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Die Frontscheibe als Leinwand
Die Frontscheibe als Leinwand, Foto: Margherita Spiluttini
Spectrum

Die Pfeiler einer Straßengalerie zerschneiden die Aussicht in Einzelbilder, in einer Haarnadelkurve schwenkt das Panorama um 180 Grad. Von der Steuerung des Blicks auf einer Alpenstraße - eine mobile Erfahrung.

1. November 1997 - Walter Zschokke
Die Alpen waren oft Gegenstand von Projektionen, ob sie nun der angeblichen Wildheit ihrer Bewohner, der Schroffheit der Flühe und Gipfel galten oder der jahreszeitunabhängigen Bedrohung durch das wechselhafte Wetter und unberechenbare Lawinen.

Die Unterländer wahrten jedenfalls bis vor wenigen Jahrzehnten einen gewissen Respekt, der prompt umschlug in Kampfstimmung, wenn es darum ging, einen Paß zu begehen, einen Gipfel zu ersteigen, eine Wand zu durchklettern, eine Brücke über eine Schlucht zu schlagen, einen Tunnel zu bohren oder Seilbahnen in die Schneeregionen zu legen.

Dabei bildete sich ein kämpferisches Vokabular heraus, das erst in neueren Alpenführern modifiziert wird. Für die einheimischen Kristallsucher, für die Gamsjäger und Wildheuer war dagegen das Besteigen der Felsbänder hoch über den Tälern normaler Alltag.

Mit zunehmender verkehrsmäßiger Erschließung traten die Schrecknisse zurück. Die zusätzlichen, temporär besitzergreifenden Bewohner aus dem Flachland neigten aber dazu, ihre neugewonnene Beziehung zum Gebirge ideologisch zu überhöhen, was sich in der Malerei, im Liedgut und auch in der Baukunst äußerte. Eine Vermischung mit der Blut-und-Boden-Ideologie der dreißiger und vierziger Jahre machte vieles davon für nachfolgende Generationen ungenießbar, es sei denn, man behalf sich mit Ironie. Es fehlte damit aber eine positive Zugangsmöglichkeit.

Wenn in diesem Jahr durch Ausstellungen in den Kunsthallen Krems und Wien sowie etwas später in St. Pölten in kooperativer Form von Fachleuten aus den Alpenrepubliken Österreich und der Schweiz über die Kunst ein aktualisierter Zugang zum Phänomen „Alpen“ gesucht wird, entspricht dies daher dem natürlichen Prozeß, in dem jede Generation sich ihr Bild der Welt neu definieren muß.

Nun gibt es auch heute einen praxisbetonten Zugang zum Alpenraum, jenen der Bauingenieure. Die der Erschließung mit dem Automobil dienenden Infrastrukturanlagen wurden seit den dreißiger Jahren ständig ausgebaut. Spätestens ab den fünfziger Jahren fielen sie aber aus dem Raster baukünstlerischer Betrachtungen heraus. Zwar galten die Glocknerstraße in Österreich sowie die Sustenstraße in der Schweiz als bewußt zur Landschaft in Beziehung gesetzte Alpenstraßenbauwerke. Ihre gestalterische Bedeutung rückte mit den Jahren in den Hintergrund, und viele verkehrstechnisch erforderliche Veränderungen relativierten die ursprüngliche Wirkung.

Inzwischen wurden aber zahlreiche weitere Straßen im Alpenraum errichtet, die nicht nach schönheitlichen, sondern nach technischen, scheinbar objektiven Regeln der Straßenbaufachmänner geplant waren. Sichtbeton hatte die in aufwendiger Handarbeit erstellten Natursteinmauern abgelöst. Das Straßenband, vor 60 Jahren nur geschottert und gewalzt, wird heute glatt asphaltiert und mit weißen Linien markiert. Aber die von Bauökonomie und Geologie vorgegebene Linienführung und die von Erhaltungs- und Sicherheitsaspekten bestimmte bauliche Ausführung gewinnen als Interpretation der Topographie durch die rational nachvollziehbaren Gesetze der Ingenieurwissenschaft eine eigene Qualität.

Die Topographie im Gebirge sprengt gewohnte Größenordnungen. Die von den Seitenwänden der Täler definierten Großräume weisen im Verhältnis zu von Menschen errichteten, selbst sehr großen Gebäuden riesige Dimensionen auf. Ihre Proportionen wechseln von eng zu weit, von der Schlucht zum Talkessel und zu erhabener Weiträumigkeit auf Paßhöhen. Mit den Kunstbauten der Ingenieure werden diese Aspekte verstärkt: In einem Tunnel verdichtet sich der Raum, um sich nach der Ausfahrt wieder zur vollen Weite eines Gebirgstals zu entfalten.

Bei der Fahrt entlang einer Berglehne ergeben sich Vorausblicke und Rückblicke, die eine Ortung im Raum unterstützen; in einer Haarnadelkurve dagegen ändert sich das Panorama mit raschem Schwung um 180 Grad; aber auch sonst kann die Szenerie unvermittelt wechseln: Nach einem Engnis weitet sich das Tal, und der Blick vermag weit vorauszugreifen; eine Brücke kündigt sich mit ihrer Seitenansicht an; das Portal eines kurzen Tunnels rahmt den Ausblick bei der Durchfahrt einer Felsrippe. Meist ist ein Rückblick auch ein Tiefblick, der einen Überblick auf die eben befahrene Strecke erlaubt.

Obwohl das Straßenband stetig weiterführt, liegt dieser Kontinuität ein reichhaltiges Instrumentarium des Bauingenieurs zugrunde: Brücke, Tunnel, Schutzgalerie, Lehnenviadukt, Wendeplatte, Stützmauer in verschiedenen Höhen und Ausformungen. Diese Elemente bilden zur Fahrspur eine Begleitung. Sie ist typologisch nach Kategorien strukturiert, doch in der konkreten Anwendung sind die Elemente situationsbezogen modifiziert, sodaß nur selten ein wirklich gleicher Ausdruck entsteht.

Beim Befahren mit einem berggängigen Automobil entsteht daher für den Fahrer und Beifahrer ein kinetisches Raumkunstwerk, das, vom Ausschnitt der Frontscheibe gerahmt, in eine Folge von Bildern und Bildsequenzen gegliedert ist. Insbesondere nach mehrfachem Befahren kristallisieren sich zeichenhafte „Bilder“ heraus, die der gesamten Strecke ihre Akzente aufsetzen. Diese auf einen zeitlichen Ablauf bezogene Folge von Bildern ist bereits in den dreißiger Jahren mit dem filmischen Sehen verglichen worden. Doch die dynamischen Wechsel von kurzer Blickdistanz und Vollpanorama schaffen eine andere Dramaturgie als bei einer Fahrt in der Ebene, wo sich die Totale nur unmerklich verändert.

Ein visuell sensibler Mensch wie die Photographin Margherita Spiluttini, aus deren Archiv unsere Abbildung stammt, vermag diesen Bildfolgen einiges abzugewinnen. Im Zuge ihrer photographischen Dokumentation zahlreicher Bauwerke in Vorarlberg, Tirol, Salzburg, der Steiermark und Kärnten haben sich beim oftmaligen Befahren derselben Strecken Bilder in die Erinnerung eingeschrieben, die umso fester haften, als sie zuerst nur beiläufig wahrgenommen werden, gilt doch beim Steuern die Hauptaufmerksamkeit der Straße und dem Verkehr. Doch nach mehrmaligem Durchfahren verfestigen sich die Eindrücke; die Strecke gliedert sich in Abschnitte und „Figuren“, deren Abfolge erinnerbar wird; zeichenhaft überhöhte Situationen und die bekannten Bilder.

Die ausgewählte Photographie zeigt eine Straßengalerie bei Fontanella im Vorarlbergischen. Rechts wölbt sich die Betonschale hoch und beschirmt die Fahrbahn; links wird der Blick durch die geneigten Stahlbetonstützen in Einzelbilder zerschnitten, die sich zum Panorama fügen. In der Schrägsicht nach vorn verdecken die Stützen den Ausblick, sodaß die Bilder beim Fahren fast verzögert am linken Rand des Blickfelds auftauchen. Die Linienführung der langgezogenen Doppelkurve ist auch in der perspektivischen Verkürzung von perfekter Stetigkeit. Dies wird durch Übergangskurven erreicht, die von einem Kreisbogen zum nächsten überleiten. Eine derartige Streckenführung erlaubt ein gleichmäßiges Fahren ohne abrupte Steuerbewegungen.

Das Bild der Doppelkurve, die jeweils zur konvexen Seite leicht überhöht ist, verspricht ein harmonisches Kurvenerlebnis, das durch die Dynamik des Fahrens auch mit dem Körper und dem Gleichgewichtssinn erspürt werden kann. Die begleitenden Randsteine zu beiden Seiten haben sanft führende Wirkung. Ihre auf das Notwendige reduzierte Ausformung genügt in dem minimalistischen Ambiente, um als starkes Zeichen zu wirken. Ebenso entspricht das schmale Band der Leuchten an der Decke der Mittellinie, die auch bei Dämmerung und Dunkelheit den Verlauf des Straßenbandes weit voraus anzeigt.

Die Straßenbaukunst im Alpenraum hat seit den dreißiger Jahren technisch ein hohes Niveau erreicht. Die Stetigkeit der Linienführung in allen drei Dimensionen wird planerisch perfekt beherrscht, und auch die bauliche Umsetzung läßt nur wenige Wünsche offen. Einen Sichtbeton in dieser Qualität erhält man bei architektonisch anspruchsvollen Hochbauten eher selten. Als reine Zweckbauten sind sie meist frei von peinlicher Behübschung. Ihre Ästhetik realisiert sich während des Befahrens, wobei das suggestive Moment des kontinuierlichen Straßenbandes und die Beanspruchung durch die Verantwortung des Fahrens jene Beiläufigkeit der Wahrnehmung erzeugen, die zugleich Unvoreingenommenheit garantiert.

Ein fremder Blick auf eine bekannte Sache, denn alle haben Straßen im Alpenraum schon irgendwo gesehen; vielleicht ist es auch eine Art Kinderblick, der sich von der Vormundschaft des Erwachsenenhirns zu befreien vermag, weil dieses, von der Tätigkeit des Fahrens beansprucht, eigentlich abgelenkt ist.

So weist der Alpenraum von Ljubljana bis Grenoble zahlreiche Straßen auf, die über spezifische Eigenheiten und Qualitäten verfügen, sodaß sie als räumlich-dynamisches Erlebnis individuell erinnerbar sind.

Sie bilden gleichsam Indikatoren für die Topographie, da sie, in komplexer Abhängigkeit von dieser, nach mathematischen Regeln konstruiert sind. Beim Befahren erschließt sich das Werk in seiner sinnlichen Komplexität von Bewegung und Bildeindrücken, die sich zu einem durchaus künstlerischen Gesamteindruck verdichten. Sie sind Kunstwerke und bilden, im doppelten Sinn, ein Medium, die Gebirgswelt zu erfahren.

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