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Einen Fuß über die Armlehne?
Spectrum

Der Sessel ist jenes Möbelstück, das der menschlichen Anatomie am nächsten rückt. Ein heikles Produkt also, dem neben stützender Steifigkeit auch elegante Leichtigkeit abverlangt wird. Überlegungen zum Design eines Gebrauchsgegenstandes.

24. Januar 1998 - Walter Zschokke
Kein Sitzen ohne Haltung. Ähnlich wie beim Stehen sind zahlreiche Muskeln damit befaßt, den Körper aufrecht zu stabilisieren und den Kopf oben zu halten. Das eigentliche Sitzen kann dabei sehr verschieden sein und sagt vielleicht etwas aus über den gegenwärtigen inneren Spannungszustand. Im Lauf der Kulturgeschichte haben sich aber die Konventionen bezüglich des Sitzens selbst immer wieder leicht verändert und entsprechend auch die Möbelstücke, auf denen gesessen wurde. Die Interpretation der Sitzhaltung durch den Entwerfer eines Sessels ist daher zeitgebunden und kann ab und zu in Frage gestellt und neu formuliert werden.

Nun ist der Sessel jenes Möbel, das der menschlichen Anatomie am nächsten rückt. Es ist das von seinem Charakter her am stärksten anthropomorphe Stück in bewohnten Räumen. Nicht selten werden daher Stühle und Sessel als Maßstabvergleich eingesetzt und vertreten die menschliche Figur auf Bildern und Photographien, ob dies Stilleben wie Adolph von Menzels „Balkonzimmer“ sind oder Innenaufnahmen der zeitgenössischen Architekturphotographie. Immer verweisen die Sessel unmißverständlich auf den - absenten - Menschen.

Dabei besteht das Paradoxon, daß „unordentlich“ hingestellte Sessel stärker animiert wirken als exakt aufgeräumte. Dieses Phänomen beschreibt Max Frisch in seinen Tagebüchern an Hand der Schuhe von Andri in dem Theaterstück „Andorra“. Beim Szenenwechsel anläßlich der Proben hatte jemand die vom Darsteller säuberlich als Paar abgestellten Schuhe verschoben, sodaß sie in geöffneter Stellung dramatisch an den soeben abgeführten Andri erinnerten. Ähnlich verhält es sich auch mit Sesseln.

Wenn es um Produktdesign geht, also um Entwurf und Entwicklung im Hinblick auf die Erzeugung großer Stückzahlen, nicht bloß um das Basteln einzelner Möbelobjekte, spielen Art und Weise der vermuteten künftigen Benutzung eine wichtige Rolle. Wie der nach Authentizität forschende Schriftsteller den Leuten beim Reden „aufs Maul“ schaut, wird der Gestalter, der am Konzept für einen Sessel arbeitet, den Menschen beim Sitzen auf die Beine, den Körper und auf die Haltung schauen.

Im Café sitzen sie anders als am Speisetisch; und beim Lümmeln auf einer Bank halten sie die Beine lockerer als beim Gespräch mit einem Vorgesetzten. Aber für alle diese Gelegenheiten soll ein Sitzmöbel dienlich sein, die darauf Sitzenden nicht unangenehm zum ständigen Positionswechsel nötigen.

Vor 100 Jahren hat sich Adolf Loos mit denselben Fragen („Das Sitzmöbel“, 1898) befaßt. Seine Gedanken zeugen von genauer Beobachtung und reicher Welterfahrenheit. Er spricht über englische Möbel: „Alle arten von sitzgelegenheiten sind in ein und demselben zimmer vertreten. Jeder kann sich den ihm gerade passenden sitz aussuchen. (. . .) Der drawing-room aber, unser salon, wird seiner bestimmung gemäß leichte, also leicht transportable sessel aufweisen. Auch sind diese nicht zum ausruhen da, sondern um die sitzgelegenheit bei leichter, anregender konversation zu bieten. Auf kleinen, kapriziösen sesseln plaudert sich's besser als im großvaterstuhl.“

Loos redet der Vielfalt das Wort und weist auf kulturelle Unterschiede hin. Man könnte nun sagen, er hat - mit Nachsicht bezüglich einiger zeitspezifischer „Unkorrektheiten“ - in seinem Beitrag zum Sitzen schon alles gesagt, zwar nicht im Detail, aber von der Methode der Betrachtung her: „Habt ihr noch nie das bedürfnis gehabt, besonders bei großer ermüdung, den einen fuß über die armlehne zu hängen? An sich ist das eine sehr unbequeme stellung, aber manchmal ist sie eine wahre wohltat.“ Er pfeift auf Konventionen; um zu neuen Einsichten zu gelangen, schaut er sich selber beim Sitzen zu.

Lassen wir einmal das Prinzip Sessel und seine Elemente aus heutiger Sicht Revue passieren und beginnen mit dem gedanklichen Sitzen - zuerst beim Sitz: meist eine ebene Fläche mit seichter Mulde in der Mitte, etwa zwei Spannen hoch über dem Fußboden plaziert. Andere Kulturen sitzen in anderen Höhen, aber auch in Europa war diese Höhe nicht immer gleich. Lag dieser Abstand im 18. Jahrhundert beim höfisch beeinflußten Sitzmöbel bei 40 bis 42 Zentimetern, ging das Biedermeier trotz bürgerlich-häuslicher Bequemlichkeit auf 44 bis 45 Zentimeter hinauf. Das aufstrebende Bürgertum dieser Zeit saß stolz und vielleicht auch etwas steifer als die Barockmenschen in seinen Sitzmöbeln. Bugholzsessel aus der Gründerzeit weisen 46 bis 47 Zentimeter Sitzhöhe auf, und einzelne Stühle aus der Jugendstilzeit, als alles etwas überhöht gezeichnet wurde, kommen auf gute 48 Zentimeter.

Die Bauentwurfslehre von Ernst Neufert aus den dreißiger Jahren geht wieder auf 45 zurück. In den sechziger Jahren galten dagegen 43 Zentimeter als bequem. Der „Modulor“ von Le Corbusier, aus dessen roter Reihe das Maß stammt, hatte sich offenbar ausgewirkt. Diese Verschiebungen um Fingerbreiten bestätigen, daß die Länge der menschlichen Unterschenkel nicht das alleinige Kriterium sein konnte.

Andere Feinheiten, wie eine leichte Neigung um einen Zentimeter von vorn nach hinten und die Ausbildung der vorderen Kante spielen da mit hinein. Ist letztere zu scharf, schneidet sie in Venen an der Unterseite der Oberschenkel und stört den Blutrückfluß. Für ein Speiselokal, dessen Besitzer ein mehrmaliges Belegen der Sitzplätze anstrebt, ist der Gestalter in dieser Hinsicht gut beraten, wenn diese Kante nicht zu angenehm gerundet ist. In diesem Fall stellt auch die Durchlüftung der Sitzfläche keine Probleme. Für längeres Sitzen ist dagegen eine gelochte Fläche von Vorteil. Nach wie vor sehr günstig ist das Geflecht aus Bambusspältlingen, „Jonc“ genannt, das im 18. Jahrhundert aus China nach Europa fand. Aber es ist empfindlich und recht teuer zu ersetzen, weshalb schon Thonet gelochtes Formsperrholz vorzog.

Die Lehne eines Sessels ist nicht mit jener eines (Lehn-)Stuhls zu vergleichen. Sie soll die Schulterblätter etwas stützen, aber mit ihrer oberen Kante nicht in den Rücken einschneiden. Auch hier kennen einige Produkte aus neuester Zeit wenig Gnade.

Vor Jahrzehnten, als das „Sitz gerade!“ am Familientisch alle paar Minuten erscholl, hatte die Lehne gar keine Stützfunktion, sondern gab das aufrechte Sitzen visuell unmittelbar vor. Heute, da man nach dem Essen mit Freunden gern am abgeräumten Tisch sitzen bleibt, um die Gesprächsfäden nicht zu zerschneiden, kommt ihr wieder mehr Bedeutung zu: Sie muß einige Wechsel der Sitzposition zulassen, soll aber die Rippenbogen am Rücken nicht durch zu starke Krümmung einengen. Und sollte sich jemand verkehrt auf den Sessel setzen wollen, muß er sich mit den Unterarmen auf der Rückenlehne aufstützen können.

Wenn sich der Sitzende stark zurücklehnt, tritt ein ganz anderes, ein statisch-konstruktives Problem auf: Die Verbindung zwischen der Zarge und den in die Lehnenholme übergehenden Hinterbeinen wird extrem hoch belastet. Dies ist besonders der Fall, wenn der Mensch, sich räkelnd, den Sessel noch leicht nach hinten kippt, sodaß dieser nur mehr auf den hinteren Beinen steht. In den USA erfand man daher den „Rocker“, wie uns Loos wissen läßt, einen Sessel mit leicht gekrümmten, nach hinten verlängerten Kufen. Daß es sich dabei nicht um einen Schaukelstuhl handelt, belegt das Fehlen nach vorn wirkender Kufenstücke.

Die Bugholzsessel des Fin de siècle waren an dieser Stelle, wo als Verbindungsmittel bloß eine große Schraube von der Innenseite der Zarge her in die Hinterbeinholme eindrang, besonders anfällig. Es wurden daher bugartige Versteifungsstücke angeboten oder bereits fertig montiert, die diese heikle Stelle verstärken halfen.

Adolf Loos, der feine Beobachter und scharfe Kritiker, muß sich darüber seine Gedanken gemacht haben. Es ist anzunehmen, daß ihm die Überlagerung des U-förmig gebogenen Doppelholms, der in die Lehne übergehenden Beine mit dem inneren Hilfsbogen und den außen angesetzten Bügen zuviel war. An anderer Stelle spricht er vom Weglassen des Überflüssigen. Bei seinem Sessel für das Café Museum, den er ziemlich genau vor einem Jahrhundert entworfen haben dürfte, läßt er die Hinterbeine in den inneren, niedrigeren Bogen übergehen, überfängt ihn mit einem etwas höher gesetzten zweiten, dessen Schenkel sich ersterem eine kurze Strecke anschmiegen, um dann elegant nach vorn zur Zarge zu streben und die aussteifende Funktion zu übernehmen.

Vier weitere von unten eingesetzte Halbbogen verleihen dem Gestell trotz extrem dünner Zarge Steifigkeit und jene Eleganz und Leichtigkeit, die von den immer wieder erwähnten elliptischen Querschnitten der Lehnenbogen gekrönt wird. - Die Lehne stützt angenehm die Schulterblätter, und ein Rock läßt sich gut darüberhängen. Den Sessel erzeugte damals Josef Kohn.

Seit ein paar Jahren wird wieder ein Bugholzsessel auf dem Markt angeboten, dessen Stylisten sich auf Loos berufen. Die Verdreifachung der Lehnenbogen hat aber mit dem Entwurf von Loos bestenfalls vom Kurvenschwung her etwas gemeinsam und erinnert formal eher an Gestaltungsmuster von Josef Hoffmann. Vor allem aber entbehrt er jener eleganten statisch-konstruktiven Lösung zur Aussteifung der heiklen Verbindung zwischen Zarge und Lehnenholmen. Es ließe sich daher nicht einmal auf Plagiat klagen.

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