Artikel

Die Utopie der Normalität
Die Utopie der Normalität, Foto: Margherita Spiluttini
Die Utopie der Normalität, Foto: Margherita Spiluttini
Spectrum

Die Landesbibliothek von Karin Bily und Paul Katzberger und das Landesarchiv von Michael Loudon: Von außen wirken die zwei jüngsten Bauten des St. Pöltener Kulturbezirks wie aus einem Guß, ihre Innenleben bilden indes eine spannende Polarität.

13. September 1997 - Walter Zschokke
Wenn es um zeitgenössische Architektur geht, kommt einem Zitat von Otto Kapfinger Schlüsselfunktion zu: „Radikalität - wie sie im zumeist sehr leichtfertig kolportierten Geniebegriff vom Architekten aufblitzt - Radikalität kann sich heute eher im Versuch beweisen, eine Utopie der Normalität zu realisieren. Denn es geht dort darum, in aller Freiheit und in neuem, von keinem Anachronismusverdacht getrübtem Umgang mit der baukünstlerischen Tradition dieses Jahrhunderts so unpathetisch wie möglich den Gebrauch der Baukunst als Bündel verschiedenster Gültigkeiten zu thematisieren.“

Diese Sätze spannen das Feld auf, aus dem Landesbibliothek und Landesarchiv architektonisch hervorgegangen sind. Die Architekten Karin Bily, Paul Katzberger und Michael Loudon, seit einigen Jahren in Büropartnerschaft tätig, hatten sich über die städtebauliche Konfiguration geeinigt, nachdem sie im geladenen Wettbewerb für den St. Pöltener Kulturbezirk neben Hans Hollein und Klaus Kada für die Realisierung eines Teilbereichs ausgewählt worden waren.

Der Baugrund für Bibliothek und Landesarchiv liegt in jenem Bereich des neuen Stadtquartiers, wo die flußparallele Struktur der Verwaltungsstadt von der Querachse des Kulturbezirks aufgebrochen wird und in der Raumfolge Landhaus- und Landtagsplatz sowie bedeutungsmäßig mit Landhaus und Landtagsgebäude kulminiert. Als fernwirksames Signal reckt sich als südlicher Platzabschluß der Klangturm von Ernst Hoffmann gen Himmel.

Das städtebauliche Konzept ist einfach: Eng aneinandergerückt - dazwischen bleiben nur schmale Gassen - , sind drei quadrische Volumen U-förmig auf einen Hof bezogen, den 20 zu einem Hain formierte Ahornbäume luftig beschirmen. Das größte der drei Volumen enthält die Bibliothek. Sie definiert die exponierte Nordflanke und trennt den leicht ansteigenden Schubertplatz vom Landhausplatz. In jenem Körper, der die Basis des „U“ bildet, befindet sich der Archiv- und Bearbeitungstrakt. Der dritte und kleinste Quader dient als Publikumstrakt des Archivs. Dahinter schließt der südwestliche Abschnitt des Verwaltungsbezirks an.

Nach außen bilden die drei Körper eine Einheit. Die Verkleidung mit weißem Kalkstein in lagerhafter Struktur deutet zwar einen subtilen Unterschied an, aber dem Vorübergehenden erscheinen die drei Baukörper als Ensemble aus einem Guß. Das gilt aber nur von außen. Während Michael Loudon, unterstützt von seinem Mitarbeiter Josef Habeler, für das Archiv eine fast klassisch anzusprechende in Schichten organisierte innere Ordnung konzipiert hat, entwickelten Karin Bily und Paul Katzberger für die Bibliothek einen gegenklassischen Diskurs mit Durchdringungen und Überlagerungen, die eine präzis vorgegebene Konstruktionsstruktur in den Hintergrund treten lassen.

Das Archiv weist zum Landhausplatz hin einen von starken Mauern geschützten Depotteil auf. Auf vier Geschoßen inklusive Keller stehen hier dicht an dicht Regale mit alten, in Rinds- und Schweinsleder gebundenen Büchern. Andere Archivalien lagern in Schachteln, einige wenige in Faszikeln. Im fünften, obersten Geschoß blickt eine Zeile von Büros nach Osten auf den Landhausplatz, hinter dem dazugehörigen Gang sind wieder Gestelle zu einer Handbibliothek gereiht. Zwischen dem Depotteil und den hinter der Metall-Glas-Fassade bereits von außen erkennbaren, nach Westen, zum Ahornhof, orientierten Büros ist eine vertikale, durch das gesamte Volumen durchgehende Raumschicht eingeschoben. Eine Kaskadentreppe zieht sich darin diagonal von unten bis zum obersten Geschoß, während zwei verglaste Lifte die Vertikale und den Angelpunkt des Gebäudewinkels markieren. Die Erschließung der Büros erfolgt über Laubengänge, von denen kurze Stege über die Treppenabsätze zum Depot hinüberführen.

Ob man nun von unten nach oben blickt, wo das Licht durch regelmäßig plazierte Dachaufsätze, die nach Norden verglast sind, in den schmalen langen Schacht eindringt und, nach unten abnehmend, gleichsam versickert; ob man mit dem gläsernen Lift im Schnellgang mit wechselnder Perspektive hinauf zum Licht gelangt; oder ob man auf den schmalen Stegen hinüber ins Depot wechselt - immer ist mit der Bewegung im Raum zugleich eine intensive Raumerfahrung verbunden.

Der Publikumstrakt ist in jedem Geschoß mit einer geraden Treppe, einem verglasten Foyer und einem Steg relativ locker an den Depottrakt angekoppelt, sodaß sich gerade noch ein schmales Stiegengäßchen dazwischen hindurchzuzwängen vermag. Man betritt ihn durch eine Drehtür vom Ahornhain her. Ein breit organisiertes Foyer leitet linker Hand zu einer Stiege, die ins Obergeschoß zur Anmeldung weist.

Dieser foyerartige Teil greift in den anderen Baukörper hinüber, er bildet zugleich das funktionale Gelenk zum hohen, langgezogenen Lesesaal, in dem ein langer Tisch den Raum beherrscht. Vier Arbeitskabinen stoßen erkerartig durch die Südmauer. Ihre Glasfensterwand kann mit hölzernen Schiebelamellen verschattet werden. Zwei hohe Lichtbänder ziehen sich unter der Decke den Längsseiten entlang. Zum Hinausschauen dient ein niedriger horizontaler Schlitz in Augenhöhe der Sitzenden. Auch dieser läßt sich abblenden. Der Lesesaal gibt sich introvertiert, fast meditativ in seiner Raumwirkung. Das Konzept des einen großen Tisches symbolisiert das abstrakte Gebäude gemeinsamen Forschens, gebildet aus der Summe individueller Ansätze.

Ueber dem Lesesaal liegt ein Dachgarten mit Pausencafé für die Mitarbeiter. Der von hohen Mauern begrenzte, kontemplative Raum ist oben offen. Er betont, wie das gesamte Gebäude, die intellektuellen Vorgänge des Archivierens und konzentrierten Forschens. Denn Archivarbeit ist letztendlich Meditation auf Vergangenheit. Einige wenige Ausblicke sind bewußt gewählt, sie dienen aber nicht der Belichtung, dafür sind die hohen Oberlichte da. Die Archivbeamten verfügen über normale Büros mit Fenstern.

Die Bibliothek ist komplexer organisiert: im Sockelgeschoß Depoträumlichkeiten, im Erdgeschoß Verwaltung, Katalogisierung, Buchrestaurierung und ein Lesesaal für Kinder, dem eine eingezogene Terrasse mit Blick aufs Festspielhaus vorgelagert ist. Im Obergeschoß nimmt der Lesesaal den Kernbereich ein; westlich schließen Bücherdepots auf mehreren Geschoßen an, in die ein Vortragssaal inkorporiert wurde; östlich sind es zwei kleinere Säle quadratischen Zuschnitts für graphische Archive und Bearbeitungstische. Ein Archiv aller in Niederösterreich erscheinenden Zeitschriften liegt an der Südseite. Nach Norden öffnet sich ein nahezu städtebaulich breites Fenster auf den Park zwischen Regierungsviertel und altem Stadtrand und holt den Außenraum energisch herein.

Strukturell wird das Gebäude ebenfalls durch einen vertikalen Schnitt geteilt. Zwischen einsehbarem Bücherspeicher und Lesesaal führt ein schmaler, von oben belichteter Schlitz durch das Haus. Logischerweise sind hier ebenfalls die Lifte plaziert. Der Eingang, wieder vom Ahornhain her in Form einer Drehtür, liegt exakt an dieser Schnittstelle. Und hier entwickelt sich nun ein Prinzip, das von Karin Bily und Paul Katzberger schon da und dort angewendet wurde: jenes der haarscharf nebeneinander versetzten Achsen. Unmittelbar nach der Drehtür bieten sich die Alternativen der zum Lesesaal hinaufführenden Treppe oder des ebenen Weges zum Lift an. Eine geschwungene Wand in Rot weitet sich zum kleinen Foyer, und eine knappe Sitzbank lädt zum Blick nach oben ein, der erst von der Untersicht des Daches gebremst wird.

Der dreimal 2,30 Meter hohe Lesesaal ist auf der exakten Basis von vier mal vier Quadraten entwickelt, der sich aber die funktionale Ordnung nicht beugt. Die extrem schlanken Stahlbetonstützen mit ihren scharf getrennten Licht- und Schattenseiten werden zu konkreten Skulpturen in einem Raum, in dessen unterem Drittel Eichenholz und in dessen oberen zwei Dritteln fein gelochtes, matt glänzendes Blech vorherrscht. Der hohe Raum ist damit akustisch gedämpft: ein ruhiger Arbeitsraum. Ein Deckendurchbruch holt Zenitallicht in den Saal, das über Kopf umgelenkt und von den Blechwänden reflektiert wird, woraus gleichmäßige Lichtverhältnisse resultieren. Auch hier Arbeitstische, ein paar kleine und ein großer, sowie acht Kabinen zum ungestörten Arbeiten.

Die Klarheit der konstruktiven Struktur wird bewußt in mehrdeutiger Weise verschleiert, da und dort taucht Unerwartetes auf, doch werden Sensationalismen vermieden. Die Raumstimmung gewinnt den Charakter eines Akkords.

Die Verschiedenheit der Haltungen, wie sie aus den beiden Bauwerken sprechen, hat die Architekten aber nicht gehindert, sich städtebaulich an die eingangs gefaßte Ordnung zu halten. Diese Unaufgeregtheit und Selbstverständlichkeit läßt die Gebäudegruppe nach außen die Funktion eines ruhigen Pols übernehmen. Eine Aufgabe, die mit dem Charakter ihrer Nutzung übereinstimmt.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: