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Blinde Flecken im Gewühl...
Blinde Flecken im Gewühl..., Foto: Walter Zschokke
Blinde Flecken im Gewühl..., Foto: Walter Zschokke
Blinde Flecken im Gewühl..., Foto: Walter Zschokke
Spectrum

In der Masse des Gebauten finden sich da und dort blinde Flächen, die der Gestaltungswille glücklich verschont hat: die freistehenden Feuermauern. Auf ihnen kann der Blick zur Ruhe kommen.

10. Februar 1996 - Walter Zschokke
Manchmal wird den Augen das chaotische Gewühl der Zeichen und Signale im Dickicht der großen Städte zuviel. Der Blick ist, mit Rilke gesprochen, „so müd geworden, daß er nichts mehr hält“. Zur Erholung nehmen unsere Augen dankbar jene Bilder auf, die absolut unbedeutend sind, die nicht entziffert und interpretiert werden wollen und weder flüsternd noc schreiend nach Bedeutung heischen, weil dahinter nicht die leiseste formale Absicht steht. Wenn der Blick auf derartige „leere“ Zeichen oder ganze Flächen fällt, können die Augen sich absichtslos darauf richten, sich vom Denken des Gehirns loslösen und mit offenen Lidern nur mehr als optisches Organ wirken, ohne die Information verarbeitend weitergeben zu müssen. Nach einigen Augenblicken der Ruhe und Entspannung gleitet man dann wieder zurück in den normalen Wahrnehmungsprozeß der übrigen Umwel.

Mag sein, daß sich die Augen mit einem derartigen „Nulldurchgang“ gleichsam entleeren oder daß verbliebene Nachbedeutungen gelöscht werden. Zugleich scheinen sie sich in einer Art Eichung rückzuversichern, um sich danach im relativen Bezugssystem vielfältiger Zeichen und Zeichenkombinationen wieder gewissenhaft der Bilderübermittlung zu widmen. Wesentlich scheint mir jedenfalls, daß die Augen dabei vor der Welt nicht geschlossen werden. Denn es ist nicht das Sehen, das ausgeschaltet wird; der Verzicht betrifft den Interpretations- und Beurteilungszwang. Der Blick zum Himmel mit seinen Wolken oder auf einen nahen Wald, auf das spiegelnde oder gekräuselte Wasser eines Sees, auf einen dahinströmenden Fluß und selbst über ein breites Feld von Geleisen kommt diesem Bedürfnis nach visueller Entspannung entgegen.

Vergleichbar damit sind in der Stadt jene unverbauten Feuermauern, die von den Ungleichzeitigkeiten städtebaulicher Entwicklung fast in jeder Straße und in manchem Hof verblieben sind. Als Abschlußflächen eines Gebäudes sind sie an den Grundgrenzen hochgezogen worden und warten seither ohne Eile auf ein Anschlußbauwerk. Denn sie sind laut Bebauungsplan im Prinzip dazu vorgesehen, von einem ähnlich hohen Nachbargebäude mit einer ebensolchen geschlossenen Mauer verdeckt zu werden.

Das ist wohl der Hauptgrund, warumnie ein Gedanke an ihre Gestaltung verloren wurde und wird. Eigentlich ist es ein ausgesprochener Glücksfall, daß im städtischen Kontext derartige Flächen aufscheinen, die offen sichtbar bleiben, obwohl sie prinzipiell dafür vorgesehen sind, verdeckt werden. Sie bilden die blinden Flecken in der alles überwuchernden Schicht gestalteter Oberflächen, sie sind Orte der Ruhe im Aufmarsch der Eitelkeiten unterschiedlichster Qualität. Bei einer Feuermauer handelt es sich in keiner Weise um eine Ansichtsseite, wie es die Vorder- oder die Hinterfassade eines Hauses sind, sondern um eine nicht vorgesehene Ansicht.

Es fehlt ihr die Bekleidung, das, was die Mauer zur Fassade macht. Der Blick fällt direkt auf die Masse des verbauten Materials. Irgendwie bilden diese leeren Mauern eine Art Einschnittfläche in den normalen Lauf der Dinge, durch die das Auge wie durch einen leicht angehobenen Vorhang ins Zeitlose blicken kann. Dabei wird nichts bloßgelegt, kein Blick, der etwas Privates oder gar Peinliches freilegen würde, nicht der leiseste Anflug von Obszönität, wie er durch ungewollte Einblicke auch bei Bauwerken durchaus entstehen kann. Es läßt sich auch nicht sagen, eine Feuermauer sei aus anderen Gründen als wegen ihrer ureigensten Bestimmung - nämlich die seitliche Ausbreitung eines Brandes zu verhindern -, etwa aus gestalterischen Gründen, absichtsvoll geschlossen, womöglich gar, um einen bestimmten Effekt zu erzielen.

Im Gegenteil, völlig spannungslos setzt ihre Oberfläche an der vorderen Hauskante an und zieht sich nach hinten zur hofseitigen Kante. Meist sind die Feuermauern in einfacher Weise glatt verputzt, aber selbst wenn im Lauf der Jahre der Bewurf als Folge ungehinderter Witterungseinflüsse abgefallen und die nackte Ziegelmauer zum Vorschein gekommen sein sollte, ergibt sich keine andere, auch keine inhaltliche Aussage. Natürlich kommt es ab und zu vor, daß eine Feuermauer in gut exponierter Lage als Werbefläche genützt wird, aber das soll uns hier nicht irritieren. Die Tatsache, daß sich die gesamte Fläche problemlos als Werbeträger verwenden läßt, ohne die Botschaft im geringsten zu kommentieren oder inhaltlich zu beeinflussen, zeigt, wie bedeutungsleer sie vorher war.

Auch geometrische Muster, die aus der Verzweiflung des Horror vacui, der Angst vor der Leere, an ihrer Fläche aufgebracht werden, können der Bedeutungslosigkeit der Feuermauer nichts anhaben, genausowenig wie Rankgerüste oder Pflanzenbewuchs die erhabene Aussagelosigkeit behindern. Eine Feuermauer bleibt schlicht eine Feuermauer. Sie ist in ihrer Art ein Dauerbrenner, ein „permanent“ im Sinne von Kneissl/ Pirhofer.

Seit Jahrhunderten haben sich auch die sichtbar gebliebenen Feuermauern keinem Stildiktat gebeugt. Fast möchte man sagen, sie sind ewig, jedenfalls so ewig wie die Stadt, der sie dienen. Zwar kommt es immer wieder vor, daß eine offene Feuermauer verschwindet, weil ein altes, zweigeschoßiges Haus durch ein höheres ersetzt wird. Dafür wird andernorts wieder eine freigestellt, weil der erneuerte Bebauungsplan eine niedrigere oder gar keine Bebauung vorsieht. Aber auf die einzelnen Feuermauern kommt es nicht an. In ihrer Beliebigkeit und Anonymität sind sie austauschbar, in der Summe bleiben sie gleich. So sind paradoxerweise die ganz oder teilweise sichtbar bleibenden Feuermauern ein Indikator für die Lebendigkeit und die permanente Veränderung der Stadt.

Die durch Feuermauern akzentuierten feinmaßstäblichen Brüche im Stadtgefüge bezeichnet Hermann Czech als besonders typisch für die gründerzeitlichen Wiener Stadtviertel. Und bei seiner Volksschule an der Fuchsröhrenstraße hat er mit diesem Motiv den Turnsaaltrakt zum Spielfeld hin abgeschlossen, als Referenz zu benachbarten, bestehenden Feuermauern. Zugleich wollte er vermutlich diese Front, für deren Gestaltung es keinen Anlaß gab und in der keine Fenster erforderlich waren, einfach ungestaltet lassen. Ihr Anblick wirkt so beruhigend, daß kürzlich einige Schweizer Architekten auf Wiener Architekturreise, die ja bezüglich gestalterischer Absenz einiges gewöhnt sein müßten, schon nach zwei Minuten weiterwollten, weil sie nichts Gestaltetes zu erkennen vermochten, was ihrer Erwartungshaltung an die „Wiener Architektur“ entsprochen hätte.

Nicht sehr oft und nur unter bestimmten Bedingungen kommt es vor, daß von der gesetzlichen Regelung, daß in Feu-ermauern keine Öffnungen gemacht werden dürfen, eine Ausnahme bewilligt wird. So können, meist bis auf Widerruf, Fenster herausgebrochen werden. Aber wenn das niedrigere Gebäude davor beispielsweise unter Denkmalschutz steht oder das Nachbargrundstück überhaupt frei bleibt, kann es lange dauern, bis widerrufen wird.

Interessanterweise verliert auch die mit Öffnungen durchsetzte Feuermauer nur selten ihren spezifischen Charakter. Sie erscheint immer noch nicht als Fassade im herkömmlichen Sinn. Weil nämlich die Fenster, von innen her gedacht, in die Mauer geschnitten werden, sind sie nicht in eine gewollte Fassadenkomposition integriert. Der Zufall ist echt, nicht aufwendig absichtlich unabsichtlich geplant - damit bleibt die eingangs erwähnte Absenz von Gestaltung in der gesamten Erscheinung gewahrt. Die Wirkung der Ansicht einer solcherart befensterten Feuermauer liegt in der impliziten Kritik, die ihre nüchterne Funktionalität an akademistischen und neoakademistischen Fassadenkonzeptionen übt, deren Öffnungen nur im Hinblick auf äußerliche Bildwirksamkeit in die Fläche gesetzt sind, auf die räumliche und funktionelle Wirkung von innen nach außen jedoch wenig Rücksicht nehmen. Weil nun die Feuermauer, von ihrem Charakter her, primär nicht als Fassade wahrgenommen wird - meist wird sie sogar aus dem bewußten Blickfeld ausgeblendet -, sondern erst durch die nachträglich ausgebrochenen Öffnungen, quasi sekundär, zu einer solchen gemacht wird, stellt ihr Aussehen klar, daß die „gestalteten“ Fassaden an Vorder- und Rückseite wie eine Folie über die neutrale Mauer gezogen sind. Ihre Nichtgestaltung macht einen Sachverhalt sichtbar, der üblicherweise zugedeckt bleibt. Daß eine befensterte Feuermauer diese aufklärerische Wirkung entfalten kann, verdankt sie dem durchgängig architektonisch bedeutungsleeren Ausdruck, den die vielen über die Stadt verteilten unbefensterten Wände in ihrer Gesamtheit unverrückbar festlegen.

Vor diesem kompakten Hintergrund der Nicht-aussage gewinnt das unregelmäßig im Stadtbild auftauchende Phänomen der befensterten Feuermauer ein wenig Bedeutung und Gewicht. Es ist einfach erholsam, auf so eine Wand zu blicken. Keinen Anlaß zu spüren, in den Gehirnwindungen nach dem bekannten Architektennamen zu kramen, dessen Genie die gekonnten Unregelmäßigkeiten entsprungen sein könnten. Man braucht nicht zu denken oder zu interpretieren, darf aber schauen. Falls nun der Eindruck entstanden sein sollte, es handle sich bei diesen befensterten Feuermauern um den kommenden Ausdruck der Architekturavantgarde, muß ich die Erwartungen enttäuschen. Feuermauern anzuschauen ist Therapie, ist Erholung von den Produkten demonstrativen Architekturwollens. Außerdem kann man dabei lernen, unvoreingenommenen Blickes an Gebautes heranzutreten, ohne sofort wissen zu müssen: „gut“ oder „schlecht“. Feuermauern sind einfach da, ob mit Fenstern oder ohne.

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