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18 Spannen à 22 Zentimeter
18 Spannen à 22 Zentimeter
18 Spannen à 22 Zentimeter, Foto: J. Heger
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Sie sind ein kulturhistorischer Schatz: die Zeichnungen des italienischen Barock- architekten Francesco Borromini. Die Graphische Sammlung Albertina hat diesen Schatz nun gehoben, sprich auf CD-ROM aufbereitet - eine Pionierleistung.

3. Januar 1998 - Walter Zschokke
Der Barockarchitekt Francesco Borromini zählt zu den wichtigsten Gestaltern seiner Zeit. 1599 in Bissone bei Lugano geboren, machte er eine Steinmetzlehre an der Mailänder Dombauhütte. Unter seinem Oheim Carlo Maderno (1556 bis 1629) arbeitete er in Rom an St. Peter, profilierte sich aber bald als plastisch-räumlich begabter Entwerfer und schuf einige der schönsten Werke der römischen Barockarchitektur. 1667, im Gefühl, verkannt und zurückgesetzt zu werden, beendete er sein Leben, indem er sich ins Schwert stürzte.

Doch was hat Borromini mit Wien zu tun? Ganz einfach: Der unmittelbar aus seinem Erbe stammende Nachlaß wird von der Graphischen Sammlung Albertina gehütet. Der preußische Antiquar und Sammler Philipp Baron von Stosch hatte ihn Anfang des 18. Jahrhunderts erworben. Zusammen mit einer umfangreichen Kollektion von Landkarten, Veduten, Fassadenaufnahmen und originalen Entwurfszeichnungen in 324 Klebebänden unter dem Namen „Atlas Stosch“ versammelt, gelangte er 1769 durch Kauf an die kaiserliche Hofbibliothek. Seit 1920 lagern die Architekturzeichnungen im Archiv der Albertina.

Die 628 Blätter mit über 700 Zeichnungen bilden zirka 85 Prozent des bekannten zeichnerischen Werkes von Francesco Borromini. Weitere erhaltene Bestände finden sich in der Bibliotheca Vaticana, der Berliner Kunstbibliothek und der Royal Library in Windsor. Aus der Barockzeit haben sich extrem wenige Architekten-Nachlässe erhalten: jene des Gian Lorenzo Bernini (1598 bis 1680) in Leipzig und des Filippo Juvarra (1678 bis 1736) in Turin sowie die Sammlung des Nicodemus Tessin (1615 bis 1681) in Stockholm. Die Borromini-Zeichnungen gehören daher zu den wertvollsten Teilen des Weltkulturerbes.

Eigentum verpflichtet. Dies gilt nicht zuletzt für die Hüter kunst- und kulturgeschichtlicher Werte. Es verpflichtet, nicht bloß aufzubewahren, sondern zur Forschung und zur Veröffentlichung. Der Leiter der Architektursammlung der Albertina, der architektur- und raumfühlige Wiener Kunsthistoriker Richard Bösel, hat daher in Zusammenarbeit mit der Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut) Rom und deren Leiter, C. L. Frommel, die umfangreiche Architektur eines internationalen Forschungsprojekts entwickelt.

Sämtliche bekannten Borromini-Zeichnungen wurden von der Kunsthistorikerin Elisabeth Sladek und Richard Bösel katalogisiert und in der Folge hochauflösend elektronisch erfaßt. Jetzt stehen sie auf CD-ROM den namhaftesten Spezialisten für Barockarchitektur in Wien, Rom, Berlin, New York, Saarbrücken, Tübingen, Zürich, Würzburg und München zur Verfügung. Ziel ist eine vernetzte Forschung im Hinblick auf die umfassenden Ausstellungen in Rom (1999) und Wien (2000) sowie eine kleinere in Lugano, die 400 Jahre nach Borrominis Geburt stattfinden sollen.

Ausgezeichnete Wiedergabequalität auf dem Bildschirm, Vergrößerungsmöglichkeit, Kontrastierung und Farbsteuerung erlauben eine dezentrale, eingehende, aber zugleich schonende Bearbeitung, für die bisher eine Reise nach Wien und ein längerer Forschungsaufenthalt erforderlich waren. Die Kooperation prominenter Wissenschaftler, die elektronische Vernetzung und die Strukturierung des gesamten Vorhabens sind in der Architekturgeschichte ein Novum. Das Pilotprojekt der Albertina mußte beispielsweise die Kriterien für eine elektronische Erfassung von Architekturzeichnungen erst entwickeln.

Bei der Arbeit an den Hunderten Zeichnungen gelang es Richard Bösel, Elemente wieder zusammenzubringen, die im Lauf der Geschichte getrennt worden waren. Da gab es die 1661 entstandene und bereits publizierte Schnittzeichnung in Bleistift, katalogisiert unter „Az. Rom 803“, für den Neubau der Sakristei zur Peterskirche in Rom. Die Forschung vermutete noch in den achtziger Jahren einen Zentralbau mit achteckigem Kuppelraum. An anderer Stelle des Nachlasses, katalogisiert mit den Nummern „Az. Rom 770 und 771“, fanden sich jedoch zwei Grundrisse, deren Verwandtschaft mit dem genannten Schnitt dem Wiener Forscher auffiel. Ihre Großform folgt einem Oval, und der zentrale Hauptraum ist rechteckig mit halbrunden Nischen in den Raumwinkeln.

Zwischen ovaler Außenhaut und dem überkuppelten Zentralraum hatte Borromini eine ringförmige Kette von vier ideal ausgebildeten Nebenräumen gelegt, elliptisch die Vestibüle, längsrechteckig die Nebensakristeien, mit gekrümmten Verbindungsgängen. Aus dem Schnitt geht hervor, daß die Niveaus von Zentralraum und Mantelräumen verschieden sind, was den Forschern einige Probleme aufgab. Zusammen mit Elisabeth Sladek erarbeitete Richard Bösel eine Rekonstruktion. Zuerst fiel auf, daß zusätzlich zu zwei gewendelten Stiegen eine weitere Treppe mit 26 Stufen in einem der zum Ring geschlossenen Gänge angeordnet ist, die bei einem angenehmen Steigungsverhältnis vier Meter zu überwinden vermag.

Da es sich bei den drei Darstellungen um Entwurfszeichnungen handelt, die sowohl eine Überlagerung mehrerer Geschoßebenen als auch in prozeßhafter Weise alternative Überlegungen dokumentieren - was damals durchaus üblich war - , sind sie zwar nicht eindeutig interpretierbar, aber sie ermöglichen den gedanklichen Nachvollzug des vermuteten entwerferischen Prozesses.

Eine eingehende Kenntnis des Gesamtwerks, zeitgenössischer Entwürfe und Bauten anderer Architekten sowie der bisher geleisteten Forschungsarbeiten ist dabei unabdingbar.

Die beiden Grundrisse geben unterschiedliche Entwicklungsstadien wieder. Folgen wir der Analyse Richard Bösels, die einem demnächst in italienischer Sprache erscheinenden Aufsatz entnommen ist: „Der Hauptraum (eigentlich die Gemeinschaftssakristei), dessen Stellung in den beiden Varianten unverändert bleibt, ist auf das Niveau von 18 Palmi (Spannen, zirka 22 Zentimeter) angehoben, was der Höhe des Fußbodens von St. Peter entspricht beziehungsweise jenem der Brücke, die direkt in die Basilika hinüberführt.“ Die beiden großen seitlichen Kapellen befinden sich auf Erdgeschoßniveau, reichen aber mit ihrer Wölbung über den Boden des Zentralraumes hinauf, sodaß von diesem durch zwei große Fenster je eine Blickverbindung nach unten besteht. Im darüberliegenden Geschoß sind beidseitig ähnlich große Sekundärsakristeien angeordnet, die ebenfalls durch ein Fenster, diesmal von oben her, mit dem Zentralraum verbunden sind. Auf diese Weise ist die Kommunikation unter den zahlreichen geistlichen Würdenträgern, die an einem Gottesdienst in St. Peter mitwirken, sowie deren Bereitstellung zur Prozession gewährleistet.

Aus anderen Quellen weiß man, daß Borromini mit seinem Entwurf in Konkurrenz stand zu einem Projekt von Francesco Maria Febei, dem obersten Zeremoniar von Papst Alexander VII. Die funktionellen Aspekte waren deshalb sehr wichtig. Andererseits entwickelte Borromini eine faszinierende Konfiguration von Räumen, die kaum Vergleiche kennt.

In einer Grundrißskizze versuchte er die komplizierten Vertikalbezüge von Zugängen, Vestibülen, Nebensakristeien und zentraler Hauptsakristei in Einklang zu bringen. Die knappe Quellenlage und die komprimierte Darstellung mehrerer Ebenen in einem Plan lassen vieles offen. Dennoch gelang Richard Bösel und Elisabeth Sladek eine plausible Rekonstruktion, die von J. Heger, einem CAD-Spezialisten, auf Computer umgesetzt wurde.

Nach einigen weiteren Arbeitsschritten ist es nun möglich, in Form einer filmischen Bildsequenz das Bauwerk am Monitor gleichsam zu durchschreiten. Ein Vorgang, der heute ganz selbstverständlich angewendet wird, im Falle eines alten, nicht realisierten Entwurfs jedoch sehr viel evaluierender Gedankenarbeit bedarf. Dem komplexen Gebäude des internationalen Forschungs- und Ausstellungskonzepts stellen die beiden Wiener Kunsthistoriker somit die nicht minder anspruchsvolle Rekonstruktion Projekt gebliebener Entwürfe zur Seite, sodaß Borrominis Werk, das über die knappe Handvoll realisierter Bauten bedeutend hinausreicht, angemessen ausgestellt werden kann.

Während Architekten bei Rekonstruktionen dazu neigen, gleichsam entwerferisch-kreativ über die Quellen hinauszugehen, sind Kunsthistoriker gehalten, auf dem Boden nachvollziehbarer Tatsachen zu bleiben. Vermutungen sind als solche auszuweisen, und immer wieder müssen Fragen wegen ungenügender Quellenlage offenbleiben. Daher ist es dem breiten Wissen und den kombinatorischen Fähigkeiten Richard Bösels und seinem Team zu verdanken, wenn der in der Albertina gut gehütete Schatz des Borromini-Nachlasses, aufs beste aufgearbeitet und aufbereitet, in zwei Jahren einer interessierten Fachwelt und der allgemeinen Öffentlichkeit präsentiert werden kann.

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