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Gnadenfrist auf Noten
Spectrum

Der Architektenberuf im Wandel: Moden, wechselnde Ideologien sowie die Entwicklung der Bautechnologie und der Bauwirtschaft haben ihren Anteil an der Veränderung. Was meinen Architekten der Vergangenheit dazu? Eine fiktive Diskussionsrunde.

21. Juni 1997 - Walter Zschokke
Wir leben in einer Zeit der Beiräte. Was also würde geschehen, wenn die für das Schicksal der Menschen zuständige oberste Behörde auch die Geister einiger Architekten einberiefe, deren Abbilder heute auf europäischen Banknoten zu finden sind? Was würden Otto Wagner, Wiener Wegbereiter der Moderne, der deutsche Architekturfürst Balthasar Neumann, der römische Barockmeister Francesco Borromini und Joze Plecnik, Vater der slowenischen Architektur, zum Stand des Architektenberufs zu sagen wissen?

Der 50-Mark-Balthasar-Neumann würde vielleicht so beginnen: „Ein Grund für die Krise des Berufs scheint mir im Verlust an kultivierten fürstlichen Bauherren zu liegen, die sich ihre Prachtentfaltung etwas kosten ließen, die in Konkurrenz mit anderen standen und von ihren Leibarchitekten immer neue Höchstleistungen forderten. Im Kielwasser dieser Großbauherren folgten zahlreiche kleinere und kleine Auftraggeber, die entsprechend ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und ihrer Betuchtheit Bauaufträge erteilten, sodaß für die Architekten genug zu schaffen war.“

Heute fehle „vielen Vertretern von Rang jene kultivierte Bildung“, würde Neumann fortsetzen: „Politiker schielen der nächsten Wahlen wegen nach den Stammtischen, und Industrie- oder Bankdirektoren lassen jenes kulturelle Engagement nicht selten vermissen, das die Herrscher meiner Zeit auszeichnete. Auch stelle ich fest, daß es keinen Konsens über die gestalterische Richtung gibt; da sind Glasfetischisten, Sichtbetonminimalisten, Holzbaufundamentalisten und so weiter. Und im architektonischen Ausdruck gelten mehrere Strömungen gleichzeitig. Eine eindeutige Linie würde hier Klarheit schaffen, die Banker und Politiker könnten sich an einen Stil gewöhnen, vermöchten vielleicht Qualitätsmerkmale zu unterscheiden, und alle Fachleute könnten sich auf die Perfektion eines einzigen Stils konzentrieren, um ihn zur Hochblüte zu treiben.“

An dieser Stelle müßte sich der 100-Franken-Borromini einmischen: „Es ist eine absurde Vorstellung, die Entwicklung der Baukunst in feste Bahnen lenken zu wollen. Sie darf weder von außen noch von innen vorbestimmt werden, sonst ist keine Erneuerung mehr möglich. Aber ich bin überzeugt, daß der Bezug zur Praxis von grundlegender Bedeutung ist. Erst wenn ich als Gestalter gefühlsmäßig über meine Fähigkeiten verfügen kann, etwa wie Materialien zu bearbeiten sind, wie ihre Grenzen ausgelotet, mit klugen Kombinationen sogar überschritten werden können, wie sie den Beanspruchungen durch Zeit und Umwelteinflüsse standhalten und wie sie am Bau ersetzt und ohne Schaden weiterverwendet oder einer Endverwertung zugeführt werden können - erst wenn ich dies alles im Gefühl habe, bin ich ein vollwertiger Architekt.“

Das anspruchsvolle Bauen setze Erfahrung voraus, „selber gemachte sowie nachvollzogene an den Bauten und Projekten der Vorgänger und Kollegen“, würde Borromini dann meinen: „Nur aufbauend auf diesen Arbeiten kann man zu Neuem vorstoßen; freilich bedingt dies einen befreiten Geist, sonst bleibt man in den Krusten des Alten befangen. Doch hüte man sich vor den Blendern. Ich spreche aus eigener, bitterer Erfahrung: Monumentale Gesten zählen oft mehr als subtile Raumschöpfungen, modische Exaltiertheit findet eher Beachtung als strukturelle Konsequenz und vielschichtige Verwobenheit mit dem Thema und dem Ort. Mir scheint auch, daß die moralische Haltung des Architekten hoch zu gewichten ist. Denn Zynismen fließen unbewußt in die Architektur ein; sie äußern sich in Unterlassungen, in vordergründigen Anbiederungen und in Geringschätzung berechtigter Nutzeranliegen.“

Hier könnte Otto Wagner einhaken: „Ja, es geht um Wahrhaftigkeit, etwa jene der Konstruktion, die erst zur richtigen Form führen kann. Die Berücksichtigung aller Materialien ihrer Natur gemäß setzt deren genaue Kenntnis voraus. Für noch wichtiger erachte ich, daß die jungen Absolventen nach der Grundausbildung bei erfahrenen Meistern eine Art Architekturlehre machen, wo sie vor allem lernen, wie unabhängig von der gestalterischen Erscheinung der Bauwerke gediegene Qualität angestrebt wird, wo fachliches Vermögen geschult und Ansprüche eingelöst werden.“

Je früher sie dann selbständige Erfahrungen machen könnten, desto besser würden hernach ihre Bauten: „Man sehe sich nur die Architekten an, die aus meiner Schule hervorgegangen sind. Ohne energische Nachwuchsförderung gibt es keine Kontinuität der Architekturkultur. Doch die neue Zeit, die neue Bauproduktion erfordern noch andere Qualifikationen. Die vielen technischen Möglichkeiten, die neuen Materialien, die ständig wechselnden Detaillösungen verlangen technische Kompetenz und ökonomische Übersicht; und gegenüber dem Bauherrn ist Kostenbewußtsein und Kostenkontrolle gefragt. Kostengünstig bauen heißt, Erfahrung und Kreativität schon beim Entwerfen einzusetzen, nicht erst vor der Ausführung durch stures Feilschen und Preisdrücken gegenüber den Handwerkern.“

Ein unzufriedener Handwerker mache „keine sauberen Details, die erst die nötige Dauerhaftigkeit des Bauwerks sicherstellen“: „Doch am wenigsten nützt den Architekten Neid und Mißgunst unter den Kollegen. Wenn sie sich gegenseitig in den Rücken fallen, gegenüber anders gearteten Entwürfen nur geschmacklich, nicht inhaltlich urteilen, geben sie den Bauherren schlechte Unterweisung. Eine positive Würdigung von Architekturauffassungen, die von der eigenen verschiedenen sind, erhöht auch das Verständnis für eigene Raumschöpfungen.“

Die Architekturgeschichte zeige, „daß, aus zeitlicher Distanz betrachtet, ehemals erbitterte Kontrahenten heute nahezu gleichwertig nebeneinanderstehen können“: „Das habe auch ich erst spät erkannt. Natürlich fördert ein Disput auch das öffentliche Interesse, aber wenn er nur erfolgt, um Aufsehen zu erregen, bringt er keine Verbesserung der Lage der Architektur.“

Jetzt ergriffe Joze Plecnik das Wort, gedankenvoll von seinem 500-Tolar-Schein blickend: „Die Kluft zwischen einer enteilenden, selbsternannten Avantgarde und dem kulturbewußten Teil der Bevölkerung darf nicht zu weit aufreißen. Es kann nicht Sache der Laien sein, immer wieder Verständnisbrücken zu suchen. Auch die sogenannten Vermittler in Wort und Bild können da nicht immer helfen. Die Gestalter selbst müssen mit den Mitteln der Architektur arbeiten und die Menschen dort abholen, wo sie gerade stehen, um sie zu neuerarbeitetem Verständnis zu führen.“

Das heiße, „daß man ihnen auf die Hände und auf die Füße schauen muß, ihr Verhalten im Innen- und im Außenraum geduldig studiert“: „Erst dann kann man eine sinnvolle zeitgenössische Umsetzung ihrer Bedürfnisse bieten, die über manifestartige Konkretisierungen eigener Befindlichkeiten und ideologische Demonstrationen hinausgeht. Die Kritik, die der Sperrmüllstil des Malers Hundertwasser am seelenlosen Bauwirtschaftsfunktionalismus geübt hat, war richtig. Das anhaltende Interesse an seiner Dekorpraxis zeigt, daß es noch zu wenig gelungen ist, gültige Alternativen für das Geschmacksempfinden breiter Kreise zu entwickeln und diese zu vermitteln. Und die Falle formalistischer Radikalismen, mit vordergründigen Ökonomismen getarnt, ist weiterhin gefährlich gespannt.“

Die menschliche Komponente des Bauens sei der „am stärksten und am weitesten in die Zukunft wirkende positive Faktor der Architektur“, würde Plecnik vielleicht sagen: „Wenn es gelingt, sie in sinnlich erfahrbare Formen und Materialisierungen umzusetzen, arbeiten wir an der europäischen Kultur.“

An dieser Stelle hätte der Vertreter der Behörde ein Zeichen gemacht, daß es genug sei. Das Festhalten an beruflicher Disziplin und Selbstköpfigkeit der Architekten in der Gesellschaft widerspräche gewiß seinem Glauben an riesige Baudurchführungsfirmen, wie es sie ehedem im Ostblock gab. Die Folgen für die Architektur und deren Kultur sind noch und bereits wieder zu erkennen. Die Banknotenbilder würden wieder verstummen, trotz ihrer alltäglichen, millionenfachen Präsenz. Nach der Einführung des Euro müssen manche ihre Breitenwirkung ohnehin anderswo entfalten.

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