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Eine Burg des Glaubens
Mit kleinen Villen wurde Mario Botta vor zwanzig Jahren berühmt. Seither hat er sich in verschiedenen Baugattungen versucht, um schliesslich im Sakralbau wahre Meisterschaft zu erlangen. Wie so oft im Werk des heute 55jährigen Tessiners faszinieren dabei die kleinen Lösungen ganz besonders: allen voran das Bergheiligtum am Monte Tamaro. Diesem Juwel antwortet seit kurzem eine Synagoge in Tel Aviv, die trotz strenger Symmetrie eine ähnliche Poesie ausstrahlt. Mit dem am Rande eines Palmenhains im Herzen des Campus der Tel-Aviv-Universität errichteten Gotteshaus übertraf Botta sich selbst - und dies, obwohl er noch nie eine Synagoge betreten hatte, als Norbert Cymbalista, der Schweizer Stifter, ihn Ende 1995 um einen Entwurf bat. Doch Intuition und ein Gespür für das Sakrale liessen ihn eine Lösung finden, die in einem Atemzug mit Frank Lloyd Wrights Beth-Sholom-Tempel in Elkins Park und Louis Kahns Entwurf für die Hurva-Synagoge in Jerusalem genannt werden darf.
Anders als Wright, dessen Reformsynagoge sich kaum von einer protestantischen Kirche unterscheidet, erfand Botta einen neuen Bautyp: eine aus zwei fast identischen Räumen bestehende Doppelsynagoge, bei der aus einem rechteckigen Sockel von 22 auf 29 Metern in strenger Symmetrie zwei würfelförmige Räume von je 10,5 Metern Kantenlänge wachsen und himmelwärts sich zu Zylindern von 15 Metern Durchmesser weiten. Bei diesem burgartigen, mit rotem Veroneser Stein verkleideten Solitär handelt es sich um die erste architektonisch bedeutende Campus-Synagoge seit nunmehr 40 Jahren, als Heinz Rau und David Reznik in Jerusalem ihr legendäres Gotteshaus bauten. Zudem bedeutet Bottas Meisterwerk mit seinen vielfältigen historischen Bezügen, die von den würfelförmigen Synagogenräumen der rheinischen Romanik über die Festungssynagogen Ostmitteleuropas bis hin zu Judith Stolzers turmförmiger Wehrsynagoge in Hadera reichen, einen Gewinn für die Architektur in Israel: Denn seit Zvi Heckers bunkerartiger Negev-Synagoge von 1969 ist hier kein Sakralbau mehr entstanden, der sich mit Bottas Cymbalista-Synagoge in künstlerischer Hinsicht messen könnte.
Der durch ein gekuppeltes Säulenpaar akzentuierte Nordeingang führt in eine Vorhalle, von der aus man nach links in das Judaica-Museum und die eigentliche Synagoge, nach rechts aber in den Beth Midrasch genannten Raum für das Thorastudium und in den Versammlungssaal gelangt. Während dieser als «Westturm» ausgebildete Saal für kulturelle Aktivitäten, aber auch für konservative oder reformierte Gottesdienste genutzt wird, ist der mit seiner Apsis nach Jerusalem orientierte «Ostturm», der sich wie sein Gegenüber mittels grosser Schiebetüren zum Vorraum öffnen lässt, im Inneren ganz klar als orthodoxe Synagoge konzipiert. Allerdings wurde, um die räumliche Einheit nicht zu stören, auf eine Frauenempore verzichtet und das Frauenabteil statt dessen - ähnlich wie in gewissen antiken Synagogen durch ein Geländer symbolisch abgetrennt - auf dem Eingangsniveau eingerichtet. Eine Stufe führt vom Eingang hinab zur Bima, dem Lesepult im Zentrum des Raums, von wo die Männer «aus der Tiefe» ihre Stimme zum Gebet erheben.
Tageslicht flutet in die mit Pietra dorata ausgekleideten «Türme» durch je vier Segmente, die im Übergang von der quadratischen, an eine Chuppa, einen Baldachin, erinnernden Decke zum runden Dachabschluss ausgespart sind. Dank solcher Lichtmetaphorik drang Botta ganz instinktiv zum Wesen des Synagogenbaus vor. Gleichzeitig erlaubte ihm sein auf geometrischen Formen beruhender Rationalismus eine grösstmögliche Abstraktion des nach der Quadratur des Kreises strebenden Bauwerks, das trotz seinen eher bescheidenen Dimensionen zur monumentalen Erscheinung wird.
Als zeitgenössische Interpretation des Tors zum himmlischen Jerusalem löst dieses romanisch strenge Gotteshaus nicht nur das Versprechen von Kahns Jahrhundertprojekt der Hurva-Synagoge ein. Ihm kommt im säkularen Tel Aviv auch eine nicht zu unterschätzende gesellschaftspolitische Bedeutung zu: Denn die doppelgesichtige Burg des Glaubens wird als Ort der Begegnung zum Symbol der für die Zukunft Israels wichtigen Versöhnung zwischen den sich immer weiter auseinanderlebenden religiösen und laizistischen Bevölkerungsgruppen.
Darüber hinaus setzt sie aber auch neue architektonische Standards: Hier wurde nämlich eine Qualität in Ausführung und Detail erreicht, wie man sie in Israel zuvor kaum für möglich hielt.
Cohabitation im Fischerhafen
Vornehm unterkühlt gefällt sich Frankreichs neue Architektur. Doch neben den Prestigebauten Mitterrands, die ganz der Rhetorik der Grande Nation verpflichtet sind, begegnet man auch «bescheideneren» Werken. Es handelt sich dabei vor allem um sensibel auf den Kontext bezogene Umbauten und Erweiterungen kostbarer Denkmalschutzobjekte oder alter Strukturen, die ihrer einstigen Funktion beraubt wurden. So hat etwa im Grossraum Lille, der Stadt, die sich rund um den TGV-Bahnhof einem urbanistischen Grosseingriff unterzog, ein Meister des Dekonstruktivismus, der Lausanner Bernard Tschumi, mit seinem Medienzentrum in Tourcoing bewiesen, dass sich auch ausgediente Bausubstanz in aufsehenerregende Architektur verwandeln lässt.
Etwas im Schatten dieses Grossereignisses hat in Fécamp, einem an der Kanalküste zwischen Le Havre und Dieppe gelegenen Fischerstädtchen, der 56jährige Architekt Jacques Etienne aus Rouen, der sich mit einem Internat in Fécamp und mehreren Schulbauten in der Normandie bereits einen Namen machte, das Lycée Maritime Anita Conti, eine Berufsschule für angehende Fischer, gebaut. Die Schule - zuvor in einem Altbau untergebracht, dessen bedenklicher Zustand gleichsam die Krise des lokalen Fischereigewerbes spiegelte - sollte ein optimistisches Zeichen des Neuanfangs setzen in Frankreichs bedeutendstem Zentrum des Kabeljau-Fischfangs.
Als Bauplatz zur Verfügung stand am Fuss eines steilen, aus den Klippen hervorgewachsenen Hügels ein altes, «la boucane» genanntes Gebäude, das einst eine Fischräucherei beherbergt hatte, und darüber - auf einer Gartenterrasse thronend - ein Haus von Guy de Maupassant. An diesem bedeutungsvollen Ort, an dem sich Fécamps Wirtschaftsgeschichte mit Frankreichs Hochkultur vereint, versuchte Etienne - ganz ähnlich wie Tschumi in Tourcoing - die Spuren der Vergangenheit mit Hilfe heutiger Architektur systematisch herauszuarbeiten und neu zu interpretieren.
Urbanistisch geschickt verwandelte er den Platz vor der «boucane» durch die Anfügung zweier Neubauflügel in einen Hof. Den schlecht erhaltenen Bau liess er teilweise abtragen, als Schulgebäude für den technischen Unterricht rekonstruieren und darauf ein pavillonartiges Panoramarestaurant setzen - mit Aussicht auf die Stadt und die bergseitige Terrasse. Deren einstige Exponiertheit wurde dadurch zu einem intimen Gartenhof geschlossen, der nun vom restaurierten Maupassant-Haus beherrscht wird. Dieses transformierte Etienne in eine Bibliothek und erweiterte es nach Osten um einen in die dahinterliegende Terrasse integrierten Mehrzwecksaal.
Eine Treppenkaskade, die die Topographie suggestiv betont, führt über zwei Terrassen hinunter zum Eingangshof - vorbei am kubischen Ostflügel. Dieser in Nordsüdrichtung transparente Solitär aus Beton, Stahl und Glas dient dem Studium der grossen Meereskarten. Treppen, Relings und ein als minimalistischer Schiffsmast gestalteter Kamin aus Beton machen das Gebäude zu einer maritimen Metapher, während die holzverkleideten Seitenwände die von der «boucane» evozierte Hafenatmosphäre diskret unterstützen.
Der aus der ehemaligen Räucherei herauswachsende Westflügel präsentiert zum Quai Guy-de-Maupassant hin ebenfalls eine Maske aus Holz. Dadurch wird dieser weit vorspringende Annex, das Kernstück der Anlage, fest mit der bestehenden städtebaulichen Textur verwoben. In ihm befindet sich die grosse Eingangshalle, zu der eine Brücke vom Hof her über einen Abgang führt. Auf diesem können die vom Fischfang zurückkehrenden Studenten direkt in die Umkleideräume und Duschanlagen im Untergeschoss gelangen. Ein nach oben sich verengendes, durch Oberlicht erhelltes Treppenhaus stellt von hier aus die Verbindung mit der Eingangshalle her sowie mit den darüberliegenden Theorieräumen und dem Mensa-Restaurant auf der fünften Ebene.
In dieser Anlage, die von der architektonischen Umsetzung, den Abläufen und Stimmungen her überzeugt, gehen Alt und Neu eine harmonische Cohabitation ein, ohne jedoch zur spannungslosen Einheit zu verschmelzen. So kommen hier seit letztem Herbst rund 100 Schüler im Alter von 14 bis 19 Jahren in den Genuss eines funktionalen Hauses, das mit seinen überraschenden Inszenierungen bald an das Leben auf einem Schiff, bald an die Eigenheiten des Orts erinnert. Diesem Baukomplex, der ganz Ausdruck unserer Zeit ist und trotzdem stolz die Tradition umklammert, eignet ein architektonischer Ausdruck, wie ihn zuvor nur Jean Nouvels Erweiterung des Hotels St. James in den Rebbergen von Bouliac bei Bordeaux erreicht hat.
Eine urbane Oase in der Stadtwüste
In Downtown Phoenix, dem Herzen des «Valley of the Sun», einer der am schnellsten wachsenden Agglomerationen Nordamerikas, hat die Architektur eine andere Aufgabe als in Europa. Das weitläufige Stadtgebilde gleicht einem Palmenhain, durchsetzt mit ungezählten Bungalows, aus dem einzig bizarre Felsenriffe und Hochhauskronen als Orientierungshilfen ragen. Hier, wo Wrights Vision einer «Broadacre City» Realität geworden scheint, bestimmen Sommerhitze und Distanzen das urbane Leben und zwingen jeden gnadenlos ins Auto.
Da Phoenix nicht für Flaneure geplant ist, müssen öffentliche Bauten nicht nur weithin sichtbare Zeichen setzen, sondern auch ein soziales Umfeld erzeugen. Das weiss wohl keiner besser als der heute 52jährige Will Bruder, der 1967, nach einem Kunststudium in Milwaukee, sein heimatliches Wisconsin in Richtung Arizona verliess, um bei Paolo Soleri Architektur zu studieren. Im geistigen und geographischen Spannungsfeld zwischen Soleris Arcosanti und Wrights Taliesin West baute er sich 1975 ein Haus und machte sich zunächst mit Villen einen Namen. Nach einigen grösseren Aufträgen - darunter das Deer Valley Rock Art Center, die Kol-Ami-Synagoge in Scottsdale und zwei Quartierbibliotheken in Shopping Malls - schaffte er mit der 1997 nach acht Jahren Planungs- und Bauzeit vollendeten Phoenix Central Library elegant den Sprung in die architektonische Weltliga.
Der als Freihandbibliothek für über eine Million Bücher konzipierte Bau erhebt sich an der Central Avenue im Niemandsland zwischen den Hochhausballungen des alten Zentrums und der zwei Kilometer nördlich davon gelegenen neuen Bürocity. Künftig soll dieses Gebiet durch einen parkartigen Fussgängerboulevard zur Kulturmeile aufgewertet werden. Dieser wird dereinst parallel zur Central Avenue von der Innenstadt bis zum 500 Meter nördlich der Central Library gelegenen und jüngst vom New Yorker Architektenduo William und Tsien erweiterten Phoenix Museum of Art führen.
Bruder, der - ganz im Sinne von Soleri - nach dem Motto «client, community, context, craft and choreography» arbeitet, fragte sich zunächst, welche Bilder er mit seinem Neubau den Autofahrern und welche den Besuchern vermitteln sollte. Aus seiner Recherche resultierte eine Identifikationsfigur in der monotonen Stadtlandschaft, die nach Norden, zu den Parkplätzen hin, mit weissen Sonnensegeln die Besucher empfängt, während die auf das Stadtzentrum ausgerichtete Fassade mit ihrer abgetreppten Curtain Wall ganz diskret mit dem Aussehen eines simplen Bürohauses kokettiert. Zur Strasse und zum rückseitigen Vorplatz hin dagegen tritt die entlang der Nordsüdachse symmetrische Grossform als eine Art sanft gekurvte Serra-Plastik in Erscheinung und bietet so eine Umdeutung von Nouvels Cartier-Glasschrein in eine Burg aus Kupfer, dem Erz aus Arizonas Minen.
Am Abend, wenn durch die fein perforierten Kupferwände das hellerleuchtete Innenleben des Gebäudes scheint, vertreibt eine magische Transparenz den Eindruck der Verbunkerung. Bei Tag aber werden die rostroten Wände durch 40 Meter hohe Stahlschilde belebt, welche die beiden Eingänge markieren. Zwei Höhlenwege führen hier zum «Crystal Canyon», der das fünfgeschossige Gebäude in seiner ganzen Höhe durchschneidet und aus dem Zenit Tageslicht bis zum schwarzen Pool zuunterst in der kühlen Schlucht vordringen lässt. Von hier, wo sich die Wege kreuzen, gelangt man ebenerdig zur Information, zu den Computerplätzen, in den Theatersaal sowie in das noch einzurichtende Café.
Futuristische Lifte und ein Treppenhaus, das mit seinen opaken Glaswänden einer Noguchi-Lampe gleicht, führen vorbei an den drei mittleren Etagen mit Büros, Ausstellungs- und Lagerräumen hinauf in den 80 mal 50 Meter grossen Reading Room. Mit ihren kerzenartig sich verjüngenden, auf Bullaugenfenster zielenden Betonsäulen und dem schwebenden Dach ist diese schattige Oase eine ebenso unkonventionelle wie zeitgemässe Antwort auf Henri Labroustes filigrane Metallkonstruktion des Lesesaals der alten Bibliothèque nationale in Paris, aber auch auf das Grossraumbüro von Wrights Johnson Wax Building in Racine, Wisconsin.
Das zwischen Flugzeughangar, Kulturtempel und Bürohaus oszillierende Bibliotheksgebäude ist mit dem 120 Meter langen Mittelbau und den seitlich angehängten, kupfernen «Satteltaschen» ganz im Sinn von Kahn in dienende und bediente Räume unterteilt. Sein monolithisches Äusseres scheint entfernt Zumthor verpflichtet zu sein, die Metallkonstruktion des Daches aber lässt an die Leichtbauweise des Australiers Glenn Murcutt denken. Die Liebe zum Detail und die überlegte Wahl der Materialien verraten hingegen Scarpas Einfluss, während im kinetischen Formenspiel der Sonnensegel Bruce Goffs textile Fassadenmuster nachklingen. Das Resultat dieser anspielungsreichen Arbeitsweise ist jedoch durchaus nicht eklektisch. Vielmehr erfand Bruder - vielleicht erstmals seit den Pueblosiedlungen der Hopi-Indianer - eine auf Arizona zugeschnittene Architektur. Bei dieser stehen, fernab von jeglicher Adobe-Romantik, eine populär ausgerichtete Monumentalität sowie topographische, geologische und kulturgeschichtliche Metaphern im Mittelpunkt: vom Canyon bis zur Satteltasche.
Ein Spiegel im Museumsgarten
Als Königliche Kunst geniesst die Architektur in Frankreich hohes Ansehen, das vorab Mitterrand gezielt zu nutzen wusste. Ihm eiferten die Herrscher in der Provinz nach, allen voran Pierre Mauroy, der Bürgermeister von Lille und einstige Premierminister. Ihm verdankt die lang vom Niedergang geprägte Metropole des Nordens ambitiöse TGV-Projekte, die als Euralille und Congrexpo Berühmtheit erlangten. Doch inzwischen ist die von Rem Koolhaas konzipierte und zusammen mit Jean Nouvel und Christian de Portzamparc realisierte Bahnhofbebauung wegen ihrer vibrierenden Türme ins Gerede gekommen.
Diese architektonischen Ikonen der frühen neunziger Jahre, die Lille zur Hochburg eines zukunftsorientierten europäischen Städtebaus hätten machen sollen, muten heute schon etwas überholt an. Das neuste Meisterwerk der Stadt wirkt denn auch wie eine demonstrative Absage an Koolhaas' megalomane Geste. Es handelt sich dabei um die Restaurierung und Erweiterung eines der schönsten französischen Kunstmuseen: des Palais des Beaux-Arts an der noblen Place de la République.
Seit Jahrzehnten dämmerte dieser Bau, 1892 im Rausch der Belle époque von Bérard & Delmas für die kostbare Sammlung flämischer und holländischer Kunst der Stadt vollendet, still vor sich hin. Doch 1990 machte sich Optimismus breit: Im Rahmen eines Wettbewerbs wurde das vorbildliche Projekt der beiden heute vierzig Jahre alten Pariser Architekten und einstigen Nouvel-Mitarbeiter Jean-Marc Ibos und Myrto Vitart für eine Renovation, Erweiterung und Öffnung des Kunstpalastes gekürt. Sie liessen Umbauten entfernen, gaben den Galerien die ursprüngliche Frische zurück, verwandelten die Kellergewölbe in eine stimmungsvolle Raumsequenz für die mittelalterliche Sammlung und versenkten im Museumsgarten, der begrenzt wird von einem Neubau für die graphische Sammlung, die Verwaltung und das Restaurant, eine von dosierbarem Oberlicht erhellte temporäre Ausstellungshalle.
Nun darf das vom Mief der Zeit befreite Museum ganz selbstverliebt mit seinem Spiegelbild auf der Fassade des neuen Hauses kokettieren. Dieses stellten die Architekten im Abstand von gut dreissig Metern der Südfassade des Palais entgegen, just an der Stelle, wo Bérard & Delmas 1895 einen nie realisierten Ergänzungsbau geplant hatten. Schaut man nun aus dem Museum auf diesen Verwaltungsbau, so täuscht dessen Glashaut dem Betrachter gleichsam eine Vision der einst geplanten Ergänzung vor.
Das gläserne Haus von Ibos und Vitart zählt nicht zu jenen stümperhaften Spiegelschränken, die seit Jahren auch Frankreichs Städte verunstalten. Vielmehr handelt es sich dabei um eine ebenso ironische wie poetische Brechung des Themas. Die Glashülle und die Geschossflächen werden von einer einzigen, leicht sichelförmigen Betonwand getragen. Diese tritt durch die Fensterfront zum Hof hin als pompejanisch rote Fläche mit goldenen Rechtecken in Erscheinung und verleiht ihm eine heitere, dynamische Atmosphäre. Sie ist mit ihrem Rot und Gold aber auch eine Anspielung auf die Altmeistergalerien des Museums und zugleich Hintergrund für die setzkastenartige Bühne, auf der man die Museumsangestellten auftreten und verschwinden sieht.
Bestehen die vom Museum abgewandten Fassaden abwechselnd aus opakem Industrie- und transparentem Fensterglas, so ist die hofseitige «Spiegelwand» mit durchsichtigem Glas verkleidet, auf dem kleine, an Strichcodes erinnernde Spiegelflächen serigraphisch aufgetragen wurden, was zusammen mit der intensiven Farbigkeit ein stark impressionistisches Bild erzeugt. Dadurch wird das neue Haus fast unsichtbar, so dass man - mit einem Blick auf das frühe Schaffen von Mario Merz - von einer «maison cache-toi» sprechen möchte.
Der mit einem Grundriss von rund sieben mal siebzig Metern extrem schmale, im Volksmund als «Klinge» bekannte Bau nimmt innerhalb der aktuellen Diskussion um eine monolithische Architektur eine besondere Stellung ein. Die minimalistische Erscheinung des Baukörpers wird von der Oberlichtverglasung des unterirdischen Ausstellungssaals aufgenommen. Dieser eignet im Kontext des ganz französisch als künstliche Natur thematisierten Hofgartens die Form eines artifiziellen Pools, denn ihre aus grossen, bruchsicheren Platten bestehende Oberfläche ist umgeben von einem Rinnsal, das der ganzen Fläche das Aussehen von Wasser verleiht.
So wird der Neubau zum zeitgenössischen Statement in diesem der älteren Kunst gewidmeten Haus und damit auch zu einem Musterbeispiel des Zusammenklangs von heutiger Architektur und Museographie. Hier wagen zwei höchst gegensätzliche Gebäude, der pompöse Beaux-Arts-Palast und die minimalistische Glaskiste, den Dialog mit der Stadt und beweisen dabei Respekt für das Bestehende. Dadurch wird die vielbeschworene Neubelebung der Stadt, die in Euralille nicht zum Tragen kommen will, erst Wirklichkeit.
Roman Hollenstein
Ein Glaspavillon im Weinberg
Als Gartenstadt mit Bauten der Jahrhundertwende lockt Adelaide, die Metropole Südaustraliens, Touristen an. Von hier aus pilgern sie dann zu den Rebgütern im Barossa Valley. Dabei wartet schon viel näher ein erster Höhepunkt auf historisch und architektonisch interessierte Weinliebhaber: das Magill Estate am Fuss der Mount Lofty Ranges am Ostrand der Stadt. Hier wurde 1844 von Christopher Rawson Penfold der Grundstein zu einer der berühmtesten Kellereien des Landes gelegt. Allmählich wuchs das Gut zu einem verwinkelten Dorf mit malerischen Produktions-, Verwaltungs- und Wohngebäuden.
Wirtschaftliche Probleme brachten dann diesen geschichtsträchtigen Ort, der heute als nationales Kulturerbe gilt, in Gefahr. Der Komplex dämmerte dem Verfall entgegen. Durch den Bau von Villen waren die Rebberge auf fünf Hektaren geschrumpft. 1990 wurden die Penfolds-Kellereien von Southcorp übernommen; und die neue Besitzerin bestimmte den Magill Estate zum Aushängeschild von Penfolds. Sie beauftragte das Architekturbüro Allen, Jack und Cottier aus Sydney mit der Renovation des Gutes und mit dem Bau eines Restaurants.
Bekannt geworden waren die drei Architekten als Protagonisten der Sydney School. Diese Bewegung wandte sich Ende der fünfziger Jahre von der funktionalistisch unterkühlten Nachkriegsmoderne ab und plädierte für eine malerische Baukunst, bei der die lokale Bautradition und der Bezug zur Landschaft eine zentrale Rolle spielen sollten. Allen, Jack und Cottier realisierten vielbeachtete Wohn- und Schulbauten; von ihnen stammen aber auch die bedeutendsten neuen Weinkellereien Australiens: der Rothbury Estate im Hunter Valley und die von einem scheunenartigen Hauptgebäude beherrschte Domaine Chandon Winery in Coldstream.
Für Keith Cottier, den kreativen Kopf des Büros, ist das Shed - der einfache Schuppen - Inbegriff der ländlichen Baukunst Australiens. In den siebziger Jahren hatte er fast gleichzeitig mit Glenn Murcutt das Shed und die Veranda, das andere Charakteristikum der australischen Architektur, für sich neu entdeckt. Er errichtete weit offene, dem Klima angepasste Wohnhäuser aus Stahl, Glas und Holz, in einem Mies van der Rohe verpflichteten «Ethno-High-Tech», die sich durch grosse Detailsorgfalt ausweisen. Diese Liebe zum Detail führte beim Magill Estate zu einer vorbildlichen Restaurierung der altehrwürdigen Bauten, und die Auseinandersetzung mit Klima, ruraler Architektur und neuster Technik machte das Herzstück der Anlage, das neue Restaurant, zu einem kleinen Juwel.
Obwohl prominent über dem Rebberg gelegen und eng mit dem historischen Komplex verflochten, ordnet sich der rechtwinklig zum Küchengebäude entlang der Nordsüdachse errichtete Restauranttrakt harmonisch ins Gesamtbild ein. Dieser als «verglaster Aussenraum unter einer schwebenden Dachplatte» konzipierte japanisch elegante Pavillon, der an milden Tagen fast ganz geöffnet werden kann, ist gleichsam die Neuinterpretation des australischen Verandahauses. Über eine Treppe erreicht man vom Rebberg her den Eingang. Ein Bassin, geteilt von einer Betonwand, bildet hier den neuen, an Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon erinnernden Mittelpunkt der Gesamtanlage. Mit seiner Transparenz erzeugt das Restaurant einen reizvollen Kontrast zu den alten Bruchsteinbauten; und der mit eleganten Designermöbeln eingerichtete Speisesaal gewährt einen Panoramablick auf Stadt und Meer. Zwölf verchromte Stahlträger, auf denen das Metalldach ruht, und ein hölzerner, den Abgang zum Weinkeller markierender Buffeteinbau setzen hier die einzigen Akzente in einer Architektur, die ihre Qualität aus der Reduktion zu schöpfen weiss.
Max Dudler - ein Schweizer Architekt in Berlin
Vor vier Jahren gelangte die neue Berliner Architektur unter Beschuss. Der damalige Senatsbaudirektor Hans Stimmann und mit ihm einige führende Architekten propagierten für die Innenstadt die sogleich von gewissen Kritikern als faschistisch gebrandmarkte Idee eines «Steinernen Berlin». Zu deren Verfechtern gehörte auch Max Dudler - nicht ohne Erfolg, ist er doch heute einer der meistbeschäftigten Architekten an der Spree. Ihm widmet nun der Schweizer Dokumentarfilmer Beat Kuert ein Porträt, das den 1949 im sankt-gallischen Altenrhein geborenen Dudler als ebenso sympathischen wie elegant gekleideten Baukünstler zeigt. Unter dem Titel «Reichtum der Askese» präsentiert sein Film Dudlers karge, aber bis ins letzte Detail durchdachte Bauten, die sich im Gegensatz etwa zur Deutschschweizer Einfachheit durch raffinierte Eleganz und grossstädtischen Schliff auszeichnen.
Die grossen Themen, auf die der Rheintaler immer wieder zurückkommt, sind Stadt, Raum, Fassade und baukünstlerische Qualität. Eine Auseinandersetzung mit diesen Grundlagen des Bauens vermisst er bei den meisten seiner Berufskollegen, findet sie jedoch komprimiert im Klosterbezirk von St. Gallen, der ihn von früher Jugend an nachhaltig prägte. Nicht die Dynamisierung des Raums faszinierte ihn dort, sondern der Umgang mit dem Stein. Und darin zeigt sich denn auch seine heutige Meisterschaft: Anders als das Gros der Architekten verwendet er Stein nicht als Tapete, die vor den Rohbau gehängt wird. Vielmehr geht er in seinen Bauten direkt vom Stein aus, von seinem Volumen und seiner Blockhaftigkeit. Das Ergebnis sind kantige und spröde, formal sich stets ein wenig wiederholende Bauten, die heute so prominente Orte definieren wie den Bahnhofplatz von Mannheim oder den Berliner Gendarmenmarkt, wo Dudler gegenüber von Schinkels Schauspielhaus einen grossstädtischen Bürobau errichten konnte. Mit Schinkel ist gleich auch eines seiner Vorbilder genannt, ein anderes ist Ungers, bei dem er in Frankfurt arbeitete.
Dies alles vermittelt Kuerts Film. Der Berliner Streit hingegen, der Dudlers Karriere jäh hätte knicken können, wird nur in zwei knappen Sprachfetzen angedeutet, und zwar so, dass sich für Nichteingeweihte daraus kaum ein Sinn ergibt: «Immer wenn Stein auftaucht, sagt man, das sei ein faschistisches Material und Glas sei ein demokratisches.» Überhaupt setzt der durch mitunter etwas allzu abrupte Schnitte gekennzeichnete Bilderreigen einiges an Wissen über diesen hierzulande nur Insidern bekannten Architekten voraus. Dass er aus einer Steinmetzfamilie stammt und in Berlin studierte, erfährt man erst gegen Ende des Films. Gar nicht erwähnt wird hingegen ein wichtiges Detail: nämlich dass Dudler nicht die typische Bilderbuchkarriere eines Schweizer Architekten durchlief. Seine höheren Weihen holte er sich nämlich nicht an der ETH. Vielmehr ging er nach einer Bauzeichnerlehre an die Frankfurter Städelschule und anschliessend an die Hochschule der Künste in Berlin. Schon diese Laufbahn zeigt, dass Dudler sich nicht als technisch gedrillten Architekten, sondern als Baukünstler versteht - eine Botschaft, die dieser Film durchaus zu vermitteln weiss.
Monologe des Architekten wechseln immer wieder mit unbeweglichen, an Diaprojektionen erinnernden Einstellungen ab, die die Bauten streng frontal und etwas leblos zeigen. Auf die filmischen Möglichkeiten einer promenade architecturale verzichtet Kuert, wohl in der Annahme, dass er so den klassizistisch strengen Bauten am ehesten gerecht wird. Die Folge ist, dass sie völlig abstrakt erscheinen. Aber nicht nur der visuelle Zugang zu den Bauten bleibt limitiert. Auch über deren internationale Rezeption erfährt der Zuschauer nichts, da eine kommentierende Stimme aus dem Off fehlt. Dabei ist Dudlers Architektur nicht nur in Schweizer Kollegenkreisen, sondern auch in Deutschland umstritten und wird von den einen bewundert, von den andern heftig abgelehnt. Auch weil Architektur die öffentlichste aller Künste ist, erweist sich die Wahl von Direktzitaten, um architektonische Fragestellungen und Probleme aufzuzeigen, als ungeschickt. Zumal Dudler weder ein kritischer Intellektueller noch ein eloquenter Redner ist. Oft lässt sich die Bedeutung von Dudlers Sätzen nur erahnen - und zwar nicht nur, wenn er von der «Sinnlichkeit, wo man darin wohnen kann», spricht.
So lässt einen denn der Film etwas ratlos zurück. Man glaubt zwar, einen der erfolgreichsten Architekten im deutschsprachigen Raum näher kennengelernt zu haben, hat aber gleichwohl keinen gültigen Eindruck von seinem Schaffen und dessen Bedeutung erhalten. Gerne hätte man beispielsweise erfahren, wie Dudler sich gegenüber der gegenwärtig so erfolgreichen Deutschschweizer Architektur definiert und ob er wirklich nur deshalb in Berlin ist, weil man «als Architekt an die Orte ziehen muss, wo gebaut wird».
Das Glashaus in der Pfeilerhalle
Monumental und streng wie ein archaischer Tempel steht die neue Sport- und Mehrzweckhalle des Waffenplatzes von Losone an der Durchgangsstrasse ins Centovalli. Doch ist es weniger martialisches Imponiergehabe als vielmehr eine geheimnisvolle Entrücktheit, die dieses neuste Werk des 1932 geborenen Locarneser Architekten Livio Vacchini auszeichnet. Denn die graue Pfeilerhalle ganz ohne Sockel und abschliessendes Gebälk scheint - durch den strassenseitigen Gitterzaun gesehen - auf der grünen Rasenfläche zu schweben.
Den Vorbeifahrenden offenbart diese Architektur ihre Bestimmung kaum. Sie erinnert in ihrer formalen Abstraktion an eine andere Arbeit von Vacchini, die im Sommer 1996 eingeweihte neue Locarneser Hauptpost. Während diese aber in ihrer Selbstverliebtheit das urbanistische Gefüge zu sprengen droht, besitzt der introvertierte Solitär von Losone eine skulpturale Präsenz, die in der parkartigen Umgebung voll zur Geltung kommen kann. Hier treten, anders als bei dem mit Spiegelglas und Granit verhüllten Postgebäude, auch die Geheimnisse der Konstruktion offen zutage. Der tektonisch klar gegliederte, in seiner wahren Grösse gleichwohl nur schwer erfassbare Betonmonolith erweist sich als massiv und transparent zugleich: Birgt er doch innerhalb der durchbrochenen Hülle einen gläsernen Raum, der durch das Spiel der Spiegelungen entmaterialisiert erscheint.
Mit dem Lavieren zwischen Leichtigkeit und Schwere, aber auch mit dem Verunklären der wahren Dimension des Monolithen erweist sich Vacchini auf der Höhe der Architekturdiskussion. Er versteht es zudem wie wohl kein anderer zeitgenössischer Architekt, das Erbe von Schinkel und Mies van der Rohe heutigen Formvorstellungen anzunähern. So schuf er in Losone mit viel Sinn für Proportionen eine vom Goldenen Schnitt ausgehende Hallenkonstruktion, deren Deckenplatte - an der einem Vorgang gleich die Hülle des stützenlosen Glasschreins hängt - auf den Stirnseiten von 27 und auf den Längsseiten von 49 Betonpfeilern getragen wird.
Obwohl man Vacchini als Formalisten mit einem Faible für klassische Einfachheit, Rationalität und Abstraktion bezeichnen kann, erinnern seine Bauten - anders als gewisse Werke seines kürzlich verstorbenen Kollegen Aldo Rossi - nie an Mausoleen. Auch sie gehorchen zwar nicht sklavisch dem modernen Credo des «form follows function»; gleichwohl aber sind bei ihnen Form und Funktion eng verzahnt. So konnte Vacchini nur dank der tragenden Betonhülle sein platonisches Idealbild einer durchsichtigen, stützenlosen Glashalle verwirklichen. Entstanden ist dabei ein fast sakral anmutender Innenraum, angesichts dessen man es nur bedauern kann, dass Vacchini sein vor wenigen Wochen preisgekröntes Synagogenprojekt in Dresden nicht realisieren kann.
Mit dem Anfang August eingeweihten und bereits mit dem Beton-Preis ausgezeichneten Bau hat die Schweizer Armee nur zwei Jahre nach der burgartigen Kaserne von Fabio Muttoni und Silvano Caccia in Airolo ein weiteres Baudenkmal im Tessin errichtet. Allerdings dient der neue Mehrzweckbau von Losone nicht nur dem Militär, sondern auch den Bewohnern der Gemeinde. Während die Soldaten das Gebäude vom Kasernenplatz her durch den Hintereingang betreten, geleitet ein repräsentativer Zugang die Besucher von der Strasse zum gläsernen Hauptportal. Von dort führt eine Doppeltreppe unter der Tribüne hinauf in die mit Spiegelungen und Lichteffekten überraschende Halle: einen durch die Glashaut der Aussenwände definierten axialsymmetrischen Raum mit moosgrünem Fussboden und schwebender Kassettendecke.
Vacchini führt mit dieser minimalistischen «Skulptur» fort, was er 1990 mit seinem zur Landschaft hin transparenten Wohnhaus in einem kleinen Olivenhain hoch über Tenero begonnen hat und nun mit den Stadtwerken in Locarno fortführt: die zielstrebige Recherche nach grösstmöglicher formaler Reduktion unterschiedlicher Bautypen.
Ein bonbonfarbener Tausendfüssler
Als All American City wird Cincinnati gern bezeichnet. Doch seit die Durchschnittsstadt am Ohio River wirtschaftlich auf Erfolgskurs segelt, regt sich ein neues Selbstbewusstsein, das sich, wie schon einmal kurz nach 1900, auch architektonisch ausdrückt. So kann das Zentrum nicht nur mit einem bedeutenden Art-déco-Hochhaus, dem Carew Tower, aufwarten, sondern ebenso mit Cesar Pellis noblem Aronoff Center for Performing Arts von 1995. Ganz ähnlich heisst ein zweiter Bau, der unlängst wie kein anderer in den USA Furore machte und - gleichsam über Nacht - Cincinnati als Architekturstadt etabliert hat.
Es handelt sich dabei um das vom 65jährigen New Yorker Peter Eisenman im Auftrag der University of Cincinnati realisierte Aronoff College of Design, Architecture, Art and Planning (DAAP). Die renommierte Universität ist dank dem Engagement von Jay Chatterjee, dem Dean der Architekturabteilung, mit Bauten und Projekten von SOM, Michael Graves, Harry Cobb und Frank Gehry zu einem Zentrum der Baukunst geworden. Damit erweist sich einmal mehr ein Campus als blühende Oase in der sonst von Investoren geprägten amerikanischen Baulandschaft, in der den Architekten meist nur noch die Rolle von Fassadendesignern zukommt.
An der Architekturbiennale von Venedig im Jahre 1991 konnte Eisenman, der damals gerade mit seinen ersten grösseren Werken, dem Wexner Center for the Visual Arts und dem Convention Center (beide in Columbus, Ohio), im Gespräch war, das Interesse der Fachwelt am Aronoff-Projekt wecken. Kritiker zweifelten zwar, ob sich der 1986 am Computer generierte, aus hochkomplexen Faltungen, Rotationen, Verschiebungen, Überlagerungen und Torsionen bestehende Entwurf des von Baudrillard und Derrida wie von der Topologie und vom antikartesianischen Raum faszinierten Theoretikers realisieren liesse.
Doch im Oktober 1996 konnte das Gebäude, das Philip Johnson, der Doyen der US-Architekten, als weltweit «unvergleichbar» lobte, eröffnet werden. Bei diesem Meisterwerk, das neben Unterrichtsräumen und Büros auch eine Bibliothek, eine Galerie und ein Theater beherbergt, handelt es sich um die Erweiterung und Umgestaltung von drei Bauten aus den fünfziger bis siebziger Jahren zum neuen Sitz des DAAP-College, das zurzeit von 1800 Studenten besucht wird.
Eisenmans Neubau schmiegt sich, dem Geländeprofil folgend, wie ein bonbonfarbener Tausendfüssler an die zickzackförmigen Altbauten, so dass zwischen den beiden Bauteilen ein entfernt ans Wexner Center erinnernder, fast 300 Meter langer zentraler Erschliessungsraum entsteht, der zum Erstaunlichsten zählt, was die Architektur seit Michelangelos Biblioteca Laurenziana hervorzubringen wagte. Diese manieristisch zwischen Kubismus, Schwitters' Merzbau und Dekonstruktivismus oszillierende Raumkollision, die man als Metapher für das Aufeinanderprallen der hier vereinten Schulen lesen kann, spiegelt sich in der Eingangsfassade. Mit ihren schiefen Flächen demonstriert diese anschaulich, warum Eisenmans Bauten gerne als «Erdbebenarchitektur» bezeichnet werden.
Den trichterförmig in die Stirnwand eingelassenen Haupteingang erreicht man über eine Freitreppe, die fast ein wenig mediterran anmutete, führte sie nicht über eine halboffene Tiefgarage. Von Brücken überquert, weitet sich der Innenraum zum Eingangsfoyer und zur Cafeteria und zieht sich dann - oft höhlenartig eng - wie ein zartfarbener Cañon über drei Geschosse hin. Die von einem labilen Ausgleich zwischen Chaos und Ordnung bestimmte, an Piranesi gemahnende Raumsequenz gibt Rätsel auf, vermag aber auch zu verunsichern.
Für Perfektionisten dürfte dieser Bau mit seinen oft allzu düsteren Gängen problematisch sein, doch ist er eine Offenbarung für all jene, die sich von Architektur mehr als nur eine funktionale Antwort erhoffen. Eisenman selbst fand hier von seinem dekonstruktivistisch überhöhten Rasterdenken zum gekrümmten Raum, der über den Möbiusband-Entwurf des Berliner Max-Reinhardt-Hauses weiterwirkte bis hin zu seinem ersten grossen New Yorker Projekt, dem jüngst präsentierten Institute of Arts and Sciences beim Ferry Terminal auf Staten Island.
Eine Black Box mit Veranda
Von den Rialto Towers aus gesehen erinnert das Melbourne Exhibition Center mit seinem matt silbernen Blechdach an einen tief über dem Südufer des Yarra River schwebenden Flugzeugflügel. Es gemahnt in seiner Einfachheit aber auch an die Lagerhallen des flussabwärts gelegenen Hafengebiets. Doch im Gegensatz zu diesen faltet sich der sieben Fussballfelder grosse Flachbau an seiner Nordostecke zu einem expressiven Konglomerat ineinander verkeilter Ebenen und Kuben. Erst diese Billboard-Architektur, akzentuiert durch plakative Glasflächen und einen schräg sich aufbäumenden, von zwei riesigen Mikadostäben gehaltenen Eingangsbaldachin, verleiht dem Gebäude jenes unverwechselbare Image, mit dem es sich zur Stadt hin im marktschreierischen Kontext der umliegenden Kommerzarchitekturen behaupten kann.
Mit dem Exhibition Center hat Melbourne, die spröde Schöne unter Australiens Städten, ein neues Wahrzeichen und zugleich eine zeitgemässe Antwort auf das grösste viktorianische Gebäude der Stadt - das 1880 vollendete Royal Exhibition Building - erhalten. Als Architekten dieses Neubaus der Superlative, der selbst die Messebauten der ewigen Rivalin Sydney in den Schatten stellt, wurden die Melbourner Architekten John Denton, Bill Corker und Barrie Marshall auserkoren. Das kurz DCM genannte Dreigestirn, das mit Bauten von minimalistischer Präzision Furore machte, wurde im vergangenen Sommer für sein Schaffen mit der höchsten Auszeichnung des Royal Australian Institute of Architecture, der prestigeträchtigen Goldmedaille, ausgezeichnet. Die drei seit 1974 zusammenarbeitenden, gut 50jährigen Meister entwickelten aus der Tatsache, dass alte Bausubstanz im geschichtsbewussten Melbourne fast unantastbar ist, die Fähigkeit, ihre monolithischen Wolkenkratzer virtuos mit historischen Architekturen zu vereinen und bestehende Häuser - wie ihrbekanntestes Gebäude, das Adelphi-Hotel zeigt - höchst innovativ aufzuwerten.
Beim Bau des vor einem Jahr eröffneten Exhibition Center kam ihnen dieses Einfühlungsvermögen zugute. Mussten sie doch die Planungsruine des von ihrem Kollegen Daryl Jackson anstelle einer ehemaligen Werfthalle konzipierten Museum of Victoria zusammen mit dem Auftrag übernehmen. Dieses exzentrische Betongebilde wussten sie in ihr Projekt zu integrieren, indem sie den Gesamtentwurf auf nur drei Elemente - das aus dem Museumsskelett geformte Eingangsfoyer, einen 450 m langen, linear angelegten und dennoch räumlich vielschichtigen Erschliessungskorridor sowie eine gut 30 000 m² grosse Halle - reduzierten und so eine gleichermassen abstrakte wie zeichenhafte, mitunter auf Rem Koolhaas verweisende Ausstellungsmaschine von erstaunlicher Leichtigkeit schufen.
Diese Halle, ein fensterloser und stützenfreier Raum von 360 m Länge, 84 m Breite und 12 m Höhe, den sie zusammen mit Ove Arup Engineers realisierten, kann bei Bedarf dank einer bestechend einfachen Konzeption im Abstand von jeweils 18 m entlang den grau verkleideten Stahlträgern der Dachkonstruktion schalldicht in unterschiedlich grosse, mit aller nötigen Infrastruktur versehene Hallen unterteilt werden. Die der nüchternen Ästhetik eines Richard Artschwager verpflichtete Black Box ist gleichsam die Antithese zu den gläsernen Ausstellungsbauten des 19. Jahrhunderts, an die nur noch die zum Park und Fluss hin transparente Erschliessungshalle erinnert. Sie bildet, ausgehend von der Tradition des australischen Landhauses, eine Veranda, die aussen von einem Wald schmächtiger, aus ästhetischen und aerodynamischen Gründen schräg gestellter Stahlpfeiler getragen wird. Dieser mit seiner Sitztreppe zum Verweilen einladende Aussenraum versteht sich als Gegenpol zur stark industriell geprägten, der Anlieferung dienenden Gebäuderückseite.
Durch die schlanken Säulen, die das stromlinienförmig gewölbte, fast unwirklich dünne Dach weniger zu tragen als vielmehr am Boden festzuzurren scheinen, entsteht jener schwebende Eindruck, der dieser Megastruktur etwas Irritierendes verleiht. Dies wird dadurch noch verstärkt, dass nirgendwo am Gebäude die tektonischen und strukturellen Zusammenhänge offen dargelegt werden. Das Spiel mit ebenen Elementen und feinen Oberflächenhäuten entfaltet seine suggestivste Wirkung in dem als dreidimensionale Collage inszenierten Erschliessungskorridor, aber auch im Foyer, wo es die Knochendes Vorgängerbaus unter einem von Francis Bacon inspirierten Farbakkord raffiniert verbirgt.
In diesen neokonstruktivistischen Raumgefügen erzeugen die für das Schaffen von DCM so charakteristischen Spannungen zwischen einfach und unterkühlt einerseits und komplex und expressiv anderseits starke künstlerische Momente. Diese Gegensätzlichkeiten scheinen wieder auf in dem mit seinen beiden Flügeln von DCM ebenfalls als aeronautische Architektur geplanten Museum of Victoria, dessen 200 Millionen Franken teurer Neubau in drei Jahren in den Carlton Gardens hinter dem Royal Exhibition Building eingeweiht werden soll. Ganz abheben dürften die «Vertical Invadors» aber erst mit dem 680 Meter hohen, obeliskförmigen Grollo-Tower, immer vorausgesetzt, dass dieser höchste Büroturm der Welt dereinst wirklich in Melbourne gebaut wird.
Lateinische Einfachheit
Die Stadt Genf ist ein städtebauliches Juwel. Doch mit der neuen Architektur tut sich die Schöne schwer, auch wenn Le Corbusier hier sein Immeuble Clarté realisiert und Maurice Braillard einer lateinischen Moderne den Weg bereitet hat. Nun aber träumt auch sie von zeitgenössischem architektonischem Appeal. So soll Massimiliano Fuksas die Place des Nations spektakulär in Szene setzen. Bereits realisiert sind zwei vielbeachtete Bauten: die Ecole Pré-Picot in Cologny von Chenu und Jéquier sowie das urbanistisch präzis gesetzte Studentenwohnheim am Boulevard de la Tour von Patrick Devanthéry und Inès Lamunière. Das Architektenpaar, das seit 14 Jahren zusammenarbeitet, macht sich nicht nur für eine zeitgemässe Sprache stark; es setzt sich auch für das moderne Erbe ein, wie es mit der soeben abgeschlossenen Erneuerung von Marc Joseph Saugeys legendärem Cinéma Le Paris beweist.
Das eigentliche Meisterwerk von Devanthéry und Lamunière ist aber ein im Mai 1996 eingeweihtes Schul- und Freizeitzentrum in der vom Autosalon her bekannten Genfer Vorstadt Le Grand Saconnex. Der Neubau steht an der schmalen Route de Colovrex im Spannungsfeld zwischen dem eng verschachtelten Dorfkern, der baumbestandenen Rathaus-Bastion und biederen Wohnblöcken. Dieses städtebauliche Gewebe und den gebauten Kontext analysierten Devanthéry und Lamunière mit viel Gespür. Die Firsthöhe der Nachbarbauten respektierten sie, indem sie den Schultrakt um eine Etage absenkten und dadurch einen sicheren Aussenraum für die Kinder schufen. Das Freizeitzentrum hingegen öffneten sie mit einem Vorplatz hin zur Strasse.
Die beiden Baukörper - die aus drei identischen Volumen gefügte Schule und das zusätzliche Volumen des Freizeitzentrums - bilden ein grösseres Ganzes, das elegant den Übergang von der Kleinteiligkeit des Siedlungskerns zum gröberen Raster der Nachbarschaft meistert. Nicht nur durch Treppen und Passerellen sind die Bauteile miteinander verbunden, sondern auch durch den überdimensionierten T-förmigen Schwebebalken, der die leere Mitte betont, zugleich aber auch den Blick auf Flughafen und Jurakette sowie - vom tiefergelegenen Wohnquartier aus - auf das klassizistisch angehauchte Rathaus freigibt.
Diese Komposition macht klar, dass es den Architekten hier um mehr als nur um reine Funktionalität ging. Der bipolare Bau und das repetitive Fassadenmuster lassen denn auch den Zweck des Hauses nicht ohne weiteres erkennen. Zugunsten einer poetischen Gesamtwirkung tritt die Konstruktion zurück. Geometrie, serielle Ordnung, Betonstruktur und Schwebebalken beschwören die Minimal art. Aber auch der Bezug zu Louis Kahn ist nicht zu übersehen: So zitieren die nach Nordwesten vorstossenden Atelierkeile das Salk Institute in La Jolla, während das mit schieferartigem Quarzit ausgefachte Betonskelett auf das Studentinnenheim des Bryn Mawr College in Pennsylvania verweist.
Die archaisch wirkende Verkleidung mit vertikal in den Beton eingegossenen Bruchsteinen überzeugt und ist als Beitrag zur aktuellen Diskussion der Gebäudehülle interessant. Sie verleiht dem Bau flimmernde Lebendigkeit, aber auch Schwere und integriert ihn ganz diskret in seine Umgebung. Die freistehenden Mauerscheiben, die optisch nur durch Fensterflächen zusammengehalten werden, zeugen - ähnlich wie die leere, vom perforierten T-Träger überdachte Mitte - von der komplexen Durchdringung von Innen und Aussen. Dieses Raumgefüge erreicht seine grösste Dynamik in den Korridoren der Schule, welche die Unterrichtsräume, Ateliers und Lehrerzimmer erschliessen. Hier wird das Treppen- und Passerellensystem des Aussenraumes erneut aufgenommen. Zwischen den Betonkuben der Ateliers öffnen sich - als Antwort auf den zentralen Durchblick - grosse quadratische Fenster; und der zurückhaltende Grau-Gold-Kontrast von Holz und Beton wird belebt von Tageslicht, das durch die Schlitze des Schwebebalkens tief ins Gebäude eindringt. In dieser materialsinnlichen Einfachheit und in der Verbindung von Funktionalität und Baukunst lassen sich Bezüge zur Deutschschweizer Architektur ausmachen. Doch sind es die lateinischen Elemente - die rahmensetzende Grossform des Schwebebalkens, die sorgfältige Integration in den städtischen Kontext und das urbane Selbstverständnis -, die diesem Bau seinen unvergleichlichen Charakter verleihen.
Eine Assemblage moderner Formen
Ein Spiel von Licht, Farben und Formen: Bracha und Michael Chyutins Theater und Esslingen-Haus in Givatayim.
Als weltweit grösstes Ensemble klassisch-moderner Baukunst gilt heute die Mittelmeermetropole Tel Aviv. Doch eine stürmische Entwicklung bedroht nun dieses Erbe. Denn was in der weissen Stadt seit einigen Jahren gebaut wird, ist meist nur Mittelmass. Vermehrt wehren sich dagegen aber selbstbewusste Architekten wie etwa Bracha und Michael Chyutin, die sich in ihrem Schaffen zurückbesinnen auf die moderne, vom Bauhaus und von Le Corbusiers Ideen geprägte Tradition des Landes. Davon zeugt nicht zuletzt ihr neustes Werk in der unmittelbar mit Tel Aviv zusammengewachsenen Nachbarstadt Givatayim. Es handelt sich um ein Kulturzentrum mit Gästehaus, das Ende 1996 fertiggestellt und jüngst als bester Bau der vergangenen Jahre in Israel mit dem Ze'ev-Rechter-Preis geehrt wurde.
Die 49jährige Bracha Chyutin und ihr um acht Jahre älterer Partner - beide Absolventen des Technions in Haifa - zählen zu einer neuen Generation von Architekten, die, anders als viele ihrer einst dem Betonbrutalismus verpflichteten älteren Kollegen, sensibel auf den urbanen Kontext reagieren. So sahen sie sich in Givatayim vorab mit zwei Fragen konfrontiert: Wie soll man auf die von modernen Bauten, postmodernen Blocks und Bürohäusern geprägte Stadtlandschaft antworten und wie ein Gästehaus mit einem Kulturzentrum kombinieren? Die Lösung des Problems fanden die Chyutins im Prinzip der Collage. Auf dieser Basis konzipierten sie ein entfernt an ein mediterranes Dorf erinnerndes Konglomerat von Bauten.
Entstanden ist eine Architekturplastik, die sich in einem kleinen Park ausbreitet; sie besteht aus mehreren dynamisch ineinander verschränkten Teilen, die bald auf Kurt Schwitters Assemblagen, bald auf Le Corbusiers skulpturales Werk anspielen. Jeder Funktion entspricht dabei ein durch Material und Farbe charakterisierter Körper. So wird das Gebäude - im Sinne einer neomodernistischen Interpretation des Prinzips «form follows function» - auf den ersten Blick lesbar. Die einzelnen Bauten ordnen sich dabei einem Grundriss unter, dessen beide orthogonalen, um 30 Grad gegeneinander gedrehten Systeme ganz präzis die Lage von Theater und Gästehaus definieren.
Gibt sich die Verschränkung der schwungvoll gekurvten Eingangshalle mit dem schräg in den Boden abgesenkten sandgelben Theatermonolithen leicht dekonstruktivistisch, so erinnert das über pilotis schwebende kalkgraue Gästehaus mit Rampe und Bandfenster an die Villa Savoye von Le Corbusier. Der hinter dem Eingang sich erhebende rosafarbene Liftturm schliesslich evoziert surrealistische Assoziationen, gemahnt aber auch an Dani Karavans frühes Meisterwerk: das Negev-Denkmal in Beerscheba.
Die im wechselnden Licht immer wieder neu wirkenden Formen verleihen mit ihrer gezielten Farbigkeit, die man als Antwort auf den Ort lesen möchte, dem klassisch-modernen Vokabular einen höchst zeitgemässen Touch. Die Vielzahl von Bildern, mit denen sich dieses expressive Gebäude dem Betrachter zu erklären weiss, ist charakteristisch für das Œuvre der seit 1981 zusammenarbeitenden Architekten: Ging es ihnen in Givatayim um eine Neuinterpretation der Moderne, so suchten sie bei der 1988 vollendeten Genia-Schreiber-Galerie der Universität von Tel Aviv die Auseinandersetzung mit Aalto, aber auch mit Richard Meier. Die ausdrucksstarken Fassaden ihres im Bau befindlichen Senatsgebäudes der Ben-Gurion-Universität in Beerscheba hingegen atmen mitunter Alvaro Sizas Geist. Zwar erinnert dieser aufgebrochene Monolith, der, anders als ihre früheren Bauten, kaum Aufschluss gibt über die Funktion des Gebäudes, an den Theaterkubus in Givatayim. Doch letztlich fallen Erscheinungsbild und Form der Häuser der Chyutins auf Grund unterschiedlicher Aufgabenstellungen und Orte jedesmal anders aus. Gleichwohl sind allen ihren Architekturen die vielfältigen Bezüge von Innen und Aussen, die internen Durchblicke, die raffinierte promenade architecturale sowie eine überlegte Lichtregie gemein.
Wie eine Freilichtbühne wirkt in Givatayim der Aalto verpflichtete Treppenaufgang mit dem dreiseitig gefassten Eingangshof. Im Innern des verglasten Foyers klingt die bühnenhafte Konzeption subtil weiter, so dass man von jedem Ort aus Einblick in andere Gebäudeteile hat. Rechts vom Eingang, wo noch eine Cafeteria eingerichtet werden soll, kann man über ein privates Treppenhaus den aufgeständerten Gästetrakt erreichen, zu dem auch ein separater Eingang führt. Links öffnet sich der mit 400 blauen Sesseln möblierte, mit rötlichem Holz ausgekleidete Theatersaal. Geradeaus hingegen gelangt man von der zu einem Balkon sich wandelnden Eingangshalle über eine Wendeltreppe hinunter ins Ausstellungsfoyer und von dort in das 180 Zuschauer fassende Kino: Ähnlich wie die äussere Erscheinung des Gebäudes lebt auch der architektonische Rundgang vom Spiel mit Licht und mit Volumen. Aus diesem resultiert ein Raumgefühl, das zu Recht als «breathtaking» bezeichnet wurde.
Zeitgenössischer Klassizismus in Holz und Glas
Der Pariser Architekt Patrick Berger in Mendrisio
Nie spürt man Mendrisios Italianità deutlicher als in der vorösterlichen Zeit, wenn Häuser und Gassen sich schmücken für die jährlichen Passionsfeiern. Dann gibt sich der Magnifico Borgo mit all seinen architektonischen Schönheiten und Schattenseiten als Musterbeispiel einer lombardischen Kleinstadt zu erkennen. In diesem baukünstlerischen Ambiente residiert seit kurzem in zwei klassizistischen Palästen die Accademia di architettura. Das junge Tessiner Hochschulinstitut, das wegen Umbauarbeiten zum Teil noch in Provisorien haust, ist bestrebt, sich auf dem internationalen Parkett einen Platz zu sichern: nicht nur mit klingenden Namen wie Botta und Galfetti, sondern auch mit Öffentlichkeitsarbeit. Neben Vorträgen internationaler Stars sollen inskünftig pro Jahr zwei Architekturausstellungen organisiert werden, und zwar im Museo d'arte von Mendrisio. Den Auftakt macht gegenwärtig der 1947 in Paris geborene Architekt Patrick Berger mit einer aufschlussreichen Werkschau.
Mit der Wahl von Berger, der seit fünf Jahren eine Professur an der ETH Lausanne innehat, betont die Accademia, dass sie sich dem Dialog mit den etablierten Architekturschulen nicht verschliesst. Gleichzeitig erklärt sie damit aber auch ihr Interesse an Architektur mit künstlerischem Anspruch. Denn Berger unterscheidet sich von seinen französischen Kollegen vor allem durch eine Vorliebe für skulpturale Rhetorik und kostbar inszenierte Materialien. Diese für einen Architekten nicht ungefährlichen Präferenzen haben zur Folge, dass seinen Bauten mitunter die schwere Süsse von Juwelen eignet. Doch Bergers Werk vermag auch zu faszinieren: vor allem durch die Systematik der architektonischen Recherche. So steht gleichsam wie ein Manifest am Anfang der gelungenen Schau seine Studentenarbeit eines Ferienhauses, die sich wohl ganz heimlich auf Laugiers Idee der Urhütte bezog. Dieses klassizistische Streben nach der ursprünglichen Form triumphierte Jahre später im Pariser Parc André Citroën, wo Berger axialsymmetrisch auf einem steinernen Podest zwei tempelartige Glashäuser inszenierte, deren Giebel von je 16 hölzernen Rundpfeilern getragen werden. Noch in seinen neusten, tischförmig konzipierten Bauten, der Maison de l'université in Dijon und dem geplanten Uefa-Sitz in Nyon, klingt dieses klassizistische Ideal nach. Dabei wurde jedoch die Sprache - gereinigt von den Schlacken der Geschichte - klarer, strenger, kurz: weniger artifiziell.
Obwohl Berger sich ähnlich wie Jean Nouvel von avancierter Bautechnologie begeistern lässt, erweist sich sein spätmoderner Klassizismus in erster Linie als eine Reverenz an kostbare Materialien, die er nach japanischem Vorbild mit einfachen, mitunter der Minimal art verpflichteten Formen kombiniert. Sein subtiler Umgang mit Holz, Stein, Stahl und Glas kann aber auch den Einfluss von Carlo Scarpa nicht verleugnen. Der grosse Venezianer bestimmte Bergers Visionen nicht nur bei dessen Interventionen auf dem Père-Lachaise-Friedhof oder beim Monument für Japans geographische Mitte in Nishiwaki, das mit seinem übertriebenen künstlerischen Pathos etwas geschmäcklerisch erscheint. Auch die im Zusammenspiel von Licht und Material betörenden Innenräume der Bretonischen Architekturschule in Rennes wären ohne Scarpa kaum denkbar. Im Judo-Sportzentrum von Brétigny-sur-Orge, einer zwischen ägyptisierende Betonpfeiler eingeklemmten Holzkiste, beschäftigte ihn hingegen vor allem die Suche nach dem Essentiellen, auch wenn die modische Attitüde eine Rolle spielte: denn Holz ist in Frankreich nicht erst seit Perraults Nationalbibliothek en vogue.
All diese Bauten zeichnen sich aber auch durch ihre Integration in eine bald städtische, bald naturnahe Umgebung aus. Denn Berger hatte sich vor 20 Jahren nicht nur an der damaligen Stadt-Debatte beteiligt, sondern sich seither ebenso mit Landschaft und Natur befasst, wie seine Entwürfe für Panauti in Nepal, für Samarkand, Wien und Tarascon bezeugen. Davon profitiert auch sein gegenwärtig wichtigstes Projekt: der neue Uefa-Sitz in Nyon. Berger integriert das Gebäude derart in die Landschaft, dass es von der Strasse aus den Besucher mit einer weiten, von zwei teilweise verglasten Pavillons gerahmten Terrasse empfängt, ihm statt einer Fassade das Panorama von Genfersee und Montblanc offeriert und so gleichsam einen kosmischen Anspruch geltend macht. Vom See her ist vom dreigeschossigen Flachbau, der sich - in den Abhang eingebettet - hinter alten Bäumen diskret verbirgt, kaum mehr zu sehen als die beiden Pavillons, die leise Zwiesprache halten mit den benachbarten Villen. Hier werden Themen wie Symmetrie, Dualität und Schichtung, die schon beim Parc Citroën, beim Pariser Ecole-des-Beaux-Arts-Projekt und beim Entwurf eines Centre médiéval in Chartres wichtig waren, zu neuer Gültigkeit erhoben.
Bergers OEuvre, genährt aus einer reichen Tradition, erweist sich als komplex. Doch werden dieser Vielschichtigkeit weder die Ausstellung noch der sie begleitende Katalog mit seinen allzu oberflächlich-eloquenten Texten von Jacques Lucan und Jean- Pierre Nouhaud gerecht. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, da das Interesse am Erbauer des künftigen Uefa-Sitzes in Nyon schnell wachsen dürfte, kommen zwar Ausstellung und Katalog wie gerufen. Doch hätte man von der Publikation gerne weniger pseudophilosophische Ergüsse, dafür mehr Fakten und Informationen erwartet: So erfährt man über den heutigen Stand des mit Plänen, Skizzen und Modellen bestens präsentierten Uefa-Projekts nichts, obwohl doch am kommenden 18. April in Nyon die feierliche Grundsteinlegung stattfindet und das Gebäude im Sommer 1999 eingeweiht werden soll.
Schweizer Architekten bauen im Ausland
Aspekte eines ungewoehnlichen Erfolgs
Kaum eine Woche vergeht, ohne dass die Schweizer Baukunst mit Erfolgsmeldungen aus aller Welt - Neubauten, Ausstellungen, Preise und Wettbewerbserfolge - aufwarten kann. Die Schweiz ist auf dem internationalen architektonischen Parkett praesenter denn je, und zwar mit zwei unterschiedlichen Sprachen, der etablierten des Tessins und der einer neuen Einfachheit zuneigenden der Deutschschweiz. Einzig die Architekten der Romandie scheinen noch kein Gehoer zu finden.
Am Anfang des heutigen Triumphs der Schweizer Architektur stand die Proklamation der Tessiner „Tendenza“ im Jahre 1975. Architekturpilger aus Europa, Japan und den USA ueberschwemmten daraufhin das Tessin und spaeter auch Basel und Graubuenden. Doch sollte es noch Jahre dauern, bis die Objekte der Begierde den Weg ins Ausland fanden. Heute aber belegen weltweit Dutzende von Bauten und ausfuehrungsreifen Projekten das Interesse, das unserer Architektur international entgegengebracht wird.
Aufmerksamkeit des Auslnds
Das Ausland importiert aber nicht nur Schweizer Architektur, es bemueht sich in juengster Zeit auch um die theoretische Auseinandersetzung. Davon zeugen Veranstaltungen wie die Madrider Ausstellung „Ticino hoy“ (1993), die gegenwaertig durch Suedamerika tourende Tessiner Schau „Un lugar - quatro arquitectos“ und die der Deutschschweizer Szene gewidmete US-Wanderausstellung „Construction, Intention, Detail“, aber auch Sondernummern von Fachzeitschriften ueber die „Ticino School“ oder die Deutschschweizer „Essentialists“ („Architectural Review“, Januar 1991). Waehrend etwa die Deutschen, die nach dem Krieg nicht zuletzt ueber die Schweiz zurueckfanden zu den verschuetteten Wurzeln der Moderne, unsere Architektur schon lange schaetzen und gerne als Vorbild betrachten, erkannten breitere Kreise in England erst im Januar 1995 dank dem erstpraemierten Tate-Gallery-Projekt von Herzog & de Meuron, dass es bei uns mehr als nur Chalets gibt. Nach der Einweihung von Bottas Kathedrale in Evry und der grossen Retrospektive von Herzog & de Meuron im Centre Pompidou im Fruehjahr 1995 feierten auch Frankreichs Fachzeitschriften unsere Stars - und entdeckten dabei die Deutschschweizer Szene, die zuvor nur durch Einzelwerke wie die preisgekroenten Museen in Giornico und Davos von Peter Maerkli und von Gigon & Guyer bekannt war. Rueckblickend darf also 1995 als ein fuer die Rezeption unserer Architektur besonderes Jahr bezeichnet werden.
Diese Rezeption ist deshalb wichtig, weil internationale Aufmerksamkeit eine Vorbedingung fuer das Bauen im Ausland ist. Um so staerker faellt ins Gewicht, dass hierzulande die fuer das kulturelle und wirtschaftliche „Architekturmarketing“ entscheidenden Jahrbuecher und Auszeichnungen fehlen, aber auch das staatliche Engagement. Doch kommt der Schweizer Architektur zugute, dass sie dank ihrer Konstanz im 20. Jahrhundert, dank ihrer Verpflichtung auf eine puritanische Moderne und dank einer hochstehenden Wettbewerbskultur heute als Qualitaetsprodukt anerkannt ist. Man schaetzt ihre Ehrlichkeit, formale Einfachheit, materielle Bescheidenheit, Funktionalitaet und Formvollendung, auch wenn von Kritikern mitunter eine gewisse Angst vor spielerischer Phantasie ausgemacht wird.
Emigration einst und jetzt
Ein Blick auf Paris, Lille oder Berlin zeigt, dass im EU-Raum immer oefter Architekten aus verschiedenen Laendern nebeneinander taetig sind. Internationalisierung ist also nichts typisch Schweizerisches; nur ist unser Land so klein, dass frueher die begabtesten Baumeister ihre Visionen fern der Heimat realisieren mussten, weil im eigenen Land ein Zentrum der Prachtentfaltung fehlte. So schweiften die Tessiner seit dem Mittelalter nach Italien und spaeter in den gesamteuropaeischen Raum aus: Maderna und Borromini setzten Zeichen in Rom, Domenico Trezzini und Carlo Rossi in St. Petersburg, Andrea Catenazzi in Polen, Pietro Bianchi in Neapel und Gaspare Fossati in Istanbul. Selbst in unserem Jahrhundert gelangten Schweizer von Kalifornien bis Hongkong zu hohem Ansehen. Othmar Ammann bestimmte seit den dreissiger Jahren mit seinen grossen Brueckenbauten nachhaltig das Weichbild New Yorks. Auf der Ausstellung „The International Style“ im New Yorker Museum of Modern Art erstaunten 1932 zwei junge, in die USA ausgewanderte ETH-Absolventen das Publikum mit avantgardistischen Loesungen: der Genfer William Lescaze mit dem PSFS-Hochhaus in Philadelphia, dem ersten modernen Wolkenkratzer Amerikas, und der Zuercher Albert Frey mit seinem avantgardistischen Aluminiumhaus. - Einzig Le Corbusier, der sich als Dreissigjaehriger in Paris niederliess, war weiterhin in seiner Heimat taetig, auch wenn ihm die Wettbewerbe fuer den Genfer Voelkerbundspalast und die Zuercher Rentenanstalt bittere Enttaeuschungen brachten.
In die Fussstapfen dieser illustren Emigranten sind heute Bernard Tschumi, Cuno Brullmann, Max Dudler oder Remo Riva getreten. Dies, obwohl die Informations- und Medientechnologie durchaus auch eine internationale Taetigkeit von der Schweiz aus erlaubte, wie viele ihrer Kollegen beweisen. Botta etwa, fest im Tessin verwurzelt, blieb Lugano auch nach den ersten grossen Auftraegen fuer Kulturbauten in Frankreich treu: Dabei erlaubten ihm erstmals das Theater von Chambery (1987) und die Mediathek von Lyon-Villeurbanne (1988), seine Visionen von Raum und Licht einem breiteren Publikum zugaenglich zu machen. Heute hat Botta mit seiner interkontinentalen Taetigkeit sogar Alfred Roth ueberrundet, der in den fuenfziger und sechziger Jahren Schulen in St. Louis, Skopje und in Kuwait sowie 1970 die Banque Sabbag in Beirut schuf.
In der lateinischen Welt, vorab in Frankreich, konnten Botta und seine Tessiner Kollegen ihre bisher groessten Erfolge feiern. Aber auch das suedlich orientierte Maastricht mit seiner katholischen Tradition ist ihnen gewogen: Im Rahmen der Neuueberbauung des Ceramique-Areals entstehen gegenwaertig in Maastricht unter anderem eine Markthalle von Aurelio Galfetti, ein Buero- und Wohngebaeude von Botta sowie ein Wohnblock von Luigi Snozzi. Der sozial besonders engagierte Snozzi konnte seine urbanistischen Vorstellungen zuvor schon als Vordenker des Gestaltungsbeirats in das Salzburg-Projekt, eines der interessantesten staedtebaulichen Unternehmen der achtziger Jahre, einfliessen lassen - ohne dass er allerdings dort selbst gebaut haette. Vielmehr wurde Salzburg zur ersten Auslandstation der Deutschschweizer Architektur. Hier realisierten Diener & Diener aus Basel 1986-1989 mit dem Hans-Sachs-Hof eine ueberzeugende Wohnueberbauung und der Basler Michael Alder den Lehrbauhof. Die Wahlzuercher Marie-Claude Betrix und Eraldo Consolascio wiederum begeisterten 1987 OEsterreichs Kritiker mit einer Entschwefelungsanlage von fast sakraler Erscheinung und wurden anschliessend zu engen Partnern der Stadtwerke, fuer die sie 1995 ein vielbeachtetes Umspannwerk vollendeten.
Bedeutung von Wettbewerben
In Salzburg konnten 1995 Jean-Pierre Duerig und Philippe Raemi ihren ersten Bau ueberhaupt realisieren, naemlich das die lokale Tradition neu interpretierende Wohn- und Buerohaus Stoelzlpark. Schon zwei Jahre zuvor hatten die jungen Zuercher mit ihrem siegreichen Wettbewerbsprojekt fuer den neuen Campus der Universitaet von Zypern in Nikosia auf sich aufmerksam gemacht. Im letzten Sommer errangen sie und das Buero Hannes Ehrensperger, Marc Fischer und Philippe Torriani dann je einen dritten Preis im Wettbewerb fuer den Yokohama International Port Terminal. Wie wichtig offene Ausschreibungen fuer unsere wettbewerbsfreudigen Architekten und Staedteplaner sind, bewies auch die bisher groesste Ausmarchung dieser Art in den neunziger Jahren: der staedtebauliche Ideenwettbewerb „Spreebogen“ in Berlin. Dort erzielten 1993 die drei jungen Berner Nick Gartenmann, Mark Werren und Andreas Joehri den ausgezeichneten dritten Platz und ernteten mehr Lob als der siegreiche Axel Schultes. Beim Wettbewerb fuer das Souk-Viertel in Beirut befanden sich 1994 unter den 16 Finalisten nicht weniger als vier Schweizer Teams; und juengst erreichte das Badener Buero Christen, Sidler, Weber den vierter Rang im Wettbewerb fuer das Koreanische Nationalmuseum in Seoul. Doch damit nicht genug: Bis 1999 duerfte in Taiwan auf Grund einer 1995 durchgefuehrten weltweiten Ausschreibung das zwei Grossbauten fuer Parlament und Stadtregierung umfassende Taichung City Civic Center nach Plaenen des Zuercher Bueros Weber & Hofer Wirklichkeit werden.
Obwohl solche Wettbewerbsbeteiligungen von der Offenheit unserer architektonischen Elite zeugen, beschraenkt sich ihr Taetigkeitsgebiet bisher noch ueberwiegend auf das benachbarte Ausland. In OEsterreich etwa ist fuer Deutschschweizer Architekten nicht nur Salzburg attraktiv: Nach den 1992 von Herzog & de Meuron in der Donaumetropole vollendeten Wohnbauten der Siedlung Pilotengasse soll nun der Zuercher Theo Hotz sein Grossprojekt fuer den Wiener Suedbahnhof umsetzen, dieweil die Basler Meinrad Morger und Heinrich Degelo in Krems ein Managementzentrum planen. Bereits eingeweiht werden konnte im vergangenen Sommer im steirischen Murau das erste oeffentliche Werk der Zuercher Kultarchitekten Marcel Meili und Markus Peter: eine eigenwillige, zusammen mit dem Churer Ingenieur Juerg Conzett entwickelte Holzbruecke. Besonders offen gegenueber den Deutschschweizern ist gegenwaertig das fuer seine kreative Architekturszene bekannte Land Vorarlberg. Ein Wettbewerb trug Burkhalter & Sumi aus Zuerich den Auftrag fuer einen Kindergarten (1989-94) in Lustenau ein. Dort sollen demnaechst auch die Luzerner Daniel Marques & Bruno Zurkirchen und der Zuercher Landschaftsarchitekt Dieter Kienast taetig werden. Und Peter Zumthor, der mit der Holzkapelle Sogn Benedetg Ende der achtziger Jahre die Architekturhitparade stuermte, baut das 1991 konzipierte Kunsthaus Bregenz: einen Glaskubus, der juengst sogar in New York Furore machte.
Deutsches Baudorado
Anders als Österreich, das erst seit kurzem als Baudorado gilt, ist Deutschland fuer Schweizer Architekten seit Jahrzehnten attraktiv. So entstanden in der Zwischenkriegszeit Salvisbergs Berliner Wohnbauten und die Schule des Gewerkschaftsbundes in Bernau von Hannes Meyer. Seit den sechziger Jahren errichtete Ernst Gisel Wohnbauten in Berlin, ein evangelisches Gemeindezentrum in Stuttgart, das neue Rathaus von Fellbach sowie 1990 das Kundenzentrum der Frankfurter Stadtwerke am Boerneplatz. Das Berner Atelier 5 wiederum, das ausser Siedlungen vor allem das Studentenwohnheim und die Mensa der Universitaet Stuttgart-Vaihingen (1970-76) realisierte, gewann juengst die Wettbewerbe fuer Wohnueberbauungen in Heilbronn und Hamburg.
Zu Beginn der neunziger Jahre markierten neben Claude Paillards nicht unumstrittenem Schauspielhaus in Hannover zwei Kulturbauten eine ganz neue Schweizer Praesenz in Deutschland: das Ausstellungsgebaeude der Koelner Galerie Gmurzynska von Diener & Diener (1990) und das Privatmuseum Goetz von Herzog & de Meuron (1992) in Muenchen. Ebenfalls in Muenchen gewannen Herzog & de Meuron drei Jahre spaeter das innerstaedtische UEberbauungsprojekt der Hypobank, fuer die sie auch ein kleines Hochhaus in Frankfurt entwarfen. Einen weiteren bedeutenden Auftrag haben sie zudem mit der Bibliothek der Fachhochschule im ostdeutschen Eberswalde in Bearbeitung. In der ehemaligen DDR engagiert sich ausserdem der Zuercher Dolf Schnebli, und zwar an einer Mustersiedlung im thueringischen Meiningen; und Burkhalter & Sumi, die in Erfurt ein Wohnprojekt vorantreiben, ringen ausserdem um die Ausfuehrung eines Hotelentwurfs in Weimar, mit dem sie der kulturell ambitionierten, aber mit guter Architektur nur wenig verwoehnten Stadt ein Glanzlicht aufsetzen moechten.
Auf der Grossbaustelle Berlin erkaempften sich zwischen 1993 und 1995 vor allem Diener & Diener gewichtige Auftraege, so fuer zwei Buerohaeuser am Potsdamer Platz, fuer die Hauptverwaltung der Berliner Wasserbetriebe, die Erweiterung der Schweizer Gesandtschaft und das Museum fuer Naturkunde der Humboldt-Universitaet. Von allen Deutschschweizer Entwuerfen fuer Berlin hat aber bisher Zumthors rigoroses Bauprojekt „Topographie des Terrors“ am meisten Aufsehen erregt. Am laengsten in der neuen Hauptstadt taetig ist der Zuercher Landschaftsarchitekt Dieter Kienast, der bereits im April 1991 mit der Gestaltung eines 15 Hektar grossen Parkes auf dem Moabiter Werder beauftragt wurde. Hier wie beim Projekt fuer den Guenthersburgpark in Frankfurt sind die Ausfuehrungsarbeiten im Gange. Weitere Auftraege in Hannover (Expo 2000), in Karlsruhe und in Erfurt machten Kienast seither zu einem der gefragtesten Landschaftsarchitekten in Europa.
Noch ueberwiegen in Deutschland die Projekte. Einige davon, etwa die ABB-Buerohaeuser von Diener & Diener in Berlin oder das von Ernst Spycher im Vokabular der Basler Einfachheit konzipierte Kepler-Gymnasium in Freiburg-Rieselfeld, sind zurzeit im Bau. Daneben gibt es aber auch Haeuser, die bereits als „Klassiker“ gelten. Abgesehen von den oben erwaehnten Kulturbauten handelt es sich dabei vor allem um eigenwillige Wohngebaeude: etwa um Valerio Olgiatis anthrazitgraues Holzhaus in Rottenburg am Neckar von 1991, den Wohnblock, den Michael Alder 1993 fuer die Stuttgarter Mustersiedlung Wohnen 2000 errichtete, oder die Bauten von Ivano Gianola. Diesem Tessiner gelang es, mit Privathaeusern in Sulgau und Augsburg sowie einer Wohn- und Geschaeftsueberbauung in Amtzell Deutschland zu erobern, noch bevor Botta seinen Bibliotheksauftrag in Dortmund erhielt.
Im Wohnungsbau engagieren sich aber auch weiterhin Diener & Diener. Ihr juengstes Projekt findet sich auf dem als Architekturlabor bekannt gewordenen KNSM-Eiland im Amsterdamer Hafen. Von Umfang und Bedeutung her stellt dieser Auftrag ihr Projekt an der Pariser Rue de la Roquette leicht in den Schatten. Denn: was die Deutschschweizer Architektur betrifft, ist Frankreich noch immer das Hoheitsgebiet von Herzog & de Meuron, die - ausser den nicht realisierten Entwuerfen eines Kulturzentrums in Blois und einer Universitaetsbibliothek in Paris - Studentenhaeuser in Dijon, ein ungewoehnliches Lagerhaus in Muelhausen und die Sporthalle Pfaffenholz in Saint-Louis vorweisen koennen.
Bottas sakrale Lichträume
Sonst aber ist Frankreich seit Bottas Bauten in Chambery und Villeurbanne sowie der 1990 aus einer Durchdringung von Kubus und Zylinder entstandenen Gemeindekirche in Valbonne von Emilio Bernegger, Bruno Keller und Edy Quaglia ein Territorium der Tessiner. Galfetti realisierte in Chambery ein Theater und in Paris eine Wohnueberbauung, und von Livio Vacchini stammt das neuste Werk ueberhaupt, die eben erst vollendete Architekturschule in Nancy. All diese Architekturen ueberstrahlt seit 1995 Bottas zylindrischer Sakralbau in Evry: die erste franzoesische Kathedrale dieses Jahrhunderts. Der Meister sakraler Lichtraeume wurde nun Anfang 1996 gar mit dem Auftrag geehrt, in den Fussstapfen seines grossen Vorbilds Louis Kahn ein Synagogenprojekt fuer den Campus von Tel Aviv auszuarbeiten.
Botta ist - fuer einen Architekten aus der foederalistischen Schweiz hoechst ungewoehnlich - wie kaum ein anderer auf dem internationalen Parkett ein Virtuose der Repraesentationsarchitektur. Das bescherte ihm juengst Auftraege wie das Schweizer Geschaefts- und Kulturzentrum in Moskau oder das wallonische Regierungsgebaeude in Namur. Das Anfang 1995 mit viel Pomp eingeweihte Museum of Modern Art in San Francisco ist seit laengerm der eindruecklichste Prachtsbau auf diesem Gebiet in den USA und duerfte hoechstens von Richard Meiers Getty-Museum in Los Angeles uebertroffen werden. Mit einer monumentalen Inszenierung von Licht und Raum ueberraschte Botta schon vor sechs Jahren bei der Watari-Um-Galerie in Tokio, die - zusammen mit dem Kirchlein von Mogno - Bottas Erfolg auf dem Gebiet des Sakral- und Museumsbaus vor allem in Italien begruendete - von Pordenone bis Rovereto.
Die Emigranten von heute
Obwohl ausser Botta kein anderer Schweizer in den vergangenen Jahren in den USA einen dem Museum von San Francisco vergleichbaren Bau realisieren konnte, interessieren sich ploetzlich auch die Amerikaner fuer unsere Architektur: In den letzten zwei Jahren fand ausser der bereits erwaehnten Wanderausstellung „Construction, Intention, Detail“ eine Herzog & de Meuron gewidmete Doppelausstellung in New York statt; und mehrere Schweizer Architekten waren Ende 1995 an den grossen Themenschauen „Monolithic Architecture“ in Pittsburg und „Light Construction“ im New Yorker Museum of Modern Art vertreten. Dort war schon 1994 eine Werkpraesentation des an der ETH ausgebildeten Bernard Tschumi zu sehen, der Mitte der achtziger Jahre mit dem Parc de la Villette in Paris den Grundstein zu seinem Starruhm legte. Gegenwaertig zeigen gleich mehrere Auslandschweizer, dass das von Maderna bis Lescaze reichende Kapitel unserer Auswanderer noch nicht abgeschlossen ist. Schweizer Eigenheiten vermischen sich in ihrem architektonischen Vokabular mit Ausdrucksformen der Gastlaender: Cuno Brullmann baut, inspiriert vom englischen High-Tech, in halb Frankreich; von ihm stammt aber auch ein bemerkenswerter Wohnblock in Amsterdam. Der in Berlin taetige Ostschweizer Max Dudler, der 1995 zusammen mit seinem Bruder Karl am Hauptbahnhof Mannheim ein neues „Tor“ zur Stadt aufstellte, hat nun in Berlin-Mitte gleich mehrere grosse Bauten unter Konstruktion, und zwar in einem strengen Stil, der die Haerte von Ungers und Kleihues mit Deutschschweizer Einfachheit vereint. Ganz anders schliesslich der in Hongkong taetige, vom australischen Architekten Harry Seidler gepraegte Remo Riva, der mit seinen Hotelpalaesten und Buerotuermen aus Glas und Stahl - was Hoehe und Volumen betrifft - die gewichtigsten „Schweizer“ Bauten ueberhaupt aufstellt.
Als auslaendischer Spitzenspieler in unserer architektonischen Nationalmannschaft nimmt schliesslich Santiago Calatrava ein Sonderstellung ein. Der in Zuerich taetige Spanier hat nicht nur auf Schweizer Rasen Punkte geholt. Er traegt mit seinen Architektur und Ingenieurkunst vereinenden Bruecken, Bahnhoefen und Passagen in Sevilla, Lyon oder Toronto den Ruhm der ETH und der Schweiz in alle Welt. - Dennoch sollte man nicht vergessen, dass die Baukunst kein nationales Gut ist und dass mit guter Architektur allein die staedtebaulichen Probleme der Zukunft nicht geloest werden koennen.
Zwischen Guillotine und Totempfahl
Raimund Abrahams „Austria-Tower“ für New York
Eingeklemmt in der Hochhausschlucht von Manhattans 52. Strasse, soll sich 1995 das Österreichische Kulturinstitut erheben. Mit visueller Aggressivität wird es Zeugnis davon geben, dass die Alpenrepublik neben Opernbällen und Lipizzanertänzen auch Angriffiges zu bieten hat - bis hin zu Nitschs blutigen Ritualen. Kaskadenartig stürzt die leicht geneigte Glasfassade zur Strasse nieder, optisch nur gebremst von einem schmalen Vordach über dem Eingang: das Haus als Guillotine. Doch soll hier nicht die Kultur geköpft, sondern mit revolutionärem Schwung formale Kühnheit zur Schau gestellt werden. Das bedrohliche Erscheinungsbild des von einem stählernen Brustbein zusammengehaltenen Glaskörpers macht Sinn. Kann doch dieser Bau, der sich nicht als stolzer Solitär zwischen New Yorks Giganten erheben wird, nur mit solch heftiger Direktheit Aufmerksamkeit erregen.
Obwohl der 20geschossige Turm von seiner Statur her zu den Zwergen zählen wird, machte er wie kaum ein anderer Bau Manhattans schon im pränatalen Zustand Furore. Dies nicht zuletzt wegen seines Schöpfers, des 60jährigen Osttirolers und Wahlamerikaners Raimund Abraham, der in der New Yorker Szene als mysteriöse Kultfigur gilt. Der seit mehr als zwei Dekaden an der Cooper Union lehrende Architekt visionierte nicht nur vor Jahren schon „vertical buildings growing toward the light of mechanical suns“. Er machte sich zudem mit unheimlichen Skizzen und Modellen, mit unkonventionellen Wettbewerbsbeiträgen und mit einem Berliner IBA-Haus von brutaler Schönheit einen Namen.
Abraham wird Österreich mit diesem virtuos inszenierten Turm in New York einen grossen, kulturpolitisch wichtigen Auftritt verschaffen. Deshalb wohl stellte sich das Wiener Aussenministerium klar hinter den gewagten Entscheid der hochkarätigen Jury, die aus nicht weniger als 226 eingereichten Projekten auszuwählen hatte. So muss sich nun der allmächtige Stararchitekt Hans Hollein mit dem zweiten Platz begnügen. Der Baubeginn wurde auf 1994 festgelegt. Im Jahr darauf soll das Haus über dem nur 7 Meter breiten und 23 Meter tiefen Grundstück stehen und neben Kino, Bibliothek und Cafe auch zwei Ausstellungssäle, Wohnungen und Büroflächen für österreichische Firmen enthalten.
In seiner Zeichenhaftigkeit wird sich der bereits mit Frank Lloyd Wrights Guggenheim Museum verglichene Bau mit Spitzenwerken der Hochhausarchitektur wie Fosters oder Peis Türmen in Hongkong oder Seidlers Capita Centre in Sydney messen können. Doch wird er nicht wie diese Gebäude der Technologie huldigen, sondern - einem psychoanalytischen Katalysator gleich - die Angste und Zweifel der Menschheit an der Schwelle zum dritten Jahrtausend aufzeigen. Abraham selbst bezeichnet seinen Entwurf, den man in unserer gewalttätigen Zeit als Mahnmal interpretieren möchte, als „eine Mischung aus