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Pirouetten und Pausenclowns
Pirouetten und Pausenclowns, Foto: Margherita Spiluttini
Spectrum

Nichttrinker, ein zu Kulturpessimismus neigender Generalist, und Nichtraucher, ein berufsmäßiger Optimist alter Schule, sitzen wieder beisammen und reden über Avantgarde und Epigonentum. Ein Dialog.

17. August 1996 - Walter Zschokke
Nichttrinker (ein eher zu Kulturpessimismus neigender Generalist): Du schwadronierst ständig über Architektur und deren kulturelle Bedeutung, das hat doch kein ernsthaftes Gewicht, da gilt heute dieses und morgen jenes. Nimm die Gasometer, für Wien eigentlich das Schönbrunn des jungen Industriezeitalters, nachdem die Rotunde im Prater abgebrannt ist. Was machen die „Stararchitekten“ und die Politiker daraus? Sie profanieren diese vier Kathedralen der beginnenden Verbrauchergesellschaft großen Stils zu Sozialbauten mit fragwürdig belichteten Wohnungen und akustisch problematischen Hofschächten und so weiter.

Nichtraucher (ein berufsmäßi-ger Optimist älterer Schule): Du siehst das zu negativ. An diesen Denkmälern der Industriekultur bietet sich die Möglichkeit einer spannungsvollen Aneignung durch die Avantgarde unserer Architektenschaft. Die späteren Bewohner werden zu einem neuen Architekturverständnis geführt, die Enkel jener Verbraucher, die das von den Gasometern ins Netz gedrückte Stadtgas konsumierten, werden dereinst die kühn umfunktionierten Hüllen bewohnen. Das ist geschichtliche Dialektik, wie sie unserer Zeit entspricht. Da werden die Bewohner die etwas schlechtere Aussicht gern in Kauf nehmen.

Nichttrinker: Was heißt hier Avantgarde; das sind doch Historisten ihrer eigenen Frühwerke oder schlichte Neohistoristen ohne Frühwerke. Avantgarde, das ist doch jene Truppe, die im Vorfeld agiert, das schnelle Scharmützel sucht, um die Stärke des Gegners abzuklären, die entscheidende Auseinandersetzung aber vermeidet und dem Haupthaufen überläßt, inzwischen aber bereits zu neuen Zielen aufgebrochen ist. Ich bin eher der Meinung, daß hier wieder einmal publizierbare Architektur „avant la construction“ produziert wird, wie dies mit den Künstlerateliers auf den Stadtbahnbögen bei der Spittelau von Zaha Hadid geschehen ist: Die plastische Erscheinung im Modell sieht zwar attraktiv aus, die Grundrisse aber, soweit überhaupt bekannt, sind eher kläglich.

Nichtraucher: Das verstehst du nicht richtig. Für Künstler sind doch die Grundrisse egal, die machen damit, was sie wollen. Es geht um den Geist, der in diesen dynamischen Formen steckt, die Signalwirkung für den Fremdenverkehr, das weltbekannte Heizwerk ist auch in der Nähe, das ergibt doch Synergieeffekte. Und die Vorbildwirkung auf unsere Architekturstudenten darf nicht vergessen werden.

Nichttrinker: Bei siebeneinhalb verquetschten Ateliers redest du von Quartier Latin, damit stehst du komplett neben dem Skateboard. Diese Push-up-Projekte verstärken nur die bereits bestehende Verwirrung in den Köpfen der Architekturstudenten. Diese glauben, jedes Projekt müsse sich so aufplustern, und vergessen, daß es daneben auch sehr viel Alltag zu bewältigen gibt.

Nichtraucher: Was man nicht früh genug übt, kann man später nicht richtig praktizieren. Die Jungen sollen jede Gelegenheit nützen, um zu lernen, wie man eine Architektur entwirft, die sich im internationalen Konkurrenzkampf und bei Wettbewerben durchsetzen kann. Was interessieren mich die Normalos und die Realos. Die Frechsten und Wagemutigsten muß man fördern, damit etwas Zukunftsweisendes entstehen kann.

Nichttrinker: Deine Illusionen einer synthetischen Avantgarde aus dem Avantgardistenkindergarten möchte ich haben. Das sind doch nur die, die am lautesten auf sich aufmerksam machen und, wenn einmal längere Durststrecken kommen, anfangen, ihr Los als verkannte Avantgardisten zu beweinen. Die kläglichste Rolle unter der an Rollenbildern nicht armen Architektenschaft ist doch die der larmoyanten Avantgarde. Warum sollen sich die Sanitäter - die Kritiker, die Vermittler - nur um die blessierten Vorausstürmer kümmern, die sich einmal den Kopf angerannt haben. Sollen die sich halt besser orientieren und nicht jedem selbsternannten architektonischen Fähnleinschwenker unreflektiert nachlaufen. Da halte ich es für wichtiger, im Gros der Truppe zu arbeiten, das Erreichte zu sichern und auszubauen. Nur so können jene in die Zukunft ausschwärmenden Gruppen und Einzelpersonen überhaupt den nötigen Rückhalt bekommen. Denn eine Avantgarde ohne Haupthaufen ist nichts.

Nichtraucher: Das mag ja auch richtig sein, diese Arbeit ist verdienstvoll, aber nicht besonders attraktiv. Die Propagierung von Ausnahmeleistungen schafft überdies jenes Kielwasser, in dem die Architekturkultur als Ganzes vorangebracht werden kann.

Nichttrinker: Das ist doch Quatsch. Über die mediale Verbreitung kumulieren sich die einzelnen Ausnahmeobjekte zu scheinbarer Normalität. Das fördert nur das Epigonentum; angesichts all der schwankenden Pirouetten und halbgelungenen Salti hält das Publikumdiese Architekturen für eine Ansammlung von Pausenclowns. Hinter dem Nebelvorhang der pränatal publizierten sekundären „Stararchitektur“ geschieht aber weiterhin der alte Schwachsinn in leicht verändertem Gewand.

Nichtraucher: Du mit deinem Pessimismus. Es ist doch positiv, wenn private Unternehmer oder gar die öffentliche Hand als Mäzene für engagierte Architektur auftreten. Ich denke an Vitra in Weil am Rhein, wo Raumvorstellungen, die vorher nur auf zweidimensionalem Papier oder bestenfalls am leicht gewölbten Bildschirm bestanden, endlich einmal eins zu eins und begehbar zu erleben sind. Daß ein Großteil der übrigen Bauten mittelmäßig oder gar schlecht ist, war immer so und wird immer so bleiben. Man kann den Avantgardisten nicht anlasten, daß sie schwache Epigonen haben. Mir scheint auch, daß alle engagierten Architekten sich in irgendeiner Form zur Avantgarde zählen. Ich würde dagegen sehr gern einmal ein wirklich gutes konservatives zeitgenössisches Bauwerk studieren, aber was uns die einschlägigen Architekten da vorsetzen, ist reichlich schwach auf der Brust.

Nichttrinker: Du weißt so gut wie ich, daß sich gute Architektur nicht dekretieren läßt. Das Bedürfnis, am Entwurf zu arbeiten, ohne sich vorschnell auf bestimmte Bilder zu fixieren, ist kaum zu erzwingen und schwer zu lehren. Und wenn nicht die oberflächliche Wirkung, sondern das Maß an Auseinandersetzung mit dem Aufgabenkomplex und der Grad an innerer Klärung den Wert bestimmen sollen, ist mehr Zeit für die Kritik aufzuwenden, aber auch für das Einleben und das damit einhergehende, mit der Erfahrung wachsende öffentliche Verständnis von Architektur.

Nichtraucher: Noch einmal, man zeige mir ein interessantes Beispiel eines traditionell gemeinten und auch so gebauten Hauses. Wo die Symmetrie nicht plump, der Materialeinsatz nicht zu klobig und die zeitgenössische Konstruktion nicht scheinheilig hinter einer traditionalistischen Tapete versteckt ist. In der Architektur zieht die konservative Haltung offenbar einfach keine guten Leute an. Vielleicht sollte man einmal eine „Arri` eregarde“ propagieren, die nicht bloß aus Denkmalpflegern besteht.

Nichttrinker: Du übernimmst ja ungefragt meine Positionen, nur müssen sie immer etwas Besonderes sein. Woher sollen wir heute wissen, was die in hundert Jahren unter Denkmalschutz stellen werden. Ich denke immer, daß da ganz andere Bauten wichtig sein werden, als wir heute zu glauben geneigt sind. Zur Zeit ist es jedenfalls öfter ein Unglück, wenn ein Bauwerk unter die Denkmalpfleger fällt. Besonders, wenn es bekannt ist und zudemdie Chance birgt, gewinnbringend vermarktet zu werden. In Schönbrunn hat man die Achse, die von der Schloßallee bis zur Gloriette reichte, nach dem Ehrenhof im Hauptbau gekappt. Von den Redoutensälen braucht man nicht mehr zu reden. Bei den Hofstallungen wurde bisher alles andere gepflegt als das Denkmal, soweit überhaupt eines vorhanden ist. Und wenn dann die ehemaligen Hofmuseen über eine Glaspyramide vor dem Maria-Theresia-Denkmal unterirdisch erschlossen sein werden, wird die historische Eingangssequenz von Semper/Hasenauer jedenfalls nicht mehr erlebbar sein.

Nichtraucher: Das ist es ja, was ich dir ständig klarmachen möchte, daß es viel mehr darauf ankommt, wie etwas gemacht wird, nicht so sehr nur darauf, was geplant wird. Dafür gibt es gerade in Wien genügend Beispiele.

Nichttrinker: Aber deswegen brauchst du mir trotzdem nicht den Schmus einer mittlerweile angegreisten, notabene reichlich selbsternannten Avantgarde anzudienen. Anstatt ständig von einer besonderen Position, ob avant oder arrière, zu phantasieren, halte ich es für klüger, Selbstverständlichkeit anzustreben - den Begriff habe ich kürzlich bei Janos Karasz gelesen -, die ohne das falsche Pathos all der Ismen und Einfältigkeiten auskommt.

Vegetarier (der die ganze Zeit stumm daneben gesessen ist): Das hätte ich euch schon am Anfang sagen können.

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