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Kleister und Mummenschanz
Kleister und Mummenschanz, Foto: Walter Zschokke
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Die Existenz einer lebendigen Architekturszene ist nicht ein Naturphänomen, sondern Frucht vielfältiger Anstrengungen. Und zerstört ist allemal schneller als aufgebaut. Zur Lage der Architektur in Wien - ein Aufruf zur Sorgfalt.

15. Juni 1996 - Walter Zschokke
In letzter Zeit häufen sich wieder die Meldungen, der Beruf des Architekten drohe zu verschwinden, das Bauen werde zunehmend von Bauingenieuren und Betriebswirtschaftern bestimmt, Büros von bis zu 1000 Mitarbeitern würden im EU-Raum die Regel, und die paar verbliebenen Architekten könnten sich dort als Angestellte eben noch mit der optischen Wirkung der Fassaden befassen.

Natürlich ist es möglich, daß der Berufszweig der selbständigen Architekten zurückgedrängt wird, indem man dessen Berechtigung anzweifelt, diese endlich abspricht und die ökonomische Basis durch Honorardruck untergräbt. Als Folge davon würde das Produkt „Architektur“ langsam aus dem Gesichtsfeld der Menschen verschwinden. Nach einer längeren Phase der Unterdrückung architektonischer Freiheit, Selbständigkeit und Initiative wären deren Träger alt oder gestorben, die Architekturkultur wäre eingeschläfert und alsbald ganz verschwunden. Ein Fingerschnippen würde dann nicht mehr genügen, um sie wieder auf hohem Niveau einsetzen zu lassen. Ein langwieriger Entwicklungsprozeß und jahrzehntelange Ausbildungs- und Aufbauarbeit sind dafür nötig, wie ein Blick in die Reformstaaten des ehemaligen Ostblocks zeigt.

Wenn aber die Architektur, um Ludwig Mies van der Rohe zu folgen, dort beginnt, wo der Mensch zwei Ziegelsteine bedachtsam aufeinanderschichtet, werden sich auch in Zukunft Individuen finden, die in einem Akt zivilen Ungehorsams diese und die damit in Zusammenhang stehenden Fragen zum Hauptinhalt ihrer Berufung machen. Daraus wird ersichtlich, daß der Beruf des Architekten, trotz aller Unkenrufe, ein zeitloser Beruf ist. In einer komplexer werdenden Welt ist die vorausblickende Zusammenschau aller wesentlichen, das Bauen bestimmenden und beeinflussenden Faktoren von entscheidender Bedeutung für das Resultat. Diese geistige Arbeit kann weder von einem Gremium noch vom Computer übernommen werden. Sie muß sich in einem Kopf oder in maximal zwei Köpfen konzentrieren, es müssen eine Haltung, eine Absicht, ein Wille dahinterstehen, sonst wird das Ergebnis belanglos.

Eine erste Bedrohung erwuchs der im vergangenen Jahrzehnt aufgeblühten Wiener Architekturkultur mit dem praxisfremden Vorschlag, eine einzige Normschule zu bestimmen, die an jeder Stelle zu errichten wäre, damit man auf den angeblich individuell konkreten und ortsbezogenen Entwurfsprozeß verzichten könne.

Abgesehen davon, daß sich hinter einem derartigen Ansinnen eine Kasernenhofmentalität verbirgt, geht ihm das lebendige Kulturverständnis ab, sollte doch Entwicklung und Vielfalt durch Stagnation und Einfalt ersetzt werden. Zwar scheint der Vorstoß - in der sen- siblen Vorwahlzeit - vorerst abgeblasen, aber die Verhärtung des Klimas gegenüber zeitgenössischer Architektur, die Absenz ernstgemeinter offener Wettbewerbe und die konzeptlose Politik bei städtebaulich bedeutsamen Filetstücken wie dem Museumsquartier, den Gasometern oder im Umkreis der UNO-City sprechen eine andere Sprache.

Neben der Bedrohung durch Konzeptlosigkeit und mangelndes Qualitätsbewußtsein gibt es einen schleichenden Prozeß der Infantilisierung im Ausdruck, der den Ruf Wiens als Kulturstadt in wenigen Jahren ruinieren kann. Will man international ernst genommen werden, oder sollen Verkleisterung und Mummenschanz Platz greifen?

Auf der allgemeinen Ebene beginnt es mit einer sprachlichen Regression, jenen unsäglich einfältigen, alle paar Jahre wechselnden Plakaten an den Autobahneinfahrten rund um Wien. Für einmal Vorbeifahrende mag dies geringe Bedeutung haben. Den Einheimischen, die mehrmals passieren, fällt es zunehmend schwerer, sich als Bewohner dieser faktischen Metropole, die über kulturhistorische Tiefe und inhaltlichen Reichtum verfügt, von dümmlichen Kalauern belästigen lassen zu müssen. Bezüglich der Architektur geht es weiter mit der Unfähigkeit, Proportionen zu erkennen und zu wahren. Ob dies nun der sprachliche Vergleich von Gebäuden mit Schuhschachteln ist, dem jede Differenzierung und eben das Erkennen von Größenordnungen abgeht, oder ob es die Koppelung der Werke Otto Wagners mit den Produkten der Manufaktur Hundertwasser ist - zwecks Vermarktung an rasch vorbeigetriebene Touristenhorden. In jedem Fall werden Bedeutungen und Werte amalgamiert, die auch ein wohlmeinender analytischer Betrachter als verschieden und unvereinbar erkennen muß. Glaubt man allen Ernstes, daß die kulturelle Lebensdauer der gestalterisch dilettantischen Überwucherung des Passagierschiffs Vindobona jener der Wehranlagen in Nußdorf gleichzusetzen sei?

Eine nachhaltige touristische Bewirtschaftung historischer und zeitgenössischer Werte muß auf Differenzierung beharren und wird Hochkultur nicht mit Trivialkultur gleichsetzen dürfen. Der Gastgeber gibt in der Art, wie kulturelle Inhalte vermittelt werden, zugleich bekannt, in welcher Formdiese gekostet oder eben konsumiert werden sollen. Wenn man zwischen Copa Kagrana und Innenstadt nicht zu unterscheiden weiß, muß man sich über Shorts und Schlapfen im Stephansdom weder wundern noch beklagen.

Eine fortgeschrittene Unübersichtlichkeit führt drittens zur Verwischung der Kategorien. Die Baukunst ist wegen der sich über Generationen erstrekkenden Lebensdauer ihrer Werke eine langsame Kunst. Eine Gleichsetzung mit der Mode oder eine zu platte oder nur oberflächliche Übernahme von Bildern ist ihr nicht zuträglich. Das abgebildete Beispiel, ein Kindergarten beim Sozialmedi- zinischen Zentrum Ost, an der Langobardenstraße in Wien-Stadlau, steht auch für andere Bauten dieser Art und darüber hinaus für eine Entwicklung, die von der Verwirrung in den Köpfen der Architekten wie in jenen der Bauherrschaften zeugt.

Auch hier ist das Thema die vordergründige Infantilisierung. Man glaubt, daß ein Kindergarten „kindlich“ gemacht werden müsse, indem man Kinder mit kindischen Projektionen konfrontiert, die für sie mit der Welt ihrer realen Erfahrung nichts gemein haben. Was herauskommt, ist nur mehr läppisch. Welches Kind verfügt heute noch über einen Anker-Steinbaukasten, auf den sich die unbeholfene Gestaltung des Kindergartens zu beziehen meint, und darf mit dem bereits musealen Bauspielzeug frei spielen, sodaß es einen Bezug zum Kindergartengebäude zu erkennen vermöchte? Ob Froebel- oder Ankerbaukasten, Holz oder Kunststein, Meccano oder Lego, Metall oder Kunststoff: alle Bauspiele sind notwendigerweise Simplifizierungen, denen wesentliche Komponenten dessen, was reale Architektur ausmacht, abgehen. Es handelt sich um Reduktionen für das kindliche Spiel, das in einer wichtigen Entwicklungsphase, die Erwachsenenwelt imitierend, diese mimetisch abzubilden sucht.

Im Vordergrund der Unterschiede stehen der Maßstab und die Tatsache, daß man damit kaum raumbildend wirken kann. Da die Systeme quasi nur mit ganzen Zahlenverhältnissen operieren, fehlt der ganze Komplex der Toleranzbereiche, das Eigenleben der Fugen, der Dilatationen und Durchbiegungen. Und die Statik spielt im Spielzeugmaßstab überhaupt noch keine wesentliche Rolle. Der naive Rückgriff und die direkte Übertragung in ein Bauwerk wirken daher dümmlich. Zugleich zeugen sie davon, daß der Planer die Kinder nur scheinbar ernst genommen hat.

Die Alternativen Normkaserne oder Schlumpfhausen sind für das Architekturgefühl der jungen Menschen denkbar schlecht. Versucht die eine, das Bedürfnis nach differenziertem Orts- und Architekturverständnis zu negieren, verkleistert die andere mit ihren Überkrustungen die Augen und verhindert mit der zum Inhalt beziehungslosen Deckschicht die Erkenntnis und damit den Zugang zum Wesen der Sache.

Gewiß ist es für die Lebenserfahrung eines Jugendlichen auch gut, wenn das Gebäude der Hauptschule oder des Gymnasiums, das er besucht, von einer anderen Architekturauffassung geprägt ist als jenes der Volksschule oder des Kindergartens. So kann aus den Unterschieden die Existenz architektonischer Vielfalt erfahren werden.

Und es ist auch durchaus interessant, wenn man einige Jahre in ein sehr altes Schulhaus gegangen ist, weil man den Atem der Geschichte, und sei es die Geschichte des Alltags, durch eigene Erfahrung gespürt hat. Schlecht verträgt sich in diesem Zusammenhang nur schwache oder verlogene Architektur. Die kulturpolitische Verantwortung für den Gehalt der zeitgenössischen Architektur kann daher weder verneint noch einer populistischen Hauptströmung oder einigen „Stars“ überlassen werden. Auf den Schultern einer vielfältig strukturierten, in mehrere formale Richtungen aufgegliederten Architektenschaft ist sie in einer Demokratie immer noch am besten aufgehoben.

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