt, das aus dreieckigen Pilzplatten und einer Grundstruktur aus Holz besteht. Sehr schön, sehr teuer, aber richtig gedacht und Circular Design. Da die Oberfläche im Farbraum des Camemberts ist, gibt es die Paneele auch mit Farbe beschichtet – mit Abstrichen an die akustischen Eigenschaften.

Die holländische Firma Grown Bio (von ihr stammt das GIY-Set) verkauft Prototypen von Myzel-Platten zur Wärmedämmung. Manche Platten haben nicht die weiße Camembert-Oberfläche, sondern schauen schon etwas überreif aus. Die Isolierplatte (120 mal 60 mal 6 Zentimeter) kommt im Zehnerpack und kostet 900 Euro. Bei dem Preis ist vielleicht das GIY eine Option?!

In den USA gibt es zwei Firmen, die den Umgang mit der Myzel-Technologie professionell und im großen Maßstab industrialisiert haben. Eines der ersten vielversprechenden Produkte ist ein Lederimitat aus Myzelien: Pilzleder. Hier wird auf einem Substrat das Myzel hauptsächlich an der Oberfläche kultiviert, es wird geerntet und zu einer dünnen Platte verarbeitet, diese wird dann mit einem Ledermuster geprägt und gegerbt. Die Firma Mylo lieferte das erste kommerziell gefertigte Pilzleder für eine prototypische Wäschekollektion der Modedesignerin Stella McCartney. Andere Modehäuser folgten mit Pilzledermänteln (Balenciaga) oder Handtaschenkollektionen (Vuitton, McCartney etc.). Adidas hat einen Schuhklassiker in Pilzleder, natürlich in einer Myzelium-Box. Verpackungsmaterial ist neben dem High-Fashion-Bereich die Hauptanwendung. Die hohen Preise des Materials sind aber nur abrufbar, wenn die Verpackung wie bei Naturkosmetik stil- und identitätsbildend wirkt.

Pseudo-Engineering und Basteln?

Ecovative, der andere große US-Hersteller, hat neben Leder auch Schaum im Programm. Damit lassen sich Babywiegen polstern oder Yogamatten veredeln, Schminkpads und biologisch abbaubare Beautysandalen herstellen. Ein Renner im Bereich Nahrungsmittel sind Speckstreifen: Aus der Schaumplatte werden (Speck-)Streifen geschnitten und gewürzt. Speck aus der Vertical Farm, eine interessante Perspektive für urbane Produktion ohne Tierleid.

Der spanische Designanthropologe Octavi Roves hat 2022 in seinem Buch „Design without Project“ (Corraini Editioni) kein gutes Haar an „Design mit Myzelien“ gelassen. Er ist gelangweilt von den ewig gleichen Versuchen, alle möglichen Probleme mit Myzel zu lösen. Pseudo-Engineering und Basteln sei das, mit einer Ästhetik des Vintage-Comic-Klassikers „Swamp Thing“ (DC Comics, ab 1971). Swamp Thing ist ein Superheld, der eine menschenähnliche Superheldenstatur aufweist, die aus Sumpfpflanzen besteht – es ist ein Lebewesen, das zwischen Natur und Mensch vermitteln kann und gut in den philosophischen Diskurs von Bruno Latour passen würde, der uns in einer Welt der sich überschneidenden Wesen sieht (Menschen mit Bakterien, Viren, Flechten, Pilzen etc.)

Das Bild oben stammt vom Londoner Blast Studio und scheint das von Roves zynisch beschriebene Genre zu bestätigen. Sieht man aber genauer hin, hebt sich der Pilzlampenschirm von anderen Designobjekten des Genres durch seine innovative Machart ab: Der mit generativem Design entwickelte Körper wurde im 3-D-Druck produziert und mit Myzel stabilisiert. Das Ausgangsmaterial: hauptsächlich gebrauchter Pizzakarton und Kaffeebecher aus Karton, vermengt zu einer Paste. Das bionische Design soll in selbsttragenden Strukturen produzierbar sein. Die Arbeit von Blast Studio geht über das Basteln hinaus und thematisiert zukünftige Materialströme, Fertigungsmethoden und ästhetische Fragestellungen des positiven Wandels – eine zeitgemäße Haltung.

31. Oktober 2022 Spectrum

Sauberes Design: Wie entwirft man nachhaltig?

„Clean Creatives“ lehnen es ab, für Erdölgesellschaften zu arbeiten. Eine aus der Vienna Design Week hervorgegangene Initiative will, dass die Zunft sich ihrer politischen Verantwortung bewusst wird, eine Design-Ausstellung behandelt das Thema Kreislaufwirtschaft.

In ihrem diese Woche erschienenen „Klima-Buch“ stellt Greta Thunberg eine Frage, mit der sich auch Designer in letzter Zeit vermehrt beschäftigen: „Sind wir imstande, unser Können, unser Wissen und unsere Technologie für einen Kulturwandel einzusetzen, der uns dazu bewegt, uns rechtzeitig zu verändern, um eine Klima- und Umweltkatastrophe abzuwenden?“ Industrial Design folgt der Logik und Dynamik der heutigen industriellen Produktion: Abbau von Rohstoffen unter teils menschenunwürdigen Bedingungen, energieintensive Materialherstellung, industrielle Produktion von Massengütern, verschwenderischer Konsum und ein Abfallwirtschaftssystem, das seine Versprechen (100 Prozent recycel- oder kompostierbar) nicht einlösen kann oder will. „Take – Make – Use – Waste“, so lautet die polemische Kurzformel. Das Problem ist nicht nur die Ausbeutung von billigen fossilen Energien oder die Verwendung von Materialien, die auf fossilen Rohstoffen basieren, sondern auch eine kulturelle Erzählung, die auf der Verschwendung und geplanten Obsoleszenz von Möbeln, Kleidung, Fahrzeugen, Häusern etc. basiert.

Außer wenn es um Autos geht und über den Verbrauch und die CO2-Emissionen berichtet wird, erfahren wir kaum etwas darüber, wie nachhaltig ein Produkt in Herstellung und Betrieb wirklich ist – wir werden im Dunkeln gelassen. Stattdessen findet man meist abenteuerliche Geschichten des Greenwashings: Den Waren wird also einfach ein grünes Mäntelchen umgehängt. Und wir sind allenthalben mit einer Rhetorik konfrontiert, die uns vor allem davon überzeugen soll, dass wir jetzt dringend etwa Neues brauchen: eine Anzeige mit mehr Pixel bei Fernseher, Projektor oder Handy, eine neue Trendfarbe, einen neuen Schnitt, einen neuen Look, einen LED-Scheinwerfer und noch einen Elektromotor drauf im Kombi-Angebot.

Wir sind aber nicht nur anfällig für Werbung, sondern auch für den Spin, den Industrien in die Welt setzen, um nichts ändern zu müssen. Sie erklären uns etwa, warum Elektroautos die Welt nicht retten können – und wir glauben ihnen und reden darüber, dass nicht genug Strom da ist für all die Elektroautos und wir nicht wissen, wie man Batterien recyceln soll.

Welche Geräte sind zukunftsfähig?

Doch das gilt für nahezu alle anderen globalen Konsum- und Investitionsgüter. Nicht nur Elektroautos heutiger Bauweise verunmöglichen die solidarische weltweite Stromversorgung, sondern alle anderen Konsumgüter, für deren Materialgewinnung, Herstellung oder deren Betrieb viel Energie nötig war. Und haben wir schon einmal an der Zukunftsfähigkeit unseres neuen Mobiltelefons, Kühlschranks oder Computers gezweifelt, weil die Recyclingverfahren der heutigen Abfallwirtschaft nur einen Bruchteil der Rohstoffe wieder im Sinne einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft zur Verfügung stellen?

„Das Problem ist, dass sich die derzeit am besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse nach sämtlichen Belegen auf einem Kollisionskurs zu unserem gegenwärtigen Wirtschaftssystem und der Lebensweise befinden, auf die viele Menschen im globalen Norden einen Anspruch zu haben glauben“, schreibt Greta Thunberg. Die Designschaffenden befinden sich in einer historischen Rolle: mitzuhelfen, unsere Lebensweise weltverträglich und weiterhin angenehm und bedeutungsvoll zu machen.

Doch nicht allein, sondern in einer interdisziplinären Zusammenarbeit, wie sie der Designtheoretiker und Designer Viktor Papanek als „Minimal Design Team“ schon 1973 gefordert hat. Im Zentrum des „Big Character Poster No. 1: Work Chart for Designers“ sieht sich der Designschaffende in einer vermittelnden Rolle, umgeben von zahlreichen anderen Disziplinen: Ingenieurwesen, Film, Medizin, Ökologie, Verhaltenswissenschaft, Medien, Mathematik, Anthropologie, Biologie, Bionik, Biomechanik. Heute sind vor allem Letztere wichtig für regeneratives Design: Objekte beispielsweise aus Pilzflechten oder Algen – schnell wachsende Biomasse, die Kohlenstoff bindet, und nicht etwas aus nur langsam wachsendem Holz.

Aktivismus oder Qualitätssiegel

Andere Wissensgebiete, die Papaneks Minimal Design Team ergänzen: Computerwissenschaft, Spieltheorie, Demografie, Ethnologie, Statistik, Ökonomie, Politik, Rechtskunde, Klimatologie, Ergonomie und viele andere. Eigentlich eine schöne Rolle für Designschaffende, in so einem Dreamteam zu wirken, das unsere Wegwerfkultur in eine Kreislaufkultur auf Fakten basierend um-entwirft und alle Akteure, darunter auch Pflanzen und Tiere, als Zielgruppe von Design erkennt.

Derzeit entstehen im Designsektor zahlreiche Initiativen. Die holländische Design-Plattform „What Design Can Do“ entsendet zum Beispiel eine Delegation zu den nächsten internationalen Klimaverhandlungen COP27 in Sharm el-Sheikh. „Clean Creatives“ ist eine Petition von Werbeagenturen, die es ablehnen, für Erdölgesellschaften zu arbeiten. Aber auch in Österreich passiert etwas: In Vorarlberg fanden unter reger Publikumsbeteiligung das erste „Festival zur Entwicklung der Zukunft“ und die Designausstellung „Kreislaufkultur“ statt. In Wien gingen aus der diesjährigen Vienna Design Week die Initiative „Design Revolution Now!“ und ein Thinktank namens „Design-Konvent“ hervor, der sich mit der Rolle von Designschaffenden in der Gesellschaft beschäftigt. Im Sinne Papaneks wäre ein Austausch mit anderen Initiativen der „FridaysforFuture“-Bewegung sicher ein interessanter nächster Schritt – vielleicht mit den Scientists for Future oder den Museums for Future? Ob sich die Bewegung in Richtung Aktivismus entwickelt oder eher in Richtung eines Qualitätssiegels einer Designhaltung, die zukunftsfähig ist, wird sich aus der Dynamik der Diskussionen ergeben.

Der Grund der Klimakrise muss jedenfalls auch aus Sicht des Designs beleuchtet werden. Um es mit Amelie Klein, der Kuratorin der Papanek-Ausstellung im Vitra Design Museum zu formulieren: „Design ist ein politischer Beruf, der mit Verantwortung einhergeht.“

20. Juni 2022 Spectrum

Spittelau Wien: Die Stadt in der Müllfalle

Das Märchen von der umweltfreundlichen Wärmegewinnungaus Müll ist entzaubert: 60.000 Wiener Haushalte stecken in einer Systemfalle. Wie steht es um die Utopie einer abfalllosen Gesellschaft, und warum hat der Umweltaktivist Hundertwasser sich einst auf so eine Greenwashing-Aktion eingelassen?

Als die Wien Energie kürzlich mit einer geplanten Preiserhöhung des Fernwärmetarifs um 92 Prozent in die Schlagzeilen kam, entzauberte sich das Narrativ der umweltfreundlichen Wärmegewinnung aus Müll in Wien. Das Märchenschloss in Form der von Friedensreich Hundertwasser vor 30 Jahren umgestalteten Müllverbrennung Spittelau überstrahlte als Architektur-Ikone und Wiener Wahrzeichen die Wärmegewinnung aus Erdgas, die mehr als die Hälfte des Wärmebedarfs im Fernwärmenetz deckt. 60.000 Wiener Haushalte sind in einer Systemfalle, sie können den Lieferanten nicht wechseln; die Politik muss jetzt die Preisexplosion abfedern, da sie auch viele Haushalte mit niedrigen Einkommen trifft. Beim Spaziergang durch die Stadt kann man auf Werbetafeln die Müllverbrennung im dunstigen Hintergrund eines Sujets erkennen, das die Klimaschutzaktivitäten des Energieversorgers bewirbt: „Wir klimaschützen Wien. Für unsere sichere Energieversorgung.“ Müll verbrennen, um das Klima zu schützen? Warum hat der Umweltaktivist und Naturschützer Hundertwasser sich auf so eine Greenwashing-Aktion eingelassen?

Die Müllverbrennung Spittelau wurde 1969 bis 1971 unweit des AKH Wien errichtet, um dessen Wärmeversorgung zu gewährleisten. Nach einem Großbrand 1987 wurde die Anlage an derselben Stelle wieder errichtet. Um die Involvierung von Hundertwasser durch den damaligen Bürgermeister, Helmut Zilk, und seinen Vize, Hans Mayr, ranken sich Mythen, wie Einführung der Mülltrennung in Wien, und Belegbares. Belegt sind jedenfalls die zögerliche Haltung Hundertwassers zur Müllverbrennungsanlage und seine Bedenkzeit, die sich über ein Jahr erstreckte. Zilk urgierte im wöchentlichen Rhythmus die Annahme der architektonischen Neugestaltung der Spittelau, während sich Hundertwasser über die technischen Fakten informierte und mit seinem Freund, dem Umweltschützer Bernd Lötsch, die Unausweichlichkeit einer solchen Einrichtung abwog.

Schon 1971: die Erde im Notzustand

Die frühe Protestschrift Hundertwassers – „Verwaldung der Städte“ (1971) – ist ein poetischer Lösungskatalog für die Herausforderungen der Klimakrise und der nötigen Anpassungen unserer Städte. Überall, wo Schnee hinfällt, sollen Bäume wachsen: „DIE WAAGRECHTE GEHÖRT DER NATUR, DIE SENKRECHTE DEM MENSCHEN.“ Die Erde im Notzustand war schon vor 50 Jahren Anlass, die Menschen aufzurütteln und ihnen eine alternative, lebenswerte, „verwaldete Stadt“ anzubieten, in der sie in Terrassenhäusern leben und sich jeder und jede um 100 Kubikmeter Humuserde kümmert, indem biologische Abfälle und menschliche Ausscheidungen vor Ort ausgebracht werden.

Ein Jahr später tritt der selbst ernannte „Architekturdoktor“, der so lautstark gegen die Nachkriegsmoderne wetterte, in der Fernsehsendung „Wünsch Dir was“ auf, in der er das „Fensterrecht“ und die „Baumpflicht“ erläutert. Das Fensterrecht ist die Rechtseinräumung zur individuellen Kreativität, so weit der Arm aus dem Fenster reicht, und somit vielleicht eine künstlerische Variante der heute viel beschworenen Partizipation in der Gestaltung unserer gebauten Umwelt. Die Baumpflicht (die Horizontale gehört der Natur) wird zur gestaltgebenden Konstante bei Hundertwassers Architekturprojekten. In der Fernsehsendung nimmt er das Satteldach vom Modell einer Mietskaserne ab und ersetzt es durch eine Dachbewaldung. Die Straßenfront bekommt ein begrüntes Vordach. „Der Staat muß ein Gesetz herausbringen, daß kein Haus mehr gebaut werden darf, ohne eine 1 Meter dicke Erdschicht über die ganze Fläche des Daches, über die ganze Fläche des ebenen Erdbodens, auf dem das Haus steht. Also muß ein Gesetz herausgebracht werden, und wenn es nicht sofort herausgebracht wird, so wird es sicher später herausgebracht werden“, wettert der Poet aus Venedig im März 1971. Hundertwasser entscheidet sich für die Müllverbrennungsanlage, nachdem er sich versichert hat, dass es keine Alternative dazu gibt, und weil er sich auch von den technischen Neuerungen der Abgasreinigung fasziniert zeigt. Unter Mithilfe von Architekt Peter Pelikan entsteht mit den „Arzneien gegen die massenhaft herumstehenden sterilen und kranken Architekturen“ wie Bewaldung der Dächer, Fensterrecht, „Verungradigung der Skyline und der geraden Kanten und Türmen und Erkern“ ein „Mahnmal für eine abfallfreie Gesellschaft“. Ein Mahnmal, kein Wiener Wahrzeichen für den Klimaschutz, wie es die Unternehmensprosa heute formuliert.

220 Mistautos täglich

Im „Friedensvertrag mit der Natur“ („Konkrete Utopien für die grüne Stadt“, 1983) fordert Hundertwasser die Menschen auf, wieder eine abfalllose Gesellschaft zu werden. „Denn nur wer seinen eigenen Abfall ehrt und wiederverwertet in einer abfalllosen Gesellschaft, wandelt Tod in Leben um und hat das Recht, auf dieser Erde fortzubestehen. Dadurch, dass er den Kreislauf respektiert und die Wiedergeburt des Lebens geschehen lässt. Es gibt keine Energiekrise. Es gibt nur eine maßlose Energieverschwendung. Hat die Natur eine Energiekrise? Haben die Vögel, die Bäume, die Käfer eine Energiekrise? Nur der Mensch bildet sich ein, eine Energiekrise zu haben, weil er wahnsinnig geworden ist.“

Wir sind auch 30 Jahre später unerfreulich weit von dieser Gesellschaftsutopie der schöneren, abfallfreien Zukunft entfernt. Noch immer steht dieses Mahnmal mitten in Wien, wo pro Tag 220 Mistautos unseren Siedlungsmüll in einen Bunker ungeheuerlichen Ausmaßes kippen. Über den Mistautos ist ein gewaltiges Vordach, auf dem die 30 Jahre alten Bäume als Zeugen für Hundertwassers Utopie den Feinstaub vom Müllabladen aus der Luft filtern. Steht man auf dem Vordach, fühlt man sich trotz der Bewässerungsschläuche wie im Wald. Nur gedämpft dringt das Treiben der Müllautos hinauf. Von der Besucherplattform blickt man auf gigantische Mengen Hausmüll. Zwei Riesengreifarme rühren den Müllberg um und beschicken die beiden Öffnungen zum Brennofen. Übrig bleiben von einer Tonne unseres Mülls 205 Kilo Schlacken, 25 Kilo Asche und 1,4 Kilo giftiger Filterkuchen, der in Deutschland unter Tag zwischengelagert wird. Die Restmenge von 55 Jahren Müllverbrennung türmt sich zur „höchsten Erhebung in der Donaustadt“, der Deponie Rautenweg, die im Endausbau 75 Meter in den Himmel ragen wird.

Auf dem Weg zum bewaldeten Vordach und zur Aussichtsplattform kommen die Besucher:innen an einer Hundertwasser-Ausstellung im Stiegenhaus vorbei, die einer Renovierung bedürfte. Ein von der Wand gefallenes Schild lehnt neben einer Tür: „Utopien und Träume sind realisierbar, sagt Hundertwasser. Wie sieht es aus mit dem Traum der abfallfreien Gesellschaft?“

22. März 2022 Spectrum

Materialverbrauch: Weniger von allem, radikal weniger

In Österreich nützen wir nur zwölf Prozent der wiederverwendbaren Stoffe – das ist leicht unter dem EU-Durchschnitt. Heute werden beim „Circular Economy Summit Austria“ notwendige Veränderungen unseres Wirtschaftens diskutiert.

Seit neuestem glaubt ja jeder, er kann mitreden beim Müll. Wo die Menschen früher über den eigenen Kreislauf gejammert haben, sprich Kreislaufstörung, geht es heute nur mehr über den Müllkreislauf. Da wird ein Recycling und eine Wiederverwertung heruntergebetet, Müllbuddhismus nichts dagegen. Aber reden kann man leicht. Machen muss man es auch richtig! Wenn du schon am Anfang das Zeug in die falsche Wanne schmeißt, alles umsonst.“ Wolf Haas' Roman „Müll“ erscheint etwa zeitgleich mit der österreichischen Kreislaufstrategie, ausgearbeitet vom Bundesministerium für Klimaschutz (BMK), die etwas sperriger titelt: „Die österreichische Kreislaufwirtschaft. Österreich auf dem Weg zu einer zirkulären und nachhaltigen Gesellschaft.“

Auf der Titelseite sieht man in einer schummrigen Stimmung eine Hand, über der ein Lichtkreis schwebt, ganz wie ein Spezialeffekt aus „Star Wars“. Die bunten Lichtschweife erleuchten das Innere der Hand rot, wahrscheinlich eine symbolische Handstellung des Müllbuddhismus. Schon der Titel lässt erahnen, dass Österreich hier noch einiges vor sich hat. Hierorts liegt die Nutzungsrate wiederverwendbarer Stoffe bei zwölf Prozent, das ist leicht unter dem EU-Durchschnitt. Musterschüler der Kategorie Circular Material Use Rate (CMU) sind die Niederlande mit 30,9 Prozent, gefolgt von Belgien und Frankreich mit je 23 und 22 Prozent CMU. Um die Stakeholder des linearen Wirtschaftens auf den richtigen Weg zu bringen, hat das österreichische Ministerium einen Kreislaufwirtschaftsbeauftragten eingesetzt.

Harald Friedl ist eine Art „Cheerleader“ dieser Form des ökologischen Wandels und wird nicht müde, von den neuen Chancen zu sprechen. Er arbeitet inklusiv und bringt die Zivilgesellschaft, Pionier:innen und große Industriebetriebe an einen Tisch. Er spricht von CEOs, die Wandel geloben, und Mitarbeiter:innen, die ihre Erwerbsarbeit weltverträglich gestalten wollen – eine Einladung zur Revolution von unten.

Zu Alarmisten geworden

Am Dienstag, 22. März, wird der „Circular Economy Summit Austria“ einen ganzen Tag lang die notwendigen Veränderungen unseres Wirtschaftens adressieren und in einer Pop-up-Messe einige Akteur:innen des Wandels vor den Vorhang holen. Harald Friedl wird der Zeremonienmeister der initialen Großveranstaltung des BMK sein, für die sich fast 600 Interessierte angemeldet haben. Die Schwerpunktthemen umfassen Circular Construction, Circular Textile, Circular Mobility und Circular Food.

Ein wichtiger Proponent der Veranstaltung ist Willi Haas vom Institut für Soziale Ökologie an der Boku Wien, das dem Ministerium wichtiges Zahlenmaterial zum Thema Kreislaufwirtschaft liefert. Willi Haas findet für die Kreislaufwissenschaft ähnlich klare Worte wie Helga Kromp-Kolb für die Klimawissenschaft – beide mussten in den jüngsten Jahren zu Alarmisten werden. Für den Baubereich fordert Haas, die Neuerrichtung von Gebäuden radikal zu hinterfragen und nur marode Gebäude schlechter Qualität zu ersetzen. Kein Gebäude auf die grüne Wiese, Flächenversiegelung stoppen; kein Neubau von Straßen, materialeffizientes Mobilitätssystem – die planetaren Grenzen erlauben den unsolidarischen Überfluss unserer Wirtschaftsweise nicht. 19 Tonnen beträgt der Materialverbrauch pro Person und Jahr in Österreich. Wie wir das ändern? Kreislaufwirtschaft und ein Ziel von sieben Tonnen Materialverbrauch – rund ein Drittel des jetzigen. Wo die Kreislaufstrategie in anderen Punkten unkonkret bleibt, ist sie hier sehr eindeutig. Die Antwort des Wissenschaftlers, wie das Ziel erreichbar wäre: Suffizienz. Weniger von allem, radikal weniger. Für die Architekturschaffenden und die gesamte Baubrauche ist das ein Angst-, aber auch Innovationsthema.

Ein Pionier, der eine Keynote zum Architekturschwerpunkt halten wird, ist Thomas Romm. In der Seestadt Aspern bereitete er für 3000 Wohnungen über eine Million Tonnen Material lokal auf; zudem wurde durch Geländemodellierung die Hälfte des Aushubvolumens reduziert, der Rest wurde im Straßenbau als Betonzuschlag verwertet. Kreislaufarchitektur als bewusste Gestaltung von Logistik, Zeit und Abläufen, aber auch Nutzung örtlicher Ressourcen: In Bielefeld schlug Romm die Umnutzung eines „Karstadt“-Kaufhauses vor – die bestehende Kaufhausstatik, ausgelegt für Menschenmassen, könnte leicht eine Aufstockung in Holzbauweise stemmen. In Wien musste ein ähnliches Kaufhaus einem Star-Architekten-Projekt weichen. Gemeinsam mit Querkraft Architekten legte Romm die Umnutzung einer Lagerhalle zum repräsentativen Firmensitz nahe – das Projekt wurde nicht umgesetzt. Wirtschaftliche, technische oder ästhetische Abbruchreife: Wir benötigen dringend eine Neubewertung – und gelingende Kreislaufprojekte in der Architektur größere Aufmerksamkeit.

Designschaffende spielen ebenfalls eine tragende Rolle in der österreichischen Kreislaufwirtschaftsstrategie. Sie werden sogar extra erwähnt, da laut dem Europäischen Aktionsplan für Kreislaufwirtschaft (European Green Deal) in der Entwurfsphase bis zu 80 Prozent der Umweltauswirkungen in Produkte eingeschrieben werden; gefordert wird „intelligentes Design“.

Fantasie im Design

Auf dem Summit am Dienstag zeigt die Designerin Alexandra Fruhstorfer ihre Arbeit „Transitory Yarn“ (2016), die 2021 im MoMa in New York zu sehen war. Die zentrale Idee des Projekts ist die mehrmalige Nutzung eines Garns aus Schafwolle. Dazu schlagen Fruhstorfer sowie ihre Kooperationspartner Max Scheidl und Anna Neumerkel einen Ort vor, wo das Ausgangskleidungsstück mit einer händisch bedienten „Auftrennmaschine“ zu neuem Garn aufgewickelt wird, um dann etwa saisonal mit einer Strickmaschine in eine andere Kleidertypologie verwandelt zu werden. Modefirmen und Strickmaschinenherstellern ist das Projekt noch unheimlich – hoffentlich kann Fruhstorfer sie auf dem Summit überzeugen. Systemische Lösungen sind aber nicht nur in der Architektur gefragt, und so forscht die Designerin gerade an einer lokalen Wertschöpfungskette, angefangen beim Schaf. Pro Schaf bekommt man im Jahr gut zehn neue Pullover. Eine Kooperative würde sich als Organisationsform für den lokalen Kreislauf der Mode anbieten, doch es bräuchte zudem Verarbeiter des Rohstoffs, die es hierzulande kaum mehr gibt.

Für den Wandel sind die Fantasie der Architektur- und Designschaffenden und deren Begeisterungsfähigkeit für eine neue Gestaltungspraxis gefragt. Obendrein nötig sind der Protestruf der Zivilgesellschaft (Katharina Rogenhofer ist auch dabei) sowie die Bereitschaft der Industrie, ihre Geschäftsmodelle zu ändern. „Recycling hin, Kreislauf her, sprich Zukunft gestalten“, wie es beim Brenner heißt.

29. Dezember 2021 Spectrum

Kann Papier die PET-Flasche ablösen?

Der Countdown läuft: Wer wird die erste Papierflasche auf den Markt bringen und damit die Verpackungsrevolte anführen? In einem Jahr wissen wir mehr – wenn die ersten Produkte in Pulp (Holzstoff) statt in Plastik oder Glas erhältlich sein werden.

„Pulp Fiction“ sind billige Schundromane über eine spekulative Zukunft. Ihre Gattungsbezeichnung Pulps haben sie von dem faserigen, grauen Papier, das als günstiges Trägermaterial von Genres wie Liebesroman bis Science-Fiction diente, die vor allem von den 1930er- bis 1950er-Jahren Verbreitung fanden. Der billige Verkaufspreis führte zur deutschen Gattungsbezeichnung Groschenroman, das Ausgangsmaterial ist Holzstoff (engl. mechanical pulp). Es entsteht durch mechanische Zerfaserung von Holz und ist der Rohstoff, um kostensparend Papier, Karton, Pappe herzustellen.

Das Material der Schundhefte ist jetzt zur Zukunftshoffnung der großen globalen Konzerne geworden: Sie sehen die Zukunft in der ökologischen Papierflasche, aus dem nachwachsenden Rohstoff Holz gefertigt und einfach im Papierrecycling zu entsorgen. Natürlich FSC-zertifiziert, das versteht sich von selbst. Wir beobachten einen Wettlauf, wer die erste Papierflasche auf den Markt bringen und damit die selbst ausgerufene Verpackungsrevolution anführen wird. Es sind die ganz großen, weltweit bekannten Marken, die sich hier im Wettkampf befinden. Nächstes Jahr soll es endlich so weit sein: Da sollen erste Produkte nicht mehr in Plastik oder Glas, sondern im Zukunftslook Pulp verpackt werden.

Der Eierkarton ist in gewisser Weise der Vorgänger dieser neuen grünen Verpackungsrevolte, er ist ebenfalls aus Holzbrei geformt. Die Plattenform des Eierkartons ist sicher als Designklassiker zu bezeichnen, er beschützt 30 Eier und ermöglicht eine Stapelung bis zu 20 Stockwerke. Der Grundriss ist in der eleganten Proportion 6:5 gehalten. Technisch herausfordernder ist die Klappform, die zehn oder ein halbes Dutzend Eier mit einem mitgeformten Deckel transportsicher macht. Der Eierkarton war bislang ästhetisch gesehen eher die Ausnahme im Warenangebot. Grau, faserig, rau und schlecht bedruckbar. Wer seinen Eiern etwas mehr Warenästhetik verpassen wollte, hat ein bedrucktes Papier aufgeklebt. Die Haptik des Eierkartons wirkt fast handwerklich und könnte Assoziationen zu handgeschöpftem Büttenpapier hervorrufen.

Es waren nicht die großen Verpackungskonzerne, die auf die Idee mit der Papierflasche gekommen sind. Die ersten Prototypen stammten von zwei Start-ups, und schnell scharten sich die Multis um die Technologieprojekte: Hersteller von Spirituosen, Flüssigwaschmittel, Medikamenten, Bier, Softdrinks und Motoröl. All diese Produkte wollen möglichst bald im neuen Gewand die umweltverträgliche Agenda der globalen Konzerne illustrieren. Es ist auch einfacher, die Verpackung zu wechseln, als über das Produkt nachzudenken. Das Prinzip des Eierkartons findet sich schon in vielen Elektronikverpackungen; Bier, Flüssigwaschmittel oder Motoröl konnte man bislang nicht damit transportieren. Es scheint im ersten Moment etwas kontraintuitiv, in eine Papierflasche Cola einzufüllen – unser Alltagswissen würde darauf tippen, dass der Flasche kein langes Leben beschert wäre.

Bei technologischen Umbrüchen kann eine Dramaturgie beobachtet werden, die es ebenso bei Übergangsriten gibt. Die eine Technologie ist noch nicht ganz abgelöst, der neuen vertraut man noch nicht ganz. Das Ergebnis ist ein verstörender Zwischenzustand des Überganges. Ein schönes Beispiel ist die Ablöse der Segelschiffe durch Dampfschiffe. Im transitorischen Zustand fuhren seltsame Schiffe herum, die sowohl Rauchfänge als auch Segelmasten hatten. Als sich die neue Technologie als verlässlich und überlegen herausstellte, bekamen die Dampfschiffe auch ein neues Aussehen.

Die sogenannten Papierflaschen haben außen einen Mantel aus geformtem Holzbrei und schauen schon recht ökologisch aus. Innen jedoch befindet sich immer noch eine PET-Flasche. Das hat auch einen österreichischen Hersteller, der weltweit mitmischt in der Herstellung von Kunststoffverpackungen und PET-Flaschen, dazu veranlasst, in eine der beiden Papierflaschenfirmen einzusteigen. Das sei aber auch nur eine Übergangslösung, bis der heilige Gral in Form einer magischen Innenbeschichtung gefunden ist; diese sei dann angepasst an das abgefüllte Produkt.

Ein kalifornisches Unternehmen hat in den papierummantelten Ökoplastikflaschen Pionierstellung. Die Abbildung links zeigt eine mittlerweile nicht mehr erhältliche Verpackung für Flüssigwaschmittel dieses Unternehmens, die auch in Österreich in einem Drogeriemarkt erhältlich war. Mittlerweile ist das Waschmittel noch „ökologischer“ verpackt: Die Papierhülle ist weg, das Plastik hat auf einer Seite eine Papierhaptik. Was noch fehlt, ist der Hinweis, wie viel Papier diese Verpackung einspart. Der etwas zerknautschte Nachfüll-Look wird wohl das vorherrschende Verpackungsparadigma bleiben – bis die revolutionäre Papierflasche aus dem Versuchsmarkt in Brasilien dann auch in Europa ausgerollt wird.

Eine Whisky-Marke hatte mit der Ästhetik der kartongrauen Verpackung ein Problem und beschloss, den Brei möglichst schwarz zu färben. Mit dem silbernen Plastikverschluss sieht die Verpackung aber eher wie eine Motorölflasche aus. Wahrscheinlich der Grund, warum sich der Erdölkonzern für die Verpackungslösung zu interessieren begann. Die sozialen Medien sind nach der Ankündigung, den Whisky in eine Papierflasche zu füllen, auch sehr reaktiv geworden; der Tenor war ablehnend bis schockiert. Ein großer Bierabfüller folgte dem Eierkartonvorbild und wickelte bunt bedrucktes Papier auf die schlichte Kartonflasche, deren Ästhetik vergleichbar ist mit einer Kartonrolle, wie wir sie vom Klopapier kennen. Der Prototyp der Softdrinkflasche aus dem Werbevideo sieht überhaupt so aus wie eine Kindergarten-Bastelarbeit. Wir nehmen eine Kunststoffflasche und umwickeln sie mit in Leim getränktem Klopapier. Der Chief Technology Officer hält sie stolz in die Höhe und spricht von Weltrevolution. Wir werden uns somit auch auf eine ästhetische Revolution vorbereiten müssen und fiebern der Zukunft entgegen.

Ist eine Papierflasche ökologischer als eine Plastikflasche? Die beiden Antipoden repräsentieren fast idealtypisch die beiden möglichen Kreislaufarten: biologische und technische Kreisläufe. Für beide gilt allerdings, dass das eingesetzte Material, selbst im Fall einer konsequenten Sammlung, nicht zu 100 Prozent wieder für die Herstellung einer gleichwertigen Flasche verwendet werden kann. Lebensmittelechtes PET wird teilweise als Rohstoff für Textilien (Downcycling) verwendet, die Holzfasern brechen in der Aufarbeitung und werden immer kürzer und damit weniger stabil. Es entsteht eine Materialkaskade, die immer weniger wertvolles Material für den nächsten Kreislauf bereitstellt. Bleibt noch der Trost, dass sich die Papierflasche vielleicht auf dem Weg ins Meer auflöst.

26. Oktober 2021 Spectrum

Kreislaufwirtschaft: Laufschuhe aus exotischen Bohnen

Hoffentlich wird es bald normal sein, dass wir gebrauchte Produkte an die Hersteller retournieren – weil Kreislaufwirtschaft nur so funktionieren kann. Das Projekt „Circular Design Rules“ formuliert neun Eckpunkte für ein zukunftsfähiges Design.

Als Reaktion auf die Klimakrise verändern wir unsere Steuersysteme – CO2 bekommt in immer mehr Ländern einen Preis. Aber wie müssen wir Produktdesign (Industrial Design) verändern, um die Zerstörung und Ausbeutung unseres Planeten zu stoppen? Design lebt von Geschichten und Bildern: Elektroautos werden etwa klimaneutral hergestellt, indem die 14 Tonnen Kohlendioxid aus der Fertigung zum Diskontpreis durch ein Aufforstungsprojekt in Asien reingewaschen werden. Die Autositzbezüge sind aus Plastik, das aus dem Meer gefischt wurde. Bürostühle und Laptop-Gehäuse werden aus grauem, recyceltem Kunststoffmüll mit farbigen Einsprengseln hergestellt. Die Kunststofffasern von Laufschuhen sind aus exotischen Bohnen und werden nur mehr für eine bestimmte Zeit geliehen. Dann gehen sie zurück in die Fabrik, werden wieder zu neuen Fasern verarbeitet. Das Plastik von Vorratsbehältern für den Kühlschrank ist neuerdings aus Zuckerrohr.

Ein Nachfüllbeutel für Seife wird als Ökopionierleistung gefeiert, da vielleicht irgendwann einmal alle Kunststoff-Recyclinganlagen intelligent genug sein werden, um genau diese Verpackungen aus dem bösen anderen Müll rauszufischen und ihnen ein neues Leben einzuhauchen. Aus dem zukünftigen Sondermüll Windradflügel wird dekoratives Plattenmaterial für Möbel. Auf der Autoschau in München diesen Herbst trugen die Standbetreuer:innen eines nicht gerade für einen umweltfreundlichen Fuhrpark bekannten Herstellers weiße Leinengürtel mit der Aufschrift „reduce – reuse – recycle“. Das Show-Car ist wie der Laptop unlackiert und sucht hilflos nach einer Designsprache, die dem dringend notwendigen Paradigmenwechsel im Design gerecht wird. Eine Rundschau in die schöne neue Produktwelt.

Das österreichische Klimaschutzministerium hat mit der Wiener Wirtschaftsagentur ein Projekt unterstützt, das im Rahmen der Initiative New European Bauhaus kreislauffähiges Design (Circular Design) für Designer:innen und produzierende Unternehmen einfach zugänglich macht. In Form von neun Regeln – Circular Design Rules (CDR) – werden Eckpunkte für ein zukunftsfähiges Design formuliert. Die Regeln sind in drei unterschiedliche Bereiche gegliedert, welche unterschiedliche Maßstäbe der Kreislauffähigkeit abbilden: die kreislauffähigen Materialien, aus denen ein Produkt entsteht, die Komponenten, aus denen es zusammengesetzt ist, und das System, in dem kreislauffähige Produkte eingebettet werden müssen.

In den vergangenen Jahren sah man eine Beschäftigung mit dem Thema Material weniger auf dem Markt, mehr dafür im experimentellen Designforschungsumfeld. Material ist und muss zum Gegenstand von Gestaltung werden; nicht nur dessen sorgfältige Auswahl, sondern auch dessen Design: Ausgangsstoffe, Farben, Strukturen und Herstellmethoden. „Gestalte das Produkt aus erneuerbaren Materialien oder Rezyklat“: Die erste Regel gemeinsam mit der zweiten – „Gestalte das Produkt aus wiederverwendbaren oder abbaubaren Materialien“ – haben wir schon internalisiert. Doch Aussagen wie „100 Prozent recycelbar“ sind eher unrealistisch in den vorherrschenden Abfallwirtschaftsszenarien. So gilt der zerkleinerte Dichtschaum von Kühlschränken als recycelbar, weil man damit noch Öl aufsaugen kann. Eine seltsame Definition für Kreislaufwirtschaft. Für Materialien aus erneuerbaren Rohstoffen gilt jedenfalls, eine nachhaltige Bewirtschaftung zu berücksichtigen, und für Kunststoffe aus nachwachsenden Rohstoffen, die Rivalität mit Nahrungsmittelanbauflächen nicht zu vergessen. Für „unverzichtbare“ Einwegprodukte gilt jedenfalls ein extrem hoher Rezyklat- und Wiederverwendbarkeitsprozentsatz.

Regel Nummer drei lautet: „Gestalte das Produkt mit wenigen Materialien.“ Eine einfache Regel mit großer Auswirkung. Am einfachsten kann man Produkte aus nur einem Material wiederverwerten. Vielleicht entstehen so auch interessante neue Designansätze.

Die zweite Regelkategorie appelliert an Designschaffende und Unternehmen, Produkte folgendermaßen zu denken: „Gestalte die Zerlegbarkeit des Produkts“ und: „Gestalte das Produkt modular“. Oft wird die einfache Zerlegbarkeit der einfachen Fertigungsweise geopfert. Ein trauriges Beispiel sind Schnappverschlüsse, die einfach zu fügen sind und beim versuchten Öffnen zu Beschädigungen des Erzeugnisses führen. Die Modularität des Produktaufbaus hilft beim Zerlegen, aber auch beim Reparieren und Wiederaufarbeiten und ist untrennbar mit Forderung Nummer sechs verbunden: „Gestalte Updates und Upgrades für das Produkt.“ Ein langes Leben wird in unserer schnelllebigen Technologiezeit lediglich durch entsprechende Produktverbesserungen und Anpassungen möglich.

Kreislauffähiges Design ist nur denkbar, wenn wir uns von der linearen Wirtschaftsweise verabschieden. Wir müssen gesamte Systeme denken. Es gibt kein Circular Design im linearen Geschäftsmodell „take – make – waste“. Herstellerverantwortung über die Garantiezeit hinaus und das Bereitstellen von Nutzen anstatt des Verkaufs von Produkten müssen die neue Leitlinie für Produktentwicklung und Design werden. Viele Erzeugnisse könnten in die Fabrik zurückgehen und die Hersteller daraus neue fertigen. Das würde sich auch schon heute auszahlen, lange bevor Materialien unleistbar und knapp werden. Mehr Servicedesign ist notwendig, um die folgenden beiden Regeln zu beachten: „Gestalte die Rücknahme des Produkts. Gestalte das Produkt als Service.“ Würden wir vom Design für den individuellen Statuskonsum übergehen zu einer geteilten Nutzung, wären zahlreiche Gegenstände vollkommen anders gestaltet. Nicht nur auf den Erstgebrauch, sondern auf die Nutzungsverlängerung zielt schließlich diese Regel: „Gestalte die Wiederverwendung von Produkten und Komponenten.“

Verkaufsplattformen im Internet helfen heute schon, unsere Verantwortung als Kreislaufgesellschaft wahrzunehmen und für nicht mehr verwendete Güter neue Nutzer:innen zu finden, Zweitmärkte mit „refurbished“-Produkten sind im Entstehen. All das muss aber noch verstärkt und zu Geschäftsmodellen jenseits der privaten Verwertungslogik ausgeweitet werden. Es wird normal werden, dass wir Produkte den Herstellern retournieren: nicht weil sie nicht passen oder gefallen, sondern weil eine Kreislaufwirtschaft nicht anders denkbar ist. Ein großer Möbelhersteller experimentiert schon damit. Die Kreislaufwirtschaft ist einfacher vorstellbar, wenn sie lokal verankert ist – dann schickt man Produkte nicht sinnlos quer über den Erdball. Das erfordert auch eine Denkumkehr vom wirtschaftlichen Erfolgsmodell der Globalisierung. Als Spielkarten gestaltet, wollen die CDR zu neuen Designlösungen inspirieren, die eine Kreislaufwirtschaft ermöglichen.

13. Juli 2021 Spectrum

Highway für Räder

Wie es ums Klima bestellt ist, wissen wir. Sollen wir jetzt wirklich unsere mehrspurigen Schnellstraßen und Stadtautobahnen in Fahrradwege umgestalten? Die logische Antwort: Ja! Kärnten zeigt vor, wie es geht, und auch in Niederösterreich gibt es Gestaltungspläne.

Geplante Infrastrukturprojekte der Asfinag in Stadt und Land sorgen gerade für Aufregung. Die Klimaministerin lässt prüfen, ob die Umsetzung der hochrangigen Infrastruktur mit den Klimazielen vereinbar ist. Reflexartig reagieren die Mobilitätsbeauftragten der entsprechenden Länder mit Protestnoten. Noch immer gilt der Glaubensgrundsatz, dass die mehrere Meter breiten Asphaltbänder für Autos und Lastwagen den Wohlstand sichern und so als Fortschrittssymbol für komfortablen Mobilitätsbedarf in Natur oder Stadtlandschaft eingeschrieben werden müssen.

Jetzt kommt die verordnete Nachdenkphase zu einer Zeit, da es sich abzeichnet, dass Verbrennungsmotoren nicht in ein postfossiles Zeitalter passen und die Flächenversiegelung in Österreich noch immer in einem Tempo voranschreitet, dass Fußballfelder und kleine Landeshauptstädte als Maßeinheiten herhalten müssen, denn unter dem im landwirtschaftlichen Kontext gebräuchlichen „Hektar“ können wir uns mehrheitlich nichts vorstellen. In Österreich haben Baumaterialien den allergrößten Anteil an den Materialströmen. Die Masse an Baumaterialien, die in Häusern für Wohnen und Arbeiten eingesetzt wird und wurde, ist gleich (!) groß wie die Masse an Baumaterialien für unsere Infrastruktur, wie im Rahmen eines Forschungsprojekts der Boku Wien unter Professor Helmut Haberl aus Satellitendaten herausgefunden wurde. Für jeden Lastwagen, der Material für ein Gebäude liefert, fährt ein Lastwagen zu einer Baustelle, die eine Straßeninfrastruktur errichtet. Diese Materialanhäufung findet in einer rasanten Geschwindigkeit ungebremst statt und konterkariert alle Beteuerungen der Europäischen Union, eine Vorzeigeregion der Kreislaufwirtschaft unter dem Segel des „Green Deal“ werden zu wollen.

Der notwendige Strategiewechsel hin zur Kreislaufgesellschaft verlangt nicht nur von Architekturschaffenden und Politik mehr Bewusstsein zu den Rebound-Effekten in Form von neuen Straßen für das Bauen auf der „grünen Wiese“. Harald Frey, Verkehrsplaner an der TU Wien: „Zentrale Aufgabe ist die Schonung der Ressource Boden. Dafür gilt es, auch die Flächen der bestehenden Verkehrsinfrastrukturen effizienter zu nutzen, indem flächensparende Mobilitätsformen wie der Radverkehr attraktiviert werden. In der Praxis sollten dafür Flächen des motorisierten Individualverkehrs reduziert und diese dem Radverkehr zur Verfügung gestellt werden, bevor neuer Boden versiegelt wird. Bestehende Asphalt- und Betonbänder sollten für jene Verkehrsträger genutzt werden, welche die am flächensparendste Mobilität gewährleisten. Das muss als Prinzip zur Reduktion des Bodenverbrauches verankert werden.“

Sollen wir jetzt unsere schönen mehrspurigen Schnellstraßen und Stadtautobahnen in Fahrradwege umgestalten? Ja – und das Land Kärnten liefert ein aktuelles Beispiel dazu: Auf der B70 Packer Straße soll innerhalb der nächsten drei Jahre zwischen den Autobahnanschlussstellen Völkermarkt und Dolina eine Querschnittsanpassung umgesetzt werden. Statt vier Fahrspuren soll es in Zukunft in diesem Bereich zwei Hauptfahrspuren sowie einen Mehrzweckstreifen für Radfahrer und landwirtschaftlichen Verkehr geben. Zwischen Fahrspur und Mehrzweckstreifen wird eine durchgehende Grüninsel errichtet.

Zwar müssen sich hier die Radfahrenden mit dem Landwirtschaftsverkehr die „Langsamspur“ teilen, doch immerhin baulich abgetrennt von den mit 100 Kilometer pro Stunde dahinbrausenden Autos und Lastwagen. Der Rückbau der B70 könnte durchaus mit einer Gedenktafel ausgestattet werden, um kommenden Generationen von Politik und Verkehrsplanung an eine Zeit zu erinnern, da wir unsere Mobilitätskonzepte gründlich hinterfragt und die Dominanz des Autos durch attraktive Infrastruktur für ressourcenschonende Mobilitätsalternativen erweitert haben. Wer sich an der Stelle um das österreichische BIP sorgt, kann beruhigt werden: Auch so ein Umbau kostet richtig Geld, in diesem Fall werden etwa vier Millionen Euro für die neun Kilometer Zukunftsbundesstraße veranschlagt. Die Mobilitätsagentur der Stadt Wien weist auf ein ähnliches Beispiel im urbanen Kontext hin: Die vierspurige Prager Straße wurde ebenfalls neu aufgeteilt, und der Fahrradweg ist nun durch eine großzügige Grüninsel von den zwei Fahrstreifen getrennt. Die Entsiegelung eines Teils der Straße und der Mehrfachnutzen der Neuaufteilung werden hoffentlich bald zahlreich nachgeahmt.

Gut ausgebaute Fahrradwege gehören aber nicht nur innerhalb des dichter verbauten Gebiets zur Werkzeugkiste der vorausschauenden Verkehrspolitik, sondern auch die fehlenden Schnellverbindungen zwischen Ballungsräumen müssten angegangen werden. Mit zeitgemäßen zwei- oder dreispurigen Fahrrädern können komfortabel längere Distanzen bis zu 20 Kilometer zurückgelegt werden, ohne sich nach einem Auto zurückzusehnen. Dafür fehlt aber eine hochrangige Radinfrastruktur, für die es eine entschiedene Politik bracht. Planungen gibt es bereits, etwa wurde für Niederösterreich das Potenzial für 220 Kilometer „Fahrradautobahnen“ ausgewiesen. Sie sollen dazu beitragen, dass in NÖ bis 2030 vierzig Prozent der Wege klimaverträglich zurückgelegt werden. Das wäre eine Verdopplung zum Stand heute. In Zukunft könnte dann eine Fahrradautobahn von Gmünd nach Schrems, von Amstetten nach Waidhofen/Ybbs, von St. Pölten über Traisen nach Lilienfeld oder Hainfeld führen. Ambitioniert ist die „Südstrecke“, die von Wien bis Wr. Neustadt führen könnte.

Verracon ist eines der Planungsbüros, das gemeinsam mit Gemeinden, Ländern und Ministerien Entscheidungsgrundlagen, Strategien und Konzepte für die Förderung des Radfahrens erarbeitet. Ein Planungsgrundsatz ist, direkte und schnelle Verbindungen für Fahrradfahrende zu schaffen. Ein Umweg hin zum kleinen Bächlein ist eher für touristische Fahrradrouten der passende Zugang. Ein Hindernis für den Masterplan sind sicherlich die Zuständigkeiten von Gemeinden, Land und Bund. Noch immer wird hochrangige Infrastruktur so geplant, dass für die neue Mobilität kein Platz geschaffen wird. Das könnten begleitende Fahrstreifen sein oder notwendige Brücken oder Tunnellösungen. Oder es kommt zu Budgetdiskussionen, wenn der Radweg die Ortstafel erreicht.

Ein Vorschlag zur effizienten Umsetzung von österreichweiten Radschnellverbindungen: die politische Entscheidung, deren Bau auf Bundesebene zu organisieren. Meine Anfrage an die Asfinag, ob zukünftig auch Fahrradautobahnen gebaut würden, wurde noch mit Kopfschütteln beantwortet. Seit 2020 gibt es in Deutschland ein Schild für Radschnellwege. Es gleicht dem Autobahnschild, nur wurde die Brücke durch ein Fahrradsymbol ersetzt. Es ist zu hoffen, dass wir es auch in Österreich bald zahlreich sehen werden.

21. April 2021 Spectrum

Lang lebe das Plastik!

Ein Plastiksessel als Vorzeigeobjekt der Weltrettung: Die Möbelindustrie nähert sich der Kreislaufwirtschaft mit dem Argument der langen Lebensdauer. Aber ist das der richtige Weg, wenn Plastikmüll erst anfallen muss, um weiterverwendet zu werden?

Ein grauer Kunststoffstuhl steht leicht nach vor geneigt vor einer durchsichtigen runden Säule, die auch ein Tischbein aus der legendären Ära des italienischen Memphisdesigns aus den 1980er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sein könnte. In dieser befinden sich bunte Plastikschnipsel. Das Bild wirbt für den ersten Stuhl der Designfirma Vitra, der aus rezykliertem Kunststoff gefertigt ist. Das Design stammt von Edward Barber und Jay Osgerby und ist zehn Jahre alt. Das Thema ist die Kreislaufwirtschaft. Dazu gibt es unterschiedliche Zugänge – in der Möbelindustrie ist der geläufigste die Argumentation einer langen Lebensdauer. Möbelklassiker ist das zugehörige Stichwort. Das ist prinzipiell ein ganz guter Zugang, wird aber durch die heutigen Konsumgewohnheiten allzu oft nicht eingelöst. Das Argument der Langlebigkeit hat auch in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass in der Konstruktion und Materialität nur unzureichend auf den Paradigmenwechsel von der linearen zur Kreislaufwirtschaft durch Innovationen reagiert wurde.

Besagter Stuhl, der nun den alten Namen „Tip Ton“ mit dem neuen Beinamen „Re“ führt, ist im Gegensatz zu seinen Ahnen, die aus neuem („virgin“), leuchtend buntem, fossilem Plastikgranulat gefertigt sind, aus Kunststoffmüll. Er ist aus dem Inhalt des deutschen „Gelben Sacks“, der dem Verpackungsmüll der kommunalen Abfallentsorgung entstammt. Im Gelben Sack sind zahlreiche verschiedene Kunststoffe, die unsere Lebensmittel ins rechte Licht rücken und deren Haltbarkeit und Transportsicherheit herstellen. Aber auch andere Verpackungen wie zum Beispiel Reinigungsmittelbehälter. Sie haben meist nur ein kurzes Leben. Ein Joghurt ist schnell ausgelöffelt, genauso wie der Brimsen in der durchsichtigen Plastikverpackung aus dem Biomarkt.

Polypropylen heißt das Material, aus dem der Stuhl gemacht wird. Wenn man den Joghurtbecher umdreht und gut ohne Lesebrille sieht, dann erkennt man, dass ein Dreieck unter dem „PP“ steht. Eventuell ist auch nur der Recycling-Code „05“ im Dreieck angegeben. Als mündiger Konsument sollte ich den Aluminiumdeckel vom Becher reißen, den Becher darf man löffelrein in die Sammlung geben. Die Trennung der unterschiedlichen Materialien übernimmt dann ein Schredder, die kleinen Teilchen werden in unterschiedlichen Trennverfahren sortenrein zur Wiederverwendung aufbereitet. Das Joghurt wird in einem Waschvorgang von den „Flakes“ getrennt.

Wer schon einmal mit Wasserfarben gemalt hat, erinnert sich vielleicht an das Wasserglas, das durch das Auswaschen der unterschiedlichen Farben langsam grau wurde. Genau dasselbe passiert auch, wenn man die rezyklierten Kunststoffkonfettis einschmilzt. Bei Vitra hat man sich dazu entschlossen, dieses Farbmischresultat als Statement für die neue Ära der Kreislaufwirtschaft beizubehalten. Es folgt der neuen Ethik der Transparenz und Ehrlichkeit. Grau als die „natürliche“ Farbe der Kreislaufwirtschaft. Es ist dem Hersteller bewusst, dass diese Form der ästhetischen Enthaltsamkeit dauerhaft wohl kaum großer kommerzieller Erfolg beschienen sein wird. Systemisch betrachtet mutet es auch seltsam an, dass der im Supermarkt repräsentierte Verpackungswahnsinn mittelfristig in Stühlen zwischengespeichert wird.

Für die 3,6 Kilogramm Stuhl sind das beispielsweise 7200 fein säuberlich vom Karton getrennte Bio-Joghurt-Becher. Ein Stuhl als Endlager für Plastikmüll? Mitnichten, natürlich ist die so kaskadierte Plastikmasse wieder zu „100 Prozent“ rezyklierbar. Dann sind wir ja beruhigt. Eine Rücknahme der Stühle wird vom Hersteller angeboten. Weitere graue Stühle darf man sich allerdings nicht erwarten – so wie der Produktionsabfall gehen diese Stühle dann an ein Abfallunternehmen anstatt wieder in den Stuhlproduktionsprozess. Irgendwas wird daraus schon werden. Vielleicht ist in fünf oder zehn Jahren dann der Joghurtbecher grau, und die Stühle sind wieder weiß. Wir werden sehen.

Eine andere Möglichkeit, aus Plastikabfall Stühle zu machen, ist der vom englischen Lifestylemagazin „Wallpaper“ mit dem Design Award 2021 ausgezeichnete „Bell Chair“ von Konstantin Grcic für den italienischen Hersteller MAGIS. Anstatt „post-consumer“ wird hier „post-industrial“ Material verwendet. Dabei handelt es sich um Kunststoffmaterial, das in der Produktion abfällt. Das erklärt dann wohl auch die Preiskategorie „Best Use of Material“, bei dem der Stuhl in guter Gesellschaft mit anderen Kunststoffstühlen sich den Podestplatz teilt.

Es mutet seltsam an, dass Plastikstühle in Zeiten der Klimakrise zum Vorzeigeobjekt der Weltrettung geraten. Solcherart hat auch ursprünglich der Designer reagiert, als ihm das Projekt angetragen wurde. Der „Bell Chair“ spielt eine Gewichtsklasse unter dem „Tip Ton RE“ und ist typologisch ein „Monobloc“. Das sind die weißen, blauen oder grünen Billig-Gartenkunststoffstühle aus dem Baumarkt, die zumeist an ihre Urahnen aus Teakholz erinnern wollen. Die Zuschreibung, dass es sich hierbei um den meistverkauften Stuhl der Welt handelt, ist wohl eher ungenau, denn wenn man genau hinsieht, variiert das Genre dann doch ein wenig.

Große Stückzahlen sind jedoch Voraussetzung, damit die erheblichen Spritzgusswerkzeugkosten entsprechend schnell abgeschrieben werden können. Im Minutentakt wird von einem Roboterarm ein „Bell Chair“ aus einer gigantischen Maschine gehoben und auf den Vorgänger gestapelt. Die Maschine wird ebenfalls mit Polypropylen gefüttert, hier allerdings mit Material, das ein italienischer Autozulieferer und die Firma MAGIS selbst als Produktionsabfall haben. Wenn man den Stuhl umdreht, dann sieht man die stolze Inschrift des neuen Zeitalters: „Made from industrial waste. Designed for a circular economy.“

Es gibt noch einen dritten Weg des Greenwashing: Plastik aus den Ozeanen. Wem der Müll vom Supermarkt nicht dreckig genug ist, der greift zu dem Kunststoff, der in den Ozeanen treibt oder von Sandstränden aufgesammelt wird. Die Entfernung dieser Umweltsünde ist ehrenhaft, als Materialquelle der Zukunft ist sie nicht geeignet. Die Reparatur der Welt kann wohl nicht dadurch gelingen, dass zuerst Mengen an Müll erzeugt werden, die wir in die Umwelt bringen, um sie dann heroisch in Stühle und andere Artefakte, die etwas länger leben, zu transformieren.

Wer einen Gartenstuhl braucht und sich Distinktionsgewinn durch das Plastik erhofft, das schon in großen Mengen in Walen und kleinerem Getier aus den Meeren gefischt wurde, der kann zu einem anderen Vertreter der Kategorie nachhaltige und verantwortungsvolle Möbel greifen: der Neuauflage eines dänischen Gartenstuhlklassikers von Nanna & Jørgen Ditzel aus dem Jahr 1955. Der Stuhl posiert in der Neuauflage von 2019 mit den Netzen, die für Überfischung der Weltmeere und die Dominanz des globalen Nordens bei der Nahrungsbeschaffung stehen.

19. Februar 2021 Spectrum

Das grüne Bauhaus

„Erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft“: Walter Gropius' Aufforderung ist grundlegend für das New European Bauhaus. Das EU-Projekt will Nachhaltigkeit und Ästhetik beim Bauen vereinen – die Beteiligung von Bürgern ist ausdrücklich erwünscht.

Die Gründung des Staatlichen Bauhauses in Weimar durch den Architekten Walter Gropius im Jahr 1919 wurde mit einem Flugblatt verlautbart. Das als Manifest verfasste Programm zierte ein expressionistischer Holzschnitt von Lyonel Feininger, er zeigt eine Kirche mit Sternen darüber. Walter Gropius' Vision verdichtet sich im letzten Absatz: „Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.“

Die Bauhausbewegung wurde 1933 durch die Nationalsozialisten gestoppt. In der kurzen Zeit ihres Bestehens war sie als eines der prägenden Epizentren der Moderne in die Kunst-, Design- und Architekturgeschichte eingegangen. 1937 wurde in Chicago das „New Bauhaus“ neu gegründet und später als Institute of Design an der Universität von Illinois weitergeführt. Das Signet des Bauhauses, entworfen 1922 von Oskar Schlemmer, wird nach den Standorten Weimar, Dessau und Berlin ein letztes Mal an einen neuen Ort angepasst: „the new bauhaus chicago“. Heute noch prangt darauf das Zitat des ausgewanderten Bauhäuslers László Moholy-Nagy: „Wir akzeptieren die Herausforderung des technischen Fortschritts mit seiner Anerkennung der sozialen Verantwortung.“

Als die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union 2020 die Idee zu einem „New European Bauhaus“ (NEB) vorstellt, ruft sie dazu auf, den Green Deal mit künstlerischen Strategien näher an die Bürgerinnen und Bürger zu bringen: „Das Projekt ,Neues Europäisches Bauhaus‘ ist ein Hoffnungsträger. Wir wollen dabei herausfinden, wie wir nach der Pandemie besser zusammenleben können. Es geht darum, Nachhaltigkeit und Ästhetik zu vereinen, um den europäischen Grünen Deal in den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger und auch in ihrem Zuhause Realität werden zu lassen. Wir brauchen alle kreativen Köpfe: Designer, Kunstschaffende, Wissenschaftler, Architekten sowie Bürgerinnen und Bürger sollen zusammen das Neue Europäische Bauhaus zu einem Erfolg machen.“ Das Neue Bauhausprojekt möchte inspirieren und nicht belehren. Daher hat es sich auch zum Ziel gesetzt, möglichst viele Akteure einzubinden, zuzuhören und gelungene Beispiele zu sammeln. Das Neue Europäische Bauhaus ist für alle offen und möchte vor allem auch Disziplinen übergreifende Synergien unterstützen.

Der Ideengeber des Neuen Europäischen Bauhauses ist ein Klimaforscher. Hans-Joachim Schellnhuber war Direktor des renommierten Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und hat mit dem Bund Deutscher Architekten das Postulat „Haus der Erde“ (Berlin 2019) publiziert. Es fordert eine Kultur des Experimentierens und politische Versuchsräume. Eine vollständige Entkarbonisierung wird ebenso angestrebt wie eine Kreislaufwirtschaft, in der die benötigten Materialien vollständig wiederverwendbar oder kompostierbar sein sollen. Auch das Wiederverwenden ganzer Bauteile wird vorgeschlagen. All das kann nur durch zivilen Ungehorsam gegen die bestehenden Praktiken und Lobbys im Bausektor gelingen.

Das „Haus der Erde“ wird durch seine Forderung, einen sinnlich wahrnehmbaren Ausdruck für das Verantwortungsgefühl zu finden, zur Inspiration der drei Eckpfeiler des NEB: Nachhaltigkeit – Ästhetik – Teilhabe. Schellnhubers Vision hat eine Initiative mit möglicher großer Hebelwirkung auf europäischer Ebene katalysiert. Seine Forschung zum Thema Klimaschutz und Bauen verfolgt er mit dem Projekt „Bauhaus der Erde“. Auch ihm schwebt, wie Gropius, ein Gesamtkunstwerk vor, nichts weniger als eine Bauwende. Sein Bauhaus wird anstatt Werkstätten Labors haben. Und das „Bauhaus der Erde“ wird die Politik beraten und sich in Klimafragen engagieren. Er sagt ganz klar, dass die Klimafrage von der gebauten Umwelt entschieden wird. Er wünscht sich ikonische Gebäude, die als Wertstofflager für die lokale Kreislaufwirtschaft dienen. Die Stadt der Moderne, für die der Kohlenstoffvorrat massiv abgebaut wurde, muss ersetzt werden durch das „Bauhaus der Erde“. Wir brauchen Baustoffe, die wie Holz Kohlendioxid speichern, und nicht Baustoffe wie zum Beispiel Beton und Stahl, für deren Herstellung enorme Mengen Kohlendioxid in die Atmosphäre gehen. Die Stadt der Zukunft besteht aus Gebäuden, die als globale Kohlenstoffsenken dienen.

Durch das Narrativ des Neuen Europäischen Bauhauses werden Architektur- und Designschaffende zuallererst angesprochen. Die Aussicht, zu einem der fünf Pilotprojekte zu gehören, die das Neue Bauhaus als Epizentren der Idee finanzieren und unterstützen wird, schafft einen großen Resonanzraum. Die Europäischen Dachorganisationen für Design und Architektur, die BEDA (Bureau of European Design Associations) und die ACE (Architects' Council of Europe), haben sich als Partnerorganisationen angeboten, um die Idee zu verbreiten und durch Diskursbeiträge zu unterstützen. Der Präsident des ACE, Georg Pendl: „Gerade wir als Architekten, die direkt von der Präsidentin der Kommission angesprochen sind, müssen aktiv werden, unser und insbesondere das Potenzial der jungen Generation aufzeigen, um die ,Renovation Wave Strategy‘ wirklich zu einem kulturellen Projekt zu machen.“ Der Sekretär der BEDA, Martin Fössleitner: „Ja, es ist sehr fein, dass es diesen Prozess gibt, dass unterschiedliche Disziplinen miteinander in Dialog treten, und dass dem technokratischen Bewusstsein eine Designkomponente zur Seite gestellt wird.“

Eine lesenswerte Analyse mit dem Titel „A New Bauhaus for a Green Deal“ (2020) ist auf der Homepage der BEDA zu finden. Die Direktoren des AZW – Architekturzentrum Wien und des MAK – Museum für angewandte Kunst in Wien sind ebenfalls lobender Worte. Angelika Fitz wünscht sich eine Förderschiene für gute Praxis. Vorzeigeprojekte, wie das Upgrade eines sozialen Wohnbaus von Lacaton & Vassal im Grand Parc Bordeaux, könnten so hundertfach multipliziert werden. Außerdem fordert sie auch eine Stärkung der Vermittlungsinstitutionen.

Christoph Thun-Hohenstein: „Die Initiative eines Neuen Europäischen Bauhauses kommt zur rechten Zeit. Sie schafft Bewusstsein, dass wir nach Corona mit ganzheitlichen Konzepten eine neue Moderne bauen müssen und für die Gestaltung dieser Klima-Moderne maßgeblich auf Kunst und vor allem auf angewandte Sparten wie Design und Architektur angewiesen sind. Jetzt braucht es kühne Ideen, mutige Experimente und ambitionierte Kooperationen, für die das Neue Europäische Bauhaus einen vielversprechenden Rahmen bietet.“

Das Neue Europäische Bauhaus kann ein Momentum für die „Große Transformation“ entwickeln.

6. Dezember 2020 Spectrum

Kreislaufwirtschaft: Was genau bedeutet das?

Früher sagte man „Aus Alt mach Neu“, heute heißt es Recycling, Upcycling, Downcycling, Remanufacturing – wer kennt sich in der Wiederverwertung noch aus? Eine Zusammenschau.

Vor bald zwei Dekaden schrieben die Kreislaufwirtschaftspioniere William McDonough und Michael Braungart den Ökodesignklassiker „Cradle to Cradle: Remaking the Way We Make Things“ (2002). Ein amerikanischer Architekt, der für Weltkonzerne ökologische Architektur umsetzt, und ein deutscher Chemiker, der für Greenpeace gearbeitet hat, fassen Überlegungen von Ecodesign und Architektur in ein stringentes Schema, das sie auch gemeinsam in den USA und Europa zu zertifizieren beginnen. Damit waren sie ihrer Zeit voraus. Einige Unternehmen wurden seitdem von der Idee zu neuen Geschäftsmodellen und -praktiken inspiriert, zertifizierten Bürodrehstühlen oder Teppichfliesen, die man am Ende ihres Lebenszyklus an die Hersteller retournieren kann und soll. Reinigungsmittel und Klopapier wurden so optimiert, dass sie problemlos in den natürlichen Wasserkreislauf zurückgeführt werden können.

Die kapitalistische Heilsversprechung ist, wenn unsere Häuser und Gegenstände wirklich kreislauffähig wären und wir dies durch entsprechende Rücklaufsysteme gewährleisten, denn dann bräuchten wir das lineare Wirtschaftsmodell „Sell more, sell faster“ nicht zu verlassen. Eine Entkopplung von Umweltauswirkung und Wachstumsparadigma. Als Beispiel dient Braungart der Kirschbaum, der verschwenderisch in Blüte steht, aber durch den Überfluss gleichzeitig die Nahrung für den biologischen Kreislauf liefert. Aus den Produkten (Blüten) wird wieder Nahrung (Erde). Das ist auch die Inspiration für alle technischen Kreisläufe, aus Abfall soll Nahrung werden. Produkte sollen nicht weniger schlecht sein, sondern ihre Umwelt verbessern, so wie der Kirschbaum.

Dass es an der Zeit ist, sich in Design und Architektur mit der Kreislaufwirtschaft ernsthaft zu beschäftigen, zeigt der Europäische „Green Deal“. In dessen Windschatten gingen in Österreich die Wogen in einem eher symbolischen Fall hoch, weil die Klimaschutzministerin gern ein Pfand für PET-Plastikflaschen einführen möchte. Die Wirtschaftskammer, der Einzelhandel und Interessensvertretungen der Plastikindustrie empörten sich. Die im Zuge dieser Diskussion formulierten Ängste und Widerstände sind ernst zu nehmen, denn sie zeigen, dass die handelnden Akteure in keiner Weise den notwendigen Paradigmenwechsel von linearer Wirtschaft zur Kreislaufwirtschaft unterstützen. In einer Kreislaufwirtschaft müssen wir uns darum kümmern, dass die in die Welt gesetzten Objekte zu den Herstellern zurückgehen. Die PET-Flasche soll hier auch nicht im Mittelpunkt stehen, ich verwende sie als Variable X, in die Sie ein anderes Produkt einsetzen könnten: einen Stuhl, eine Leuchte, einen Bodenbelag, ein Fenster oder sonst etwas aus dem Bereich von Design und Architektur. Wir nehmen also Rohstoffe, produzieren ein Produkt und verkaufen es. Vielleicht gibt es noch eine lächerliche Entsorgungsgebühr zu entrichten, das schlagen wir auf den Verkaufspreis auf. Fertig. Sell more, sell faster.

Heute fürchten sich Produktionsbetriebe davor, die erzeugten Dinge zurückzubekommen: Retourware, Fehlerbehebung und Verluste. Das Beispiel der PET-Flasche lehrt uns aber: Wenn die Flaschen zurückkommen, kann man neu abfüllen oder die rezyklierten Materialien einschmelzen und neue Flaschen daraus formen. Von der Kreislaufwirtschaft kennen viele nur den Wertstoffkreislauf des Recyclings. Wartung und Pflege, Upgrades, Wieder- und Weiterverwendung, aber auch Wiederaufarbeitung (Remanufacturing) gehören zum Werkzeugkoffer des Designs für die Kreislaufwirtschaft. Produkte für einen oder mehrere dieser Kreisläufe zu designen bedeutet, zukünftige Geschäftsfelder zu erschließen, aber auch, eine langfristige Kundenbindung zu etablieren. Gebäude muss man nicht abreißen, wenn sie so gestaltet sind, dass sich später andere Nutzungsmuster darin unterbringen lassen. Beleuchtungssysteme können statt verkauft nur in Lichtmiete genommen werden. Der Hersteller sorgt für die Wartung, Reparatur und überdurchschnittliche Lebensdauer am Einsatzort. So wie bei den Computern und Mobiltelefonen etablieren sich Serviceanbieter, die gebrauchte Geräte wieder mit Garantie weiterverkaufen. Dabei haben sie vielleicht sogar eine höhere Marge als die Originalhersteller.

Materialien, die ohne Qualitätsverlust im Kreislauf geführt werden können, sind ein Schlüsselfaktor für das Gelingen des Paradigmenwechsels unserer Wirtschaft. PET ist so ein Material, das uns heute schon in Sicherheit wiegt, mit einem Fuß in der Kreislaufwirtschaft zu sein. PET-Getränkeflaschen können dank österreichischer Ingenieursleistung und hervorragender Aufbereitungsanlagen schon zu 100 Prozent aus Rezyklat hergestellt werden. Und unser Wanderpulli ist natürlich auch aus 100 Prozent rezyklierten PET-Flaschen, genauso wie ein Kunststoffstuhl, der aus Cola-Flaschen produziert wird. Alles recycelt und alles aus PET-Flaschen – wie geht sich das aus? PET-Flaschen sind zwar im besten Fall aus 100 Prozent Rezyklat, aber nicht 100 Prozent der gesammelten PET-Flaschen kommen in die Wiederaufarbeitung, sonst brauchten wir keine Pfandsysteme zu überlegen. Rechnet man Verschlüsse, Getränkereste und Etiketten weg, bleiben etwa 90 Prozent PET. Aus diesem kann man 90 Prozent PET in Lebensmittelqualität herstellen. Anders gesagt: Nach sieben idealen Recycling-Zyklen sind weniger als 50 Prozent höchster PET-Qualität vorhanden. Ungefähr 15 Prozent der PET-Flaschenmenge gehen etwa in die Textilproduktion.

Eine funktionierende Kreislaufwirtschaft stellt man sich anders vor, und die grün gedruckten Schönfärbereien wägen uns in dem naiven Glauben, dass Einwegplastik unendlich wiederverwendbar ist. Kleidung und Plastikstühle sind „Downcycling“ von hochwertigem Food-PET. Würde unsere Plastikflasche, die hier so vorbildhaft im Kreislauf geführt wird, ein „Cradle to Cradle“-Zertifikat und „Gold“ oder „Platin“ bekommen? Leider nein, denn wie Braungart und McDonough schreiben, stimmt in vielen unserer Alltagsgegenstände die Chemie nicht, sie ist sogar toxisch. Denn die Reste des PET-Katalysators sind in einer Konzentration vorhanden, dass sich bestenfalls eine „Bronze“-Zertifizierung ausgeht. Und das ohne Aussicht auf Silber, denn dann müsste das Antimon, ein Schwermetall, das als kanzerogen eingestuft ist und migriert, ganz verschwunden sein. In dieser einfachen Verpackungsform finden sich bis zu 200 unterschiedliche Chemikalien, die in einer Zertifizierung evaluiert werden müssten. Wir müssen unsere Welt neu gestalten, von Grund auf.

19. September 2020 Spectrum

Was heißt da „Design“?

Design ist in Österreich ein freies Gewerbe. Es ist jedoch so wenig attraktiv, dass zahlreiche Industrial Designer ihr Geschäft lieber als Werbeagentur ausweisen. Eine Umschau.

„Es gibt Berufe, die mehr Schaden anrichten als der des Industriedesigners, aber viele sind es nicht.“ So fängt das Buch „Design for the Real World“ (1970) von Viktor Papanek an, eine visionäre Rhetorik zum notwendigen sozialen Wandel und zu der sich daraus verändernden Rolle von Designschaffenden. Heute, 50 Jahre später, ist unser Ressourcenverbrauch durch unseren Lebensstil derart angewachsen, dass der „World Overshoot Day“ für Österreich heuer auf den 8. April gefallen ist. Wir leben so, als hätten wir drei Erden, von denen wir Ressourcen beziehen können, und deren Wälder und Meere unsere CO2-Eskapaden in Biomasse umwandeln würden. Unser Lebensstil ist nicht zukunftsfähig, und eigentlich wäre es eine lohnende Aufgabe, einfach alle Aspekte unseres Lebens neu zu entwerfen.

So wie das Design der 1970er inspiriert war durch den neuen Werkstoff Plastik, der die Designikonen des neuen Lebensgefühls ermöglichte, so müssten wir heute ein neues Lebensgefühl gestalten, das ohne fossile Werkstoffe und Energien auskommt. Eine Wirtschaft, die nicht linear ist, sondern in biologischen und technischen Kreisläufen funktioniert. Dazu braucht es gänzlich andere Konzeptionen von Produkten und auch eine Veränderung der Geschäftsmodelle in der Wirtschaft. Design ist ein wichtiger Begleiter und Ideengeber dieser kommenden industriellen Revolution, die die Europäische Union als „Green Deal“ ausgerufen hat. CO2-Neutralität bis 2050 als Designherausforderung einer letzten Designgeneration vor dem Klimakollaps.

Design ist in Österreich ein freies Gewerbe. Es ist so wenig attraktiv, dass zahlreiche österreichische Staatspreisträger für Design lieber als „Werbeagentur“ ihre wirtschaftliche Tätigkeit legitimieren. Das entbehrt nicht einer gewissen Komik, denn für Papanek war nur noch die Werbung schlimmer als das Industrial Design. Warum ist das Designgewerbe für die führenden Designstudios des Landes nicht attraktiv? Die Antwort liegt wohl in der von Partikularinteressen getriebenen Formulierung im Gewerberecht: „Entwurf der äußeren Form von Produkten nach rein optischen und geschmacklichen Gesichtspunkten ohne konstruktive Planungstätigkeit unter Ausschluss jeder einem reglementierten Gewerbe, insbesondere den Ingenieurbüros (beratende Ingenieure), vorbehaltene Tätigkeit (Design).“ Auf Nachfrage, was man damit tun kann, habe ich folgende Erklärung bekommen: „Damit können Sie Krawattenmuster designen.“ Nicht gerade ein Weltrettungsgewerbe. Der vollständige Gewerbewortlaut von Werbeagenturen lautet: „Werbeagentur“ – Punkt. Keine Restriktionen auf Geschmack und Optik. Keine Drohungen von der Ingenieurskammer. Es ist ein Metier, in dem Branding, Markenentwicklung, Strategiebildung, Recherche und Innovation selbstverständlicher Teil der Aufgabenstellungen sind.

Österreichs Kunstuniversitäten in Linz und Wien bilden gemeinsam mit der Fachhochschule in Graz seit Jahrzehnten die Akteure des Industrial Designs aus. Industrial Design ist in Wien und Linz ein ingenieurwissenschaftliches Studium, in Graz ein Kunststudium. Den schönsten Titel bekommt man in Wien: „Magistra designationis industrialis“ beziehungsweise „Magister designationis industrialis“, abgekürzt jeweils „Mag. des. ind.“, in Linz wird man Diplomingenieur oder -ingenieurin (DI), in Graz Master of Arts and Design. Alle Studien heißen „Industrial Design“, die Professoren haben einen unterschiedlichen Zugang zur gewerberechtlichen Frage. Ganz im Sinne von Papanek meint der Grazer Professor Thomas Feichtner: „Grundsätzlich soll jeder, der sich dazu berufen fühlt, auch Produkte gestalten können. Ich kenne kaum Industrial Designer, die nicht studiert haben. Daraus folgere ich, dass die Berufsbezeichnung Industrial Designer nicht missbräuchlich verwendet wird.“

Thomas Feichtner ist Staatspreisträger für Design (Geschmacksgüter); im gleichen Jahr (2011) hat sein Professorenkollege in Linz ebenfalls einen Staatspreis (Konsumgüter) mit seinem Designstudio Formquadrat erhalten. Mario Zeppetzauer sieht die Situation kritisch: „Die Wahlmöglichkeiten, die für eine Gewerbeanmeldung seitens der WKO bestehen, sind unzureichend. Es wird somit individuell das Gewerbe mit der geringsten Abweichung gewählt. Es passt daher weder für Industrial Designer noch für die Orientierung der Kunden.“ Die beiden Professoren sind als Werbegrafikdesigner und Werbeagentur bei der Wirtschaftskammer registriert. Dabei gäbe es für die höchst anspruchsvollen Studienabschlüsse im Industrial Design auch die Möglichkeit, als Ingenieurbüro für Industriedesign ein reglementiertes Gewerbe auszuüben. In Österreich sind nur 27 solcher Büros tätig. Designer berechnen eher nicht die Schönheit und möchten für Produkthaftungsfragen nicht belangt werden. Das ist auch nicht, was die Industrie von Designstudios abfragt.

Bleibt noch die Kunst. Der Vorteil: keine Zwangsmitgliedschaft, die Kunst ist frei. Die Kreativwirtschaft Austria (KAT) hat mit dem Ratgeber „Das Handwerk der Kreativen“ die selbst verschuldete Misere gut beschrieben: „Viele Tätigkeiten in der Kreativwirtschaft sind an eine Gewerbeberechtigung gebunden, wobei die Zuordnung besonders bei neuen Geschäftsmodellen nicht immer eindeutig ist und Graubereiche existieren. Produktdesign ist so ein Fall.“ Wie wäre es, wenn sich die Interessensvertretungen der Kreativen, und hier ist auch Designaustria, der Berufsverband der Designer, gemeint, endlich um eine zeitgemäße und zukunftsorientierte Formulierung von Industrial Design kümmern würde?

Laut dem Ministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort wird mit dem Staatspreis Design „der hohen gesellschaftspolitischen und kulturellen Relevanz von Design Rechnung getragen“. Der Gewerbeschein für Design verhöhnt diese Behauptung als Lizenz zum Behübschen. Professor Stefan Diez leitet das Studium Industrial Design (ID1) in Wien. Er möchte das Thema Kreislaufwirtschaft langfristig im Fachbereich verankern. „Der Umbau der linearen hin zu einer Kreislaufwirtschaft ist zweifelsfrei eine der größten Herausforderung unserer Generation: Gleichzeitig haben Designer heute gerade wegen einer überwiegend outgesourcten Produktion einen so großen Einfluss wie nie zuvor darauf, wie Produkte konzipiert, wo, mit was und wie diese hergestellt werden.“ In Graz wird dem Paradigmenwechsel in der Wirtschaft durch die Vertiefung „Eco-Innovative Design“ schon Rechnung getragen. Der Schwerpunkt wird von Ursula Tischner, einer Pionierin des Eco-Designs, betreut.

Im Vorwort zur bundeseinheitlichen Liste der freien Gewerbe gibt es noch einen versöhnlichen Ratschlag für alle Designrebellen: Wenn nichts Passendes zu finden ist, dann kann man auch neue Wortlaute bilden. Das wird auch nötig sein!

8. Februar 2020 Spectrum

CC BY 4.0 oder: Ein Stuhl steht in London

Gesucht: Strategien für einen Wandel zur Kreislaufwirtschaft. Was für den Kunsttischler Thomas Chippendale im 18. Jahrhundert Usus war, sollten wir als Blaupause für die Gegenwart heranziehen.

Am Tag des Brexit zeigte sich der Flughafen Heathrow schon mit neuer Orientierungsgrafik. Der ursprünglich als Europa Terminal (Frederick Gibberd, 1955) errichtete Flughafenteil wurde 2014 in zeitgemäßer und großzügiger Flughafentransparenz (Luis Vidal + Architects) neu eröffnet. Wo früher ein innereuropäischer Grenzübergang kontrolliert wurde, prangt jetzt ein gigantisches, blaues Leuchtschild über die gesamte Länge des Raums: „UK Border“. Beeindruckend selbstbewusste Typografie mit klarer Botschaft. Nichts Kleingedrucktes, keine Hinweispfeile, keine Fahne. Reisende mit europäischen und sonstigen Pässen reihen sich in eine Warteschlange ein. Nach erträglicher Wartezeit steht man vor einer künstlichen Intelligenz. Es geht wahrscheinlich deshalb so schnell, weil die automatisierten Grenzbeamten noch nicht so gesprächig wie ihre menschlichen amerikanischen Kollegen sind. Aber ein Chat mit einem Roboter wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Nach dem Scan von Gesicht und Pass öffnet sich die Glasschleuse. Der letzte Tag auf britischem Boden in der Europäischen Union beginnt. Am Abend werden vor dem Parlament die Fahnen geschwungen werden, europafeindliche Reden gebrüllt, und in der Downing Street 10 werden auf die schwarze Ziegelfassade der Union Jack und ein Countdown projiziert werden. Als letzte Machtgeste beginnt die neue Zeitrechnung nicht um Mitternacht, sondern um 11 p. m. Ortszeit. Immer schon hat es Übergangsriten bedurft, auch wenn diese heute eher über die Abendnachrichten ihre symbolische Wirkung entfalten müssen. Design als Propaganda und Werkzeug der Selbstversicherung einer gespaltenen Gesellschaft. Die englische Ritualforscherin Mary Douglas hat es treffend formuliert: Rituale sind Brücken und Mauern.

Hingegen sind die Museen in London fast utopische Orte, die einen wie die Tate Modern mit dem Slogan „Free and Open to All“ empfangen – das wirkt sich entscheidend auf die Kunstrezeption aus. Auch das Victoria and Albert Museum (V&A) ist nach dem Öffnen nach kurzer Zeit voll; für die permanente Sammlung benötigt man ebenso kein Ticket. Was man hingegen braucht, ist eine Menge Zeit, um die Sammlung des Kunstgewerbemuseums zu durchwandern. Nach Stunden komme ich in ein nicht allzu großes dunkles Zimmer, das von einem prächtigen Bett dominiert wird. Auf einem Wandpodest steht ein dekorativer Esszimmerstuhl. Die Möbel stammen vom Kunsttischler Thomas Chippendale (1718–1779), der sich in die Möbelgeschichte dank eines Katalogs seiner Erzeugnisse eingeschrieben hat. „The Gentleman and Cabinet Maker's Director“ (1754) ist eine Vorlagensammlung von 160 Stichen, die den damaligen Zeitgeist der Aristokratie traf: eine Sammlung von allerlei Möbel, von Bett über Tisch, Sessel und Kastenmöbel aller Größen. Die Begeisterung schlug von der Insel nach Europa und bis nach Amerika über. Das Werk war nicht das erste, aber das umfangreichste seiner Zeit. Das Portfolio an Stilen umfasste das französische Rokoko sowie Designs im chinesischen und gotischen Stil.

Chippendale wandte Strategien an, die heute unter anderen Namen wieder zeitgemäß und innovativ erscheinen. Seine Werkstätte lag in der St Martins's Lane, einer Straße, in der auch andere Möbeltischler ihre Werkstatt hatten. Das Modell der Handwerkerstraßen ist aus den Städten verschwunden, aber allerorts kommen wieder Orte, die als Hub, Co-Working Space oder Accelerator eine Gemeinde gleichgesinnter Geschäftstreibender an einem Platz versammeln. So wie der Mix aus unterschiedlichen Geschäftsideen für alle produktiv sein kann, so hatte vielleicht das Nebeneinander von gleichen Werkstätten eine motivierende Synergie für alle Beteiligten. Zur Zeit der Publikation beschäftigte Chippendale 40 bis 50 Kunsthandwerker. Er agierte als Manager dieser Großwerkstatt – und er kämpfte sicher mit denselben Problemen wie Start-ups heute. Der schottische Kaufmann James Rannie half Chippendale in einer schwierigen finanziellen Phase als Investor aus. Zudem mussten aufgrund der Zahlungsmoral der Aristokratie laufend Finanzengpässe überbrückt werden.

Wollte man heute den „Open Design Catalogue“ mit den aufwendigen Kupferstichen finanzieren, wäre eine Plattform wie „Kickstarter“ die erste Wahl. Die Strategie war im 18. Jahrhundert nicht unähnlich, da sich in der Buchproduktion das Prinzip der Subskription für teure Werke etabliert hatte. Die Namen der Interessenten des Möbelkatalogs wurden in der ersten Auflage namentlich und mit Beruf abgedruckt; eine beeindruckende Liste von vornehmlich anderen Möbeltischlern, die durch ihr Interesse die erste Auflage erst ermöglicht hatten. Ging Chippendale durch die Möbeltischlergasse und sammelte Interessensbekundungen seiner Berufskollegen? Heute fürchtet man sich vor dem Kopieren, hetzt Anwälte aufeinander, investiert Millionen in den Schutz geistigen Eigentums. Chippendale zeigte, dass es anders geht. Die offene Lizenz würde im Rechtsschema der „Creative Commons“ heute als „CC BY 4.0“ veröffentlicht. Das heißt, dass unter der Bedingung der Namensnennung des Designers keine weiteren Rechtseinschränkungen bestehen. Man kann das Werk kopieren, verändern und damit selbst Geschäfte machen. Genau das passierte mit den Vorlagen von Thomas Chippendale.

Im V&A befindet sich ein Stuhl, über dem die Frage steht, ob er denn ein Original sei. Eine Videodokumentation vergleicht die Kupferstiche mit den Details an dem Möbel, versucht eine Einschätzung über die Qualität der Schnitzkunst und kommt schließlich zu dem Schluss, dass nur eine Originalrechnung ein sicherer Beweis wäre. So verbreitete sich die Idee der Chippendale-Möbel weit über die Möglichkeiten der Werkstatt hinaus; statt eines konnten viele Handwerker davon leben. Ist das nicht eine Alternative zu den globalisierten Möbelproduzenten?

Lokale Fertigung, Handwerk und Bioökonomie sind gestern wie heute wichtige Ingredienzien für eine nachhaltige Produktion. Dass die Stühle heute zu Höchstpreisen gehandelt werden, spricht nicht nur für die Qualität ihres Entwurfs, sondern auch für deren Langlebigkeit. Materialen wurden damals lokal nach Verfügbarkeit variiert. Waren die Stühle in London aus Mahagoni, so zimmerten die deutschen Kollegen die Möbel aus Kirschholz. Die Zapfenverbindungen wurden mit einem Leim zusammengefügt, der sogar 100 Jahre später durch leichtes Erhitzen auseinandergebaut werden kann. Ein Stuhl kann überall in der Welt repariert werden, man braucht nur ein gut getrocknetes Stück Holz, aus dem das Ersatzteil hergestellt wird.

Wir benötigen dringend neue Strategien und Modelle für einen Wandel zur Kreislaufwirtschaft. Das Beispiel Chippendale zeigt eine Blaupause, die mit den heutigen Technologien noch größere Wirkung entfalten könnte. Es braucht nur das Vertrauen in die Wirkung von Kreativität als Gemeingut.

13. Januar 2020 Spectrum

Auf die Dächer, fertig, Strom!

Eine Million Solardächer: So lautet das neue Ziel der österreichischen Klima- und Energiestrategie #mission2030. Will man das erreichen, führt an der Fotovoltaik kein Weg vorbei. Und wie kann das aussehen?

Am Beginn des Dokumentarfilms „Die 4. Revolution – Energy Autonomy“ (2010) fährt der deutsche Politiker und Vorsitzende des Weltrates für erneuerbare Energien, Hermann Scheer, im Taxi durch Los Angeles und ärgert sich über die zahllosen Hochhäuser, die viel Energie verbrauchen, aber keine erzeugen. All diese Gebäude könnten mit einer Fotovoltaikfassade Strom erzeugen. 1999 bekam Hermann Scheer für sein Engagement um die Energiewende den alternativen Nobelpreis. Mitte der Neunzigerjahre schaffte es seine Idee der 100.000 Solardächer für Deutschland in das Wahlprogramm der SPD. Die österreichische Klima- und Energiestrategie #mission2030 (2018) bediente sich erneut dieser politischen Idee und machte sie zum Leuchtturmprojekt.

Die vergangene Woche neu angelobte österreichische Bundesregierung geht es aufgrund der Dringlichkeit der Klimakatastrophe nun etwas engagierter an: eine Million Dächer. Die Fotovoltaik wird so ein wichtiger Lösungsteil des Ziels bis 2030, den gesamten nationalen Strombedarf aus erneuerbaren Energiequellen zu decken. Der Anteil an Solarstrom soll dann elf Terrawattstunden pro Jahr betragen; derzeit beträgt er 1,4. Linear gedacht, heißt das jedes Jahr rund eine Terrawattstunde zusätzlich an Solarstrom. Der starke politische Wille ist neu, die Erkenntnis und wissenschaftliche Grundlage jedoch nicht.

Schon 2018 ist in der „Fotovoltaik Technologie-Roadmap“ des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie zu lesen, „dass nahezu alle besonnten und baulich geeigneten Dach- und Fassadenflächen benötigt werden, um die gewünschten Solarstrommengen zu erzeugen“. So gingen die Studienautoren von einer Projektion aus, die für 2050 mit rund 30 Terrawattstunden Solarstrom kalkulieren. Technologiebedingt ist es schwierig, den Flächenbedarf genau anzugeben; anschaulicher als die Energiezahlen ist es aber. Wien hat zum Beispiel eine Stadtfläche von 415 Quadratkilometern, davon sind 53 Quadratkilometer Dachflächen. 34 Quadratkilometer sind sehr gut oder gut für die Nutzung von Solarthermie oder Fotovoltaik geeignet. Das theoretische Fotovoltaikpotenzial in Wien beträgt beachtliche 5,4 Terrawattstunden pro Jahr, das entspricht der Hälfte der gewünschten solaren Energie 2030.

Jedes Dach in Wien ist im Solarpotenzialkataster erfasst, dort kann auf Knopfdruck die mögliche Menge an solarer Energie nachgeschaut werden. In der Stadt ist die Entscheidungsfindung zum Bau einer Solaranlage sicher anstrengender als beim Eigenheim auf der grünen Wiese. So braucht es auch hier neue Modelle der Eigentümerschaft von dezentraler Stromerzeugung. Die Informationsplattform PV-Gemeinschaft.at ist eine gute Anlaufstelle und stellt Musterverträge für verschiedene Betreibermodelle zur Verfügung.

Plug-and-play-Solarpaneele

Ein kleiner Schritt ohne Bürokratie sind Plug-and-play-Solarpaneele. Ein solches hat 2019 eine Nominierung zum Österreichischen Staatspreis Design erhalten. Das „Solmate“ von EET steckt man einfach in die Steckdose, eine Batterie ist ebenfalls Teil des Systems. Das über das Balkongeländer gehängte Solarpaneel ist jedenfalls ein sichtbarer Protestbanner für die Zukunft des solaren Stroms, und man hat durch die intelligente Steuerung auch immer das gute Gefühl, den erzeugten Strom wirklich selbst zu verbrauchen. Mit größeren Solaranlagen ist das dann nicht mehr so einfach der Fall. Ein Durchschnittshaushalt braucht im Jahr etwa 3000 Kilowattstunden Strom. Auf der Homepage von Fotovoltaik Austria findet sich ein praktischer Eigenverbrauchsrechner, der bei günstiger Ausrichtung der Solaranlage eine Fläche von 20 Quadratmetern errechnet. Ohne Speicherbatterie müsste die Anlage rund zwei Drittel des Ertrags im Netz einspeichern; das Verhältnis lässt sich mit Batterien verbessern.

Der Zukunftsdenker Jeremy Rifkin, der kürzlich das Buch „The Green New Deal“ veröffentlichte, plädiert für vollkommene Dezentralität und Autarkie. Um resilient und autark zu sein, rät er zum Schalter, um sich vom zentralen Netz abzutrennen. Wer dieser Idee folgen möchte, ist gut mit dem Know-how der Fotovoltaikpioniere Lukas Pawek und Franz Spreitz bedient. Auf ihrer Homepage autarkie.at findet man den besagten Netztrennschalter als auch Hinweise, wie eine hundertprozentige Selbstversorgung mit Strom und heutigen Technologien umsetzbar ist. Das Bottom-up-Wissen, Open Hardware und Open Source Software gehören offiziell stärker unterstützt, um die Energiewende selbstbestimmt voranzutreiben. Ein Angelpunkt dieses alternativen Netzwerks ist auch die genossenschaftlich organisierte Firma „Wohnwagon“, die fahrbare Tiny Houses baut und zeigt, dass Autarkie weitestgehend möglich ist – alles nur eine Frage des zukünftigen Lebensstils. Wer lieber seinen Solarstrom mit andern teilt, der bekommt bei den Ökostromanbietern E-Friends aus dem Waldviertel einen schönen Vorgeschmack auf die Zukunft. Die App des „Österreichischer Solarpreis“-Gewinners 2019 zeigt an, wer in der Nachbarschaft gerade Strom erzeugt. Wir emanzipieren uns von den wenigen großen Stromanbietern und werden zu solidarischen Stromanbietern – auch das ist Teil der Solarstromrevolution.

Rund 95 Prozent aller Solaranlagen werden auf bestehende Dächer geschraubt. Diese Anlagen werden auch in Zukunft die Energiewende vorantreiben. Aus Architektur- und Designsicht sind aber vor allem bauwerkintegrierte Solaranlagen (BIPV) interessant. Diese repräsentieren im Moment unter ein Prozent aller Anlagen. Damit es mehr davon gibt, unterstützt ein Innovationsaward BIPV. Ein Preisträgerprojekt ist die Renovierung des TU-Hochhauses in Wien mit einer Fassade, die aus dem Bestandsbau das weltweit erste Plus-Energie-Hochhaus macht. Geplant hat das Projekt die Arge Kratochwil-Waldbauer-Zeinitzer, die Bauphysik hat das Büro Schöberl & Pöll gerechnet. Dass Architektur und Bauherrenschaft nicht gedankenlos für die Zukunft bauen, beweist ferner das Projekt für den Windparkbetreiber Püspök Group im Burgenland. Der von Ad2-Architekten Doser-Dämon gebaute Firmensitz zeigt eine überzeugende Einbindung der Solarstromerzeugung in die Architektur. Der Sonnenflügel löst sich vom Baukörper ab und umschließt mit einer großen Geste einen offenen Innenhof. In seiner Materialität und Präzision bildet er dennoch eine Kontinuität mit den anderen Glasfassaden. Eine Inspiration für die weitere Million Solardächer bis 2030.

15. Dezember 2019 Spectrum

Friedensreich Hundertwasser: Revolte gegen die Käfige

Auch ohne Architekturdiplom soll jeder bauen können. Und: Mieter sollen die Fassade umgestalten dürfen, so weit ihr Arm aus dem Fenster reicht. Friedensreich Hundertwasser (1928 bis 2000): über die Selbstgefälligkeit der Architektur und die Entfremdung der Handwerkskunst.

ielleicht ist über die Aufregungen zu Hundertwassers Bauten schon das Gras gewachsen. Sein „Hundertwasserhaus“ in Wien ist auch mehr als 30 Jahre nach seiner Errichtung ein Touristenziel erster Rangordnung und wird im selben Atemzug wie das Schloss Schönbrunn, das Belvedere oder der Prater genannt. Vor allem für Reisegruppen ist ein Besuch dieses „außergewöhnlichen, fast eigenwillig anmutenden Hauses“ Pflicht. Pflicht war es auch lange, dass die Architektur- und Kulturkritik über Hundertwassers Bauten wenig wertschätzende Artikel publizierte.

Eine Auswahl an Zuschreibungen, die in der „Presse“ zu seinen Bauten erschienen: „Ornamentale Zwangsbeglückung, Ökologiebarock, Beulenpest, Spielzeugburg, Anarchie und Verrücktheit, Austoben der kindlichen Phantasie, Kitsch, Amateurarchitektur eines Postbeamten oder Zöllners, Öko-Trend, bequeme Behübschung der Dächer und Fassaden“. Hundertwasser, der Hofnarr und Naturapostel. Die breite Resonanz seiner Bauten wurde als „auffällige Zustimmung von der Straße, die gerade in der bildenden Kunst noch nie was Gutes bedeutet hat“, abgetan. „Die Presse“ berichtete am 9. September 1985 von Besucherschlangen vor dem neu eröffneten „Hundertwasserhaus“ und 70.000 Neugierigen an einem Wochenende. Das ist wohl als eindrucksvolle Bestätigung des schlechten Architekturgeschmacks der Wiener zu lesen.

Hundertwasser musste nicht nur einstecken, er konnte auch austeilen. Schon 1958 stellt er in einer Rede seinen programmatischen Text „Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur“ vor. Jeder soll bauen können, auch ohne Architekturdiplom, und die Verantwortung für sein selbst gebautes Gebilde übernehmen. Mieter sollen die Freiheit haben, sich aus dem Fenster zu lehnen, und so weit ihr Arm reicht die Fassade umgestalten dürfen. Hundertwasser ruft zur Revolte gegen die Käfigkonstruktionen, gegen die Selbstgefälligkeit der Architekturmeisterwerke und gegen die Entfremdung der Handwerkskunst auf. Das Manifest ist vor allem auch ein Feldzug gegen die geometrisch gerade Linie: „Das Lineal ist das Symptom der neuen Krankheit des Zerfalls. Wir leben heute in einem Chaos der geraden Linien, in einem Dschungel der geraden Linien.“ Daraus wird sich viele Jahre später seine Rolle als Architekturdoktor bilden, wo er, viel kritisiert, wie ein archaischer Schamane versucht, die von ihm verhasste Architektur zu heilen. Das Manifest endet mit dem Satz: „Und erst nach der schöpferischen Verschimmelung, von der wir viel zu lernen haben, wird eine neue und wunderbare Architektur entstehen.“ Auf dem Weg dahin setzt es zunächst 1967 bei der „Nacktrede für das Anrecht auf die dritte Haut“ weitere Prügel für die Architekten: „Wir leben in Gebäuden, die verbrecherisch sind, und die von Architekten gebaut sind, die wirklich Verbrecher sind.“

Grasdach in „Wünsch Dir was“

Hundertwasser fordert eine Architektur, die auch nach dem Einzug der Menschen weiterwachsen kann. 1972 nützt Hundertwasser eine Einladung zur populären Fernsehsendung „Wünsch Dir was“, um seinen Architekturzugang einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Am Modell einer grauen Zinskaserne demonstriert er seine Vision. Er nimmt das Satteldach ab und stellt stattdessen eine Struktur mit Grasdach und Bäumen über das Haus. Wortreich erklärt er, wie das funktionieren kann, und fügt dem Haus noch einen ebenfalls mit Gras überwachsenen Säulengang vor.

Als in den 1970er-Jahren die erfolgreiche Welttournee seiner künstlerischen Arbeiten beginnt, sind neben seiner bildnerischen Kunst auch Architekturmodelle vertreten. Gebaut wurden sie unter anderem von dem Filmarchitekten Peter Manhardt, der für den ORF, aber auch für den Architekten Karl Schwanzer arbeitete. Joram Harel, Hundertwassers Förderer und Manager, hatte seine Studioarchitektur für eine Sendung von Arik Brauer gesehen. Manhardt hat für Hundertwasser Machbarkeitsstudien seiner Architekturtypologien entwickelt, wie zum Beispiel das Augenschlitzhaus, das Spiralhaus, das Terrassenhaus oder das Grubenhaus. Als Hundertwasser in Neuseeland eine Farm mit weitläufiger, von Abholzung gezeichneter Landschaft erwirbt, ergibt sich die Möglichkeit, das erste Haus zu realisieren. Ein bestehender Kuhstall bekommt ein Humusdach und Wände, in die gebrauchte Flaschen eingesetzt sind. Das 1979 errichtete „Bottle House“ entsteht aus vorgefundenen, lokalen Materialien und gab der Natur den Platz des Bauwerks zurück. Über viele Jahre forstet Hundertwasser die kahlen Wiesen mit Tausenden Bäumen wieder zu einem Mischwald auf. Für den urbanen Kontext entwickelt er ab 1973 die schräg aus dem Haus ragenden „Baummieter“. Sie bezahlen ihre Miete mit Sauerstoff und sollten den Humus von Hundertwassers Humustoilette nutzen. Auch dazu gibt es ein Manifest, aus dem die bekannte Formulierung „Scheiße ist Gold“ stammt, sowie eine Gebrauchsanleitung zum Selbstbau und die Frage: „Warum urinieren wir und scheißen wir in einen einzigen Behälter, wo unser Verdauungssystem vorher beides sorgfältig trennt? Diese Trennung muss doch einen Sinn haben?“ Für den Urin erdachte er gemeinsam mit seinem Freund, dem Biologen Bernd Lötsch, eine Pflanzenkläranlage. Dass diese künstlerisch/wissenschaftliche Forschung keine Spinnerei war, zeigt sich heute, mehr als 40 Jahre später, am Interesse von Paris, die Stadterweiterungsgebiete zukünftig mit Urinseparation zu konzipieren. Der Grund ist die Überdüngung der Meereseinmündung der Seine durch Stickstoff im Abwasser. Europa hat ungefähr 60 solcher Todeszonen in Küstennähe. Die Zeit der Humustoiletten wird auch noch kommen.

Hundertwasser sah seine Arbeit als eine Vorleistung für Massenkreativität und Befreiung von der Industriegesellschaft. Er träumte von einer abfallfreien Zukunft und demonstrierte lautstark für das Recht der Natur. Den von ihm geforderten „Friedensvertrag mit der Natur“ hat die Weltgemeinschaft bislang nicht unterschrieben, noch immer dominieren kurzfristige wirtschaftliche Interessen der reichen Länder über das Wohl des Planeten. Für die Natur zu kämpfen und für eine natur- und menschengerechte Gestaltung einzutreten ist Friedensreich Hundertwassers philosophisches Vermächtnis an Design und Architektur.

3. November 2019 Spectrum

„Häuser befreien und bewohnen“

Gemeinwohl in der Architektur? Mittels geborgten Gelds werden Wohnprojekte vom Markt freigekauft. Eine reelle Alternative zu Kommunalbau und Immobilienspekulationen: das erste Wiener Neubauprojekt des Mietshäuser Syndikats „Habitat“.

An dieser Stelle steht oft der Bericht einer fertiggestellten Architekturaufgabe. An dieser Stelle steht nun ein Bericht über die gelungene Finanzierung eines Gebäudes, das gerade in Bau ist. Es sticht durch eine alternative Haltung und Finanzierungstaktik heraus, die dem Paradigma des Immobilieninvestments aus Gewinnstreben diametral entgegensteht. So richtete sich die Baugruppe in einem Inserat an private Investoren, um ein Großprojekt zu realisieren, für das eine Teilnahme auch ohne individuelles Vermögen möglich sein sollte: „Borg uns dein Geld! Die Baugruppe Bikes and Rails errichtet das erste Neubauprojekt im ,Habitat‘, dem Mietshäuser Syndikat in Österreich. Am Wiener Hauptbahnhof entsteht ein Passivhaus mit 18 Mietwohnungen, Flüchtlinge-Willkommen-WG, Gemeinschaftsdachterrasse, Veranstaltungsraum, Radwerkstatt, Proberaum und Grätzelcafé. Das Mietshaus wird der Verwertung auf dem Immobilienmarkt entzogen und sichert selbstverwalteten und bezahlbaren Wohn-, Arbeits- und Kulturraum für viele Generationen.“

Würden Sie diesem Projekt zwischen 500 und 50.000 Euro borgen? Würden Sie auf Zinsen verzichten oder das Maximum von versprochenen zwei Prozent Zinsen ohne Zinseszinsen eingehen? Wäre Ihnen das Risiko für einen Totalausfall des geborgten Geldes zu hoch? Was halten Sie von einer Gruppe, die den Wohnbau mit folgenden Aussagen herausfordert? „Wir finden, Wohnen ist ein Menschenrecht und keine Ware. Daher soll unser Haus dem Immobilienmarkt für alle Zeiten entzogen und als bezahlbarer Freiraum abgesichert werden.“ Es fanden sich ausreichend Menschen, die das Projekt mit Direktkrediten in Höhe von 1,5 Millionen Euro unterstützt haben. Über dem gefüllten Finanzierungsbalken prangt der Slogan: „Solidarität schafft Raum!“

Mit diesem „Eigenkapitalanteil“ von 30 Prozent konnten die 50 Prozent Bankdarlehen und weitere 20 Prozent städtische Wohnbaudarlehen beschafft werden, insgesamt über fünf Millionen Euro. Das Haus ist in Bau, die Dachgleiche gefeiert, es wird Anfang nächsten Jahres bezogen. Einiges Geld kommt aus dem Umfeld der Baugruppe, aber eben nicht nur. Workshops, Vorträge, Inserate, Social-Media-Arbeit, Podiumsteilnahmen und Infostände bei Straßenfesten und öffentlichen Veranstaltungen haben das Projekt bekannt gemacht. Mehr als die Hälfte des Geldes wurde so lukriert.

Das Know-how dieses alternativen Finanzierungsprojektes kommt aus Deutschland. Dort zeigt das Mietshäuser Syndikat seit fast 30 Jahren und in rund 150 Hausprojekten, dass es Alternativen zu herkömmlichen Realisierungsformen von Mietobjekten gibt. Häuser „befreien und bewohnen“ ist das Motto. In dieser von Gemeinwohl und Solidarität getragenen Grundstimmung borgen Menschen für eine selbst gewählte Zeitdauer einem Wohnprojekt Geld, um es vom Markt freizukaufen. Für das Projekt in Wien kann das geborgte Geld jederzeit zurückverlangt werden. Mit einer Verzögerung von maximal sechs Monaten hat man es wieder auf dem Konto. Um einen „Bankensturm“ zu vermeiden, bei dem zu viele Direktkreditgeber gleichzeitig ihr Geld zurückwollen, gibt es eine Vertragsklausel, mit der die Rückzahlung zeitlich angepasst werden kann, um das Projekt vor einer Insolvenz zu schützen.

Der österreichische Ableger des deutschen Mietshäuser Syndikats, dessen Wurzeln in der Hausbesetzerszene in Freiburg liegen, heißt „Habitat“. Die Linzer Baugruppe „Willy-Fred“ hat das Modell nach Österreich gebracht. In nur drei Monaten war eine Million Euro gesammelt, um ein Objekt in zentraler Lage in Linz dem Immobilienmarkt zu entziehen. Das Modell setzt sich aus dem Dachverein „Habitat“ und einem Hausverein, in dem das Bauprojekt selbst organisiert wird, zusammen. Gemeinsam gründen sie die jeweilige Haus-GmbH. Der Dachverein hat 49 Prozent an der Haus-GmbH und fungiert als Wächterorganisation, der Rest der Anteile gehört dem Hausverein. Ein Vetorecht von „Habitat“ gegen einen Verkauf der Immobilie sichert die Idee der Bewegung für die Zukunft. Die Finanzierung wird mit internen und externen Unterstützern kollektiv und solidarisch organisiert. Die Initiatoren eines solchen Mietprojektes können, müssen aber also keinen Eigenkapitalanteil einbringen. Was sie einbringen, sind der Wunsch nach Selbstbestimmung im Wohnen und der Verzicht auf Privateigentum im Abtausch mit dem Recht auf leistbaren Wohnraum und umfassende Gestaltungsfreiheit im Nutzungseigentum. Was sie auch einbringen, ist der Wille, leistbares Wohnen nicht dem Markt oder der Kommunalpolitik allein zu überlassen, sondern selbst tätig zu werden und den gewünschten Wohnraum in der gewünschten Qualität selbst zu verantworten.

Ein Werteverständnis eint die „Habitat“-Projekte, das sich auf Inklusion, Selbstverwaltung und Solidarität gründet. Das Nutzungseigentum wird über den Wunsch nach dem Eigenheim gestellt. Das Gemeinwohl in der Architektur mutet utopisch an. Und doch stellt es eine gangbare Alternative zu paternalistischem Kommunalbau und Immobilienspekulationen dar. Damit die Zukunft gelingt, braucht es Alternativen. Das Modell des Mietshäuser Syndikats stellt eine dar, die das kapitalistische System nutzt, um seine Gegenhaltung dazu zu realisieren: „The basic idea of ,Habitat‘ – this is about acting in a capitalist system and how to abuse its methods.“

Damit so ein Pilotprojekt gelingt, braucht es nicht nur eine avancierte Baugruppe, der in dem Fall auch die Stadtforscher Elke Rauth und Christoph Laimer angehören, sondern auch die Kommunalpolitik, die auf dem Hauptbahnhofgelände in Wien vier Bauplätze mit einem leistbaren Grundpreis an Baugruppen vergeben hat. Dann braucht es eine Gruppe von neuen, privaten Investoren, die nicht nur aus der Zielgruppe von „Freunden und Familie“ stammt, sondern Alternativen für die Stadt im Sinne des Gemeinwohls mit einem Direktkredit unterstützt. Und schließlich musste eine Bank gefunden werden, die das antikapitalistische Unterfangen mit einem langfristigen Kredit zu angemessenen Konditionen unterstützt hat. Keine leichte Aufgabe in einem Land, in dem das Projekt „Bank für Gemeinwohl“ nicht in dem projektierten Umfang umgesetzt werden konnte und die Banklizenz nicht erteilt wurde. Gefunden wurde eine Bank, die einen Geschäftsbereich besitzt, der mit gemeinwohlorientierten Vereinen und der Finanzierung von Projekten der Kirche Erfahrung hat.

Die anfängliche Skepsis konnte in vielen Gesprächen ausgeräumt werden, das Bankdarlehen wurde gegeben, bei der Dachgleichenfeier standen auch die Banker stolz auf dem Dach und stießen mit den Initiatoren auf das Modellprojekt an. Ein positiver Wandel gegen die Immobilienspekulation kann gelingen: mit Banken, die Gemeinwohl unterstützen, einer Zivilgesellschaft, die ihr Geld für im Schnitt ein Prozent herleiht, und Menschen, die sich in Baugruppen und als Mieter organisieren.

14. September 2019 Spectrum

Das Glück ist (k)ein Auto

Auf dem Weg zu einer kohlenstoffneutralen Gesellschaft halten wir am alten Mythos der Freiheit fest. In Peking ist das Recht auf individuelle Mobilität Glückssache: Autokennzeichen werden verlost oder versteigert. Elektrische Lasten- und Dreiräder, Fahrradtaxis, Rikschas: die Zukunft?

Peking ist nicht unbedingt die Stadt, die einem sofort einfällt, wenn es um zukunftsweisende Mobilitätslösungen geht. Eher dann schon Städte wie Kopenhagen, in denen beispielsweise der Fahrradverkehr eine hohe Priorität haben. Peking ist bekannt für den Smog, der manchmal so extrem ist, dass die gegenüberliegende Straßenseite nicht mehr erkennbar ist. Oder für die Verkehrsstaus auf den mehrspurigen Verkehrsadern in den Hauptverkehrszeiten. Als Ultima Ratio muss in Peking die Hälfte der Verkehrsteilnehmer auf Mobilität verzichten, um den Smog auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Das Recht auf individuelle Mobilität in Form eines Autokennzeichens ist ebenfalls Glückssache, diese werden verlost oder versteigert. Das Fahrradfahren wurde von privaten Verleihfirmen zum großen Geschäft erklärt, als Kollateralschaden liegen Berge von Fahrradleichen in der Stadt herum. Teil des Problems und leider nicht der Lösung sind die Autoexporte der europäischen Autoindustrie: schwer, ressourcenintensiv und fossil angetrieben. Es sind Statusobjekte und nicht taugliche zukunftsweisende Mobilitätslösungen.

Der Standard beim Luxuswagen sind mittlerweile vier Auspuffrohre – vor nicht allzu langer Zeit galt noch das Doppelrohr als ausreichend sportlich. Eine kleine Gruppe von Enthusiasten packte früher zu große Räder mit Aluminium-Sportfelgen in die zu kleinen Radkästen, verzierte die Auspuffenden mit Chromeinfassungen, motzte den Motor auf und entfernte den Schriftzug des Fahrzeugs. Auf der Wiese traf man sich dann einmal im Jahr und ließ sich für die Kreativität am Mittelklassewagen bewundern. Heute ist die Aufwertung des Fahrzeugs im digitalen Konfigurator beim Kauf schon ausgepreist. Erstaunlich oft erblickt man im Straßenverkehr in allen Fahrzeugklassen das rote „R“ auf dem Heck, auf dem Frontgrill oder auf der Seite: „R“ wie „Racing“.

Natürlich muss so viel Sportlichkeit von den Designabteilungen auch visuell in Szene gesetzt werden. Mit viel Liebe und Leidenschaft werden die Öffnungen, wo die klimaschädlichen Emissionen wie Kohlendioxid oder Feinstaub emittiert werden, wie wahre Designkunstwerke inszeniert. Man könnte die Schmuckstücke, die den Auspuff krönen, auch um die Handgelenke tragen. Die Autozulieferindustrie ermöglicht diese Verzierungen mit hoch entwickelter Logistik. Man muss das Auto nach dem Kauf nicht mehr zum Karosserieschneider bringen. Alles passiert schon im Fertigungstakt und just in time. Die Stoßfänger eines Autos sind in Zeiten von Sensoren und Digitali–sierung sowieso der ursprünglichen Funktion enthoben und dienen ausschließlich als in Wagenfarbe mitlackiertes Designelement, das bei funktionsgerechter ursprünglicher Benutzung zum Nachlackieren in die Werkstatt muss.

Design in Zeiten der Klimakrise sollte sich anderen Themen widmen. Die Auspuffverschönerung ist allerdings symptomatisch für unsere Zeit, in der wir den Übergang zu einer kohlenstoffneutralen Gesellschaft noch nicht ausreichend eingeleitet haben und anstatt neuer Bilder und Geschichten am alten Mythos festhalten.

Die Werbung inszeniert unsere Mobilitätsbedürfnisse als das Recht auf Dominanz, Sportlichkeit und Status. Die Politik unterstützt diese zweifelhaften Konsumbedürfnisse und bewahrt die Berufspendler vor einer CO2-Steuer. Nicht einmal der Betrug bei den gefälschten Abgaswerten hat unseren Glauben an diese Mobilitätsreligion erschüttert. Die falschen Prediger werben weiterhin ganzseitig auf den Hochglanzseiten und appellieren an unsere falschen Triebe. Während bei Alkohol und Zigaretten zur Vernunft und mit den Auswirkungen gemahnt wird, darf Autowerbung weiter ohne einen Warnhinweis wie diesen werben: „Die Produktion dieses Autos verursacht zehn Tonnen Kohlenstoffdioxid. Das ist ihr persönliches CO2-Budget für die nächsten zehn Jahre“. Oder unter der Autowerbung wäre ein Schockbild von Peking im Smog mit dem Warnhinweis platziert: „Autofahren verursacht Umweltschäden und Asthma.“ Zurück in Peking. Wir wünschen uns in Europa sicherlich keine Öko-Diktatur, doch das Verbot von umweltschädlichen Zweitaktmotoren hat eine Vielzahl alternativer Elektrofahrzeuge auf die Straßen Pekings gebracht, zum größten Teil Dreiräder. Auf großen Durchzugsstraßen gibt es auch einen durch Beton- oder Metallsperren eingerichteten Fahrstreifen, auf dem man vor den Autos geschützt mit Fahrrädern oder Elektrodreirädern gut vorankommt. Den Fahrstreifen nutzen vor allem Elektro-Dreiräder, die zum Teil ganz beachtliche Mengen an Lasten transportieren.

Die „letzte Meile“ ist auch bei uns ein Thema, und Lastenfahrräder sind schon ein gewohntes Bild im Straßenverkehr. Zumeist sitzen aber Kinder vorne drinnen und keine Kühlschränke oder andere Güter, die sonst im Lastwagen ausgeliefert werden. Vereinzelt verwenden auch Paketdienste, Biokistenlieferanten und Essenszusteller Lastenräder. Die geringe Anzahl lässt entweder auf Greenwashing oder Pilotprojekte schließen. Wenn der digitale Einkauf jedes Mal einen Fahrradboten mit Lastenrad aktiviert, dann müssen wir jedenfalls auch über unsere zukünftigen Einkaufsgewohnheiten nachdenken. Eventuell wäre es besser – so wie das in Wien-Aspern schon der Fall ist –, ein Lastenrad selbst auszuleihen und zu verwenden. Ein klug etabliertes Servicekonzept wäre hier eher die Lösung als der individuelle Kauf eines recht teuren und nicht immer benötigten Lastendrahtesels.

Dreiräder gehören mittlerweile auch zum touristischen Stadtbild als Fahrradtaxi. Sie dürfen selbst in Zonen ihre Dienste anbieten, in denen andere Verkehrsteilnehmer auf Rädern ausgeschlossen bleiben. Die Möglichkeit, zusätzlich Identität für den Ort zu stiften, wird hier nicht genutzt, zumeist stehen dieselben Modelle in den größeren Tourismusdestinationen herum und sind vor allem eine Fläche für Werbung, wo sonst Werbung keinen Platz hätte.

In der Prater Hauptallee in Wien können sich Erholungssuchende Fahrradrikschas ausborgen. Während im Auto die Menschen meist griesgrämig und allein herumkutschieren, sind die Vehikel ein Spaß für die ganze Familie oder für Freundesgruppen. Lachen und gute Laune statt Verkehrsstau und Aggression. Warum fahren die nicht auch sonst in der Stadt herum? Es bedarf keiner großen Fantasie, dass leichte, einfache und ressourcenschonende Vehikel die Zukunft des Verkehrs in der Stadt wären. Dann braucht es noch eine gesellschaftliche Dynamik, die zukunftsweisenden Mobilitätskonzepten einen sicheren Platz im Straßenverkehr verschafft. Denn die oft engen Radspuren werden nicht ausreichen, um auch die Herausforderung des Waren- und Personenverkehrs in der Stadt zu lösen. Ein generelles Tempolimit von dreißig Kilometer pro Stunde sollte in der Stadt der Zukunft ausreichen, um überall und schnell mit den Elektroleichtfahrzeugen hinzukommen.

31. März 2018 Spectrum

Wandel für unser Klima

Nachdenken über eine positive Veränderung unserer Lebensweise: In Design und Architektur heißt das weg vom „Human Centered Design“ hin zum „Planet Centered Design“ – weg von stets steigenden Konsumansprüchen hin zur Frage, was wir wirklich benötigen. Eine Umschau.

Das Weltall, die Erdatmosphäre, die Hochseegebiete der Weltmeere und die Antarktika sind globale Gemeingüter, oder wie sie die internationale Wissenschaft nennt: „Global Commons“. Sie können von der gesamten Menschheit genutzt werden und sind Gegenstand von internationalen Gesetzen. Damit sind auch schon die drei wichtigsten Bausteine der Allmende aufgezählt: eine Ressource, eine Gruppe von Nutzern und bestimmte Regeln der Nutzung. Die Regeln zielen auf eine faire Nutzung und die Verhinderung des Zusammenbruchs der Ressource durch Übernutzung oder Ausbeutung – der „Tragik der Allmende“. 2009, im Jahr, in dem auch die Umweltökonomin Elenor Ostrom für ihre Forschung zu den Commons den Wirtschaftsnobelpreis bekam, hat eine Gruppe von Wissenschaftlern um Johan Rockström (Stockholm Resilience Center) das Konzept der ökologischen Belastungsgrenzen, die „Planetary Boundaries“, im Wissenschaftsmagazin „Nature“ veröffentlicht. In dem Artikel geht es um neun relevante planetare Systeme, für die Grenzwerte festgelegt wurden, innerhalb derer das Leben auf Erden nicht bedroht wird. Das Artensterben und der Nährstoffkreislauf der Erde sind schon in der Hochrisikozone. Im erhöhten Risiko und in der Zone der Unsicherheit befindet sich die Entwicklung des Weltklimas. Auf dieser Erkenntnis konnte auf der Klimakonferenz von Paris 2015 ein internationales politisches Übereinkommen gefunden werden, das zumindest eine Weltressource schützen soll: nämlich die Atmosphäre, deren Erwärmung auf zwei Grad Celsius beschränkt werden soll.

Das Leben in der Stadt, wo bis 2050 eine Mehrzahl der Menschen, nämlich prognostiziert zwischen 70 und 80 Prozent der Menschheit, leben könnten, hat einen entscheidenden Einfluss auf die globalen Gemeingüter. Die Systeme zur Nahrungsversorgung, die Energiesysteme, Produktion und Konsum und schließlich die urbanen Systeme sind heute bereits für mehr als 70 Prozent der globalen Treibhausgase verantwortlich. Eine radikale Transformation, ein „Transition Design“, ist dringend nötig. Nebojsa Nakicenovic, der Leiter des in Klimafragen einflussreichen IIASA (International Institute of Applied Systems Analysis) in Laxenburg bei Wien, bringt es auf eine einfache Formel: Eine Stadt sollte in Harmonie mit der Natur sein. Die „Global Commons City“ wäre also die Zielvorstellung für den zukünftigen urbanen Lebensbereich von einigen Milliarden Menschen. Damit diese Vision einer weltverträglichen, zukunftsfähigen Lebensweise Wirklichkeit wird, haben sich neben dem IIASA und dem Stockholm Resilience Center auch die International Union for the Conservation of Nature, das World Resources Institute, die Global Environment Facility und das World Economic Forum zur „Global Commons“ Initiative zusammengeschlossen. Komplexe Systeme reagieren oft nicht linear und allzu oft auch gegen den Hausverstand. Warum soll denn plötzlich das Klima kippen? Und warum darf sich die Erdatmosphäre nicht mehr als zwei Grad erwärmen?

Ein kleiner Exkurs zu einer Alltagserfahrung aus dem Designbereich mit einem komplexen System soll uns für den großen Maßstab sensibilisieren: Stellen Sie sich vor, sie gehen duschen. Sie drehen das Wasser auf – es ist viel zu kalt –, Sie drehen heißer – nichts passiert. Plötzlich kommt brennheißes Wasser. Ein wunderbares Beispiel für die Interaktion Mensch – komplexes System. Wenn das Wasser dann Idealtemperatur hat, bemerken Sie, dass das Wasser nicht gut abrinnt, offenbar sind Haare im Abflusssieb. Langsam steigt der Wasserspiegel in der Designerduschtasse, und Sie regeln den Wasserfluss am chromglänzenden Wasserhahn zurück. Der Wasserstand bleibt gleich hoch – ein dynamisches Gleichgewicht, ein Naturprinzip. Da das kein Duscherlebnis ist, regeln Sie wieder hoch, und das Wasser steigt langsam bis zum oberen Rand der Duschtasse. Jetzt drehen Sie das Wasser entnervt ab und stehen dann noch eine geraume Zeit bis zu den Knöcheln im Wasser. Nur sehr, sehr langsam rinnt das Wasser ab. Das Alltagsbeispiel hat einen „Tipping Point“, so wie das Weltklima auch: Das ist der Punkt, an dem das eine Haar zu viel im Sieb ist, und das Wasser beginnt aufzustauen. Dann übernimmt plötzlich die Duschtasse eine neue Aufgabe als Wasserspeicher. Nun ist die Resilienz der Duschtasse aber mit dem oberen Wannenrand beschränkt, und wir müssen das Wasser abdrehen. Auch in der Natur gibt es ähnliche Systemelemente wie die Duschtasse. Sie erhalten für einige Zeit noch ein natürliches Gleichgewicht, doch dann geht alles über, zerstört nicht nur den Parkettboden der Wohnung, sondern auch die Wohnung unter Ihnen.

Der Klimawandel ist mit dem Narrativ der Klimakatastrophe und unverständlichen Zahlen und Dynamiken verbunden, ein Kommunikations- und Motivationsproblem für den positiven Wandel und der Suche nach einer guten Story für Veränderung. Die Klimawissenschaftlerin Helga Kromp-Kolb würde daher mehr auf die Kommunikation von gelingenden Initiativen und Experimenten im lokalen und regionalen Raum setzen, und vor allem auf soziale Innovation. Neue Werte und partizipative Prozesse für das Nachdenken über eine positive Veränderung unserer Lebensweise tun not. In Design und Architektur wäre das ein Paradigmenwechsel vom „Human Centered Design“, das in der Logik des Marktes nur allzu oft zu mehr Konsumansprüchen führt, zum „Planet Centered Design“, das natürlich die menschliche Perspektive beinhaltet, mit dem Fokus auf das, was wir wirklich benötigen.

Dafür setzt sich eine gemeinnützige Initiative aus internationalen Gestaltern und Gestalterinnen ein, indem sie die „Global Commons“ mit ihrer disziplinären Kreativität stärken. „The Value Web“ unterstützt konkret die Zusammenkünfte der Klimawissenschaftler der Global Commons Initiative, indem sie die komplexen Zusammenhänge in Bilder übersetzen, die während der Diskussion mit schnellem Strich in eine Art visuelles Protokoll umgesetzt werden. Mike Fleisch, einer der Prozessbegleiter, hat auf seiner Visitkarte als Berufsbezeichnung „Collaboration Designer/Graphic Facilitator“ stehen. Das ist einer der Berufe, die wir für die Gestaltung einer positiven Zukunft benötigen. Design- und Architekturschaffende, die mit und in komplexen Systemen arbeiten und vernetzt denken können, werden für den Wandel gebraucht. Das sind Gestalter, die Prozesse des „Transition Design“ begleiten, unterstützen und zwischen unterschiedlichen Interessen vermitteln können und das Mindset der Verbundenheit mit unserem Planeten in die Gestaltungsaufgaben der Zukunft einbringen.

17. Februar 2018 Spectrum

HAL bellt

Von 1968 – mit „Odyssee im Weltall“ – ins private Wohnzimmer 2018: Die Automatisierung des Haushalts ist demokratisiert, die Haussteuerung ein kleines Gerät am Stromnetz – Allmacht gibt es heute zum Dumpingpreis. Geschichten aus dem Smart Home.

Heute steuern wir unsere Häuser so, wie im Film „2001: Odyssee im Weltall“ (1968) von Stanley Kubrick das Raumschiff „Discovery“ gesteuert wird. Das Buch ist von Arthur C. Clarke, von dem auch das berühmte dritte Clark'sche Gesetz stammt: „Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“ Die künstliche Intelligenz des Bordcomputers HAL 9000 leitet in dem Science-Fiction-Klassiker die Weltraummission zum Planeten Jupiter. Das Design von HAL könnte auch dem aktuellen Produktkatalog eines der großen Konsumelektronikherstellers entstammen: Aluminiumrahmen, Aluminium-Lautsprechergitter und ein schwarzes Kameraauge mit rot glühender Iris. Nur die Produktgrafik wäre dem heutigen Zeitgeschmack anzupassen.

HAL hat eine männliche Stimme, mit der er freundlich, kompetent und bestimmt mit den Menschen interagiert. Als das Raumschiff seine Mission startet, wird der Bordcomputer von einem Journalisten interviewt: „Guten Tag, HAL. Wie läuft es bei Ihnen?“ HAL antwortet dem Journalisten ebenfalls mit einem freundlichen Gruß und meldet, dass alles nach Wunsch läuft. Die nächste Frage, die uns im Umgang mit künstlicher Intelligenz heute wie damals interessiert, ist, ob der Bordcomputer nicht fürchtet, Fehler zu machen. Immerhin hängen das Überleben der Crew und das Gelingen der Mission am Geschick des Elektronenhirns. Der Rechner weicht der Frage aus und führt einige Fakten ins Treffen, die uns von seiner Unfehlbarkeit überzeugen sollen: Computer der Serie 9000 sind die besten, die je gebaut wurden, kein Computer dieser Serie hat je Fehler gemacht oder unklare Antworten gegeben, und zudem sind sie hundertprozentig zuverlässig und narrensicher. HAL irrt sich nie.

Dann wendet sich der Reporter an die Crew, die den Computer als gleichwertiges Crewmitglied sieht und sich darüber freut, dass man mit HAL wie mit einem Menschen sprechen kann. Ob er echte Gefühle hat? Das kann man nie wissen. Hinter vorgehaltener Hand jedoch fühlt sich die Crew als Handlangerin der künstlichen Intelligenz. Anstatt eines Roboters führen die Menschen an Bord die Dinge aus, die von HAL angeschafft werden, etwa Reparaturen an der Hardware des Raumschiffs vorzunehmen. Und dabei kommt es auch zu der berühmten Szene, wo sich HAL seiner menschlichen Crew entledigt und das Reparaturraumschiff nicht mehr zurück ins Mutterschiff lässt. „Mach die Schleuse auf, HAL!“ – „Es tut mir leid, Dave, aber das kann ich nicht machen.“ – „Öffne die Tür!“ – „Das Gespräch hat keinen Zweck mehr, lebe wohl.“ Der letzte Überlebende an Board steht vor der verschlossenen Tür des Raumschiffs.

Nun, ein halbes Jahrhundert später steht HAL 9000 in Zigtausenden von Wohnungen und Häusern: ein Lautsprecher mit Sprachsteuerung und Lichtinterface, verbunden mit den leistungsfähigsten Computern und Programmen. Alles, was das Gerät hört, wird über das Internet an die Rechenzentren der Großkonzerne weitergeleitet, analysiert und die Antwort über eine menschliche Stimme wieder ausgegeben. Durch diese neue Generation von Geräten wird die Automatisierung des Hauses plötzlich demokratisiert. Bisher mussten aufwendig Kabel zur Haussteuerung gelegt werden. Die Elektroinstallateure konnten so auch einen großen Teil der Wertschöpfung der Hausautomatisierung lukrieren, das passiert heute kabellos, und die Haussteuerung ist ein kleines billiges Gerät, das in die nächstbeste Steckdose gesteckt wird. Heute können Jalousien, Türen, Licht und Klima bequem über Sprachsteuerung kontrolliert werden. Die Technologiekonzerne stellen uns diese Allmacht zum Dumpingpreis zur Verfügung.

Wie die Könige und Königinnen fühlen wir uns, wenn wir HAL befehlen, für Entspannung zu sorgen: Fenster werden verdunkelt, eine vorher definierte Lichtstimmung wird aus farbveränderbaren LED-Lampen aufgerufen, aus dem Musikabonnement mit 40 Millionen Liedern das richtige ausgesucht und abgespielt. Sollten wegen des einnehmenden Berufs keine Haustiere infrage kommen, dann wendet man sich einfach an HAL: „HAL, wie macht der Hund?“ – „Hunde machen wuff, wuff, wuff!“ Dabei wird ein Hundeoriginaltondokument eingespielt. HAL sorgt für uns, wir können jetzt entspannt einkaufen und dem Ding, das auf dem Couchtisch steht, verschiedenste Einkäufe diktieren. „Wenn Sie den Premiumservice in Anspruch nehmen wollen, dann antworten Sie mit Ja“ – „Ja.“ Die Lichtanzeige, die wie ein Heiligenschein das Objekt an der Oberseite umrahmt, weist mit einem hellen Farbfleck immer in unserer Richtung, egal, wie laut die Entspannungsmusik aus dem Zylinder dringt. Das Aktivierungswort „HAL“ wird von zahlreichen Mikrofonen im Inneren des Objekts geortet und umgehend die Kommunikation gestartet.

Während wir im Büro sitzen, steuert HAL unseren Haushalt selbst, so wie er auch Raumschiffe mühelos durchs All pilotiert. Der Saugroboter wird unter den Esstisch geschickt und die Kaffeemaschine deaktiviert. Die Paketzustellerin, die unseren sprachgesteuerten Einkauf ausliefert, steht vor unserer versperrten Wohnungstür. HAL öffnet ihr die Tür und aktiviert die Kamera im Vorzimmer. Die Paketzustellerin bückt sich und schiebt das Paket in den Vorraum, sodass die Kamera nur ihre Hand sieht. Dann zieht sie sich wieder zurück und schließt die Tür. Die Videosequenz der Zustellung wird archiviert und ist bei Reklamationen wieder abrufbar, so wie unsere Stimmeingaben auch. Zu Hause angekommen, ist es wie Weihnachten: Das Paket steht da, und niemand hat Santa Claus mit seinem Rentierschlitten gesehen.

Gerade eben schreibt HAL-Nutzer PETO ,Besitzer eines HAL mit anthrazitgrauer Stoffbespannung, in den Herstellerblog: „Nach einiger Skepsis, ob die CIA mithört oder nicht, habe ich mich entschlossen, es zu kaufen. Es ist ein lustiges Gimmick, das einem per Sprachbefehl die Infos wiedergibt, wo man sonst auf dem Smartphone schauen würde. Es muss noch einiges lernen, aber ist auf dem besten Weg dorthin.“ Vielleicht hat PETO auf seinem Gerät auch die „Empfangsdame“ aktiviert. Gemeinsam mit ihr können wir für Partyspaß sorgen und die Gäste launig empfangen. „Darf ich dir Paola vorstellen?“ – „Herzlich willkommen, Paola. Wer andern eine Grube gräbt, bekommt Besuch von Paola mit dem Grubengrabgerät!“ Oder: „Das ist Freda!“ –„Herzlich willkommen, Freda! Mahlzeit! Wenn du Hunger hast, dann bring nächstes Mal was Gutes mit!“ Und zum Höhepunkt des Abends: „HAL, einen Trommelwirbel!“ –„Trrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.“

In der Programmierung von HAL ist heute auch ein sogenanntes Osterei, ein Geheimlevel, versteckt. Ruft man HAL zu, die Schleusen zu öffnen, dann belehrt uns die Shoppingintelligenz, dass wir uns hier nicht im Weltall befinden und wir auch nicht Dave Bowman, der Captain der „Discovery“ sind. Das erdet uns.

26. Dezember 2016 Spectrum

Die Welt als Entwurf

Friedrich von Borries' Schrift über das politische Wesen von Design kreist um das Verhältnis von Gestaltung und gesellschaftlicher Entwicklung. So widmet er sich Themen wie Umweltzerstörung, Klimawandel und Überwachungstechnologien.

Vierzig Jahre schon (1977–2017) ist das Bulgarische Kulturinstitut im Haus Wittgenstein in Wien untergebracht. Um ein Haar wäre der Bau des „Architekten“ Ludwig Wittgenstein abgerissen worden. Ein findiger Bauunternehmer hat das damals weithin unbekannte, desolate Haus gekauft und wollte an seiner Stelle ein Hotel errichten. Der Gemeinderat stimmte einer Umwidmung zu, das Denkmalamt hatte keine Einwände gegen den Plan. Der damals als Architekt und Urban Designer arbeitende Bernhard Leitner hat das verhindert. Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass das von Paul Engelmann, einem Schüler von Adolf Loos, und Ludwig Wittgenstein für dessen Schwester Margaret Stonborough entworfene Haus (1926–1928) heute noch steht. Von New York ging die Rettungsaktion des Hauses mit einem Artikel im Artforum im Februar 1970 aus. In dem Beitrag „Wittgenstein's Architecture“ erschienen 14 Fotos, von der Halle bis zum Türgriff, mit einer genauen Beschreibung, welche die baukünstlerische Bedeutung des Hauses hervorhob. Das Denkmalamt zweifelte an dieser Einschätzung Leitners. Der Landeskonservator von Wien, der selbst an der Autorenschaft von Wittgenstein zweifelte, unternahm folgende Einschätzung: „Einem so eigenartigen Gebilde kann jeder beliebige ,Sinn‘ unterlegt werden (...)“.

Mit einer Abbildung zweier Türklinken aus dem Haus Wittgenstein ist das Buch von Friedrich von Borries aufgemacht, das in diesem Jahr in der Edition Suhrkamp erschienen ist. Es trägt den Titel „Weltentwurf. Eine politische Designtheorie“. Darin formuliert der Architekt und Professor für Designtheorie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg eine Schrift über das politische Wesen von Design. Im Mittelpunkt der Arbeit des sowohl als Praktiker als auch als Theoretiker arbeitenden Autors steht das Verhältnis von Gestaltung und gesellschaftlicher Entwicklung. Als Wissenschaftler die Welt verstehen, als Gestalter die Welt verändern. Als Themen formuliert von Borries die politischen Fragen von wachsender ökonomischer Ungleichheit, Umweltzerstörung, Klimawandel, Überwachungstechnologien und antidemokratischer Sicherheitspolitik und die Möglichkeiten einer positiven gesellschaftlichen Transformation.

Bei einer Theorieschrift mit der Beschreibung von Äußerlichkeiten zu beginnen wäre dem Projekt nicht angemessen, wäre da nicht der nachdrückliche Hinweis des Autors, darauf Augenmerk zu lenken. Das beginnt bei der streng durchnummerierten Textgliederung, die Anleihen an dem 1921 von Ludwig Wittgenstein veröffentlichten „Tractatus logico-philosophicus“ nimmt. Die dem Band „Das Wittgensteinhaus“ von Bernhard Leitner (2000) entnommene Abbildung von zwei abgeschraubten Türklinken aus dem Haus findet sich als Verweis darauf, dass Wittgenstein über das Wesen der Welt ganz grundsätzlich und logisch nachdenkt und dabei seine volle Arbeitskraft ebenso in den Entwurf der Türklinke gesteckt hat. Auch das Detail bezieht sich auf die Welt. Ein anderer Bewunderer von Wittgensteins praktischer Gestaltungsgabe ist Otl Aicher, der Mitbegründer der legendären Hochschule für Gestaltung in Ulm, der auf dem Gebiet des Corporate Designs Ikonisches für die Lufthansa, Braun, ERCO und die Olympischen Spiele in München gestaltet hat. Seine Theorieschrift „Die Welt als Entwurf“ zitiert von Borries auch in seiner Einführung: „Der Entwurf ist das Erzeugen von Welt. Er entsteht dort, wo Theorie und Praxis aufeinanderstoßen.“ Im Nachwort des 1992 erschienenen Bandes „Die Welt als Entwurf“ weist Aicher schon drastisch auf die Gefährdung von Natur und Klima hin und darauf, dass wir wider besseres Wissen nicht aufhören, unsere Zivilisation zu gefährden. Trotz Intellektualismus und Rationalismus sägen wir an dem Ast, auf dem wir sitzen. Als Hommage an einen der wichtigsten Gestalter der jüngeren Designgeschichte mit ausgesprochen politischer Agenda erscheinen die Zwischenüberschriften des Textes in der von Aicher gestalteten Schrift „Rotis“. Der Grafiker Willy Fleckmann hat Anfang der 1960er-Jahre die Gestaltung der Edition Suhrkamp übernommen. Der Band 12, Wittgensteins „Tractatus“ (1963), wurde von Fleckhaus gesetzt.

Solcherart symbolisch gerüstet stürzt sich der Autor in ein Unterfangen, das aufseiten der Referenzliteratur sicher Stand des heutigen Designdiskurskanons ist. Es wäre aber nicht Friedrich von Borries, wenn er akademische Etikette dabei anwenden würde. Er versucht gar nicht, den Anschein zu erwecken, Heidegger und seine Ontologie verstanden zu haben. Er gefällt sich in der Rolle des „Grabräubers der Theorie“ und fügt unterschiedliche Versatzstücke dieses theoretischen Raubgangs zu seinem Entwurf des „Weltentwerfens“ zusammen. Gerade deshalb lohnen die Lektüre des anarchischen Denkers und auch das Wiederlesen von Otl Aicher. Leider sind Aichers Forderungen an ein „politisches Design“ von vor fünfundzwanzig Jahren ebenso aktuell wie der Text von Friedrich von Borries heute.

Aus der Flut an heutigen Prefixen zum Designbegriff (Social-, Transition,- Emergency-, Industrial- und andere) wählt von Borries vier für seine Theorie zentrale Überschriften: Überlebensdesign, Sicherheitsdesign, Gesellschaftsdesign und Selbstdesign. Um den moralischen Anspruch der Arbeit zu unterstreichen, scheut er auch nicht davor zurück, „gutes Design“ einzufordern und vor schlechtem zu warnen. Die definitorische Setzung von „entwerfendem“ und „unterwerfendem“ Design dient ihm als Folie für seinen moralisierenden Diskurs, in dem an vielen Stellen die Unreflektiertheit und feige Angepasstheit heutiger Kreativschaffender in der Kritik stehen. Design, so von Borries, kann neue Wege zeigen, die Welt zu verbessern, Probleme im großen und kleinen Maßstab zu lösen, positive Zukunftsbilder zu entwerfen und an der Vorstellung für ein gutes Leben für alle mitzuwirken – Design als Leitdisziplin der Zukunft!

Entwerfen in einer komplexen Welt braucht intelligentes Systemdesign und kybernetische Modelle als Denk- und Gestaltungswerkzeuge. Setzen wir die vier Begriffe des „Weltentwerfens“ in das von der Organisationskybernetikerin Maria Pruckner entwickelte „4sorgen Modell“, dann zeichnen sich die vier Bereiche Freiheit (Selbstdesign), Sicherheit (Sicherheitsdesign), Zufriedenheit (Überlebensdesign) und Geborgenheit (Gesellschaftsdesign) aus dem Diskurs als die zentralen Qualitäten von „gutem Design“ ab. Doch diese Qualitäten sind aufeinander bezogen, bedingen einander und haben eine logische Abfolge. Von Borries vertritt für sein geschlossenes Systemdesign von Weltentwerfen die gegenteilige Meinung. „Um die Welt zu entwerfen, müssen wir uns in der Unordnung einrichten“, so von Borries. Bleibt zu hoffen, dass dann die neue Ordnung von selbst entsteht – der Weltentwurf als Emergenz des politischen Designs.

Publikationen

2007

The Death of Fashion
The Passage Rite of Fashion in the Show Window

When, for a few weeks each year, Western fashion victims become red-hot with excitement waiting for the fashion sales to take place, they are unconsciously following an ancient sacrificial ritual. Just as in ancient Greece, the God of Fertility had to be killed during the Dionysia in order to be resurrected,
Autor: Harald Gründl, EOOS
Verlag: SpringerWienNewYork