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Alpen »ohne« Raum
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Wird in den Alpen in Zukunft die Referenz an den Raum, an die natürliche Umwelt scheinbar vollends bedeutungslos? Beschert uns die ungesteuerte Globalisierung zunehmend einen Alpentourismus ohne Gebirgslandschaft, also nur noch mit Event und Kulisse?

20. Dezember 1996 - Dominik Siegrist
Wird in den Alpen in Zukunft die Referenz an den Raum, an die natürliche Umwelt scheinbar vollends bedeutungslos? Beschert uns die ungesteuerte Globalisierung zunehmend einen Alpentourismus ohne Gebirgslandschaft, also nur noch mit Event und Kulisse? Stauseen ohne Gletscherbäche, also nur noch künstliche Pumpspeicherbassins? Einen Transitverkehr ohne Passtrassen, also nur noch mit Basistunnels? Eine alpine Kultur ohne Geschichte, nämlich nur noch als Pseudofolklore?

Mitte Juli dieses Jahres machten ArchäologInnen einen außergewöhnlichen Fund. In Visperterminen, einem Bergdorf in der Nähe von Brig im schweizerischen Kanton Wallis, fanden die Forscher die Reste eines antiken Dorfes. Lange vor dem Imperium Romanum existierte hier an steilen Berghängen auf einer Höhe von 1.500 Metern über Meer eine agrarische Dorfgemeinschaft. Im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurde die Siedlung aus unbekannten Gründen aufgegeben.

Die Lebensweise der antiken Bergbauern von Visperterminen unterschied sich möglicherweise nicht wesentlich von derjenigen ihrer mittelalterlichen Nachfahren. Kennzeichen bildeten die Selbstversorgung und ein regionaler Güteraustausch sowie Handel. In Visperterminen blühte eine bäuerliche Kultur und Gesellschaft, wie sie vielleicht gleichzeitig und sicher später an vielen Orten der Alpen verbreitet war.
Trotz regionaler Differenzierungen war den alpinen Gesellschaften eines gemeinsam: Das Wirtschaften in den Alpen mußte auf die speziellen Naturgegebenheiten der Gebirgsräume besondere Rücksicht nehmen. Die erosionsanfällige Topografie benötigte eine behutsame Pflege und lange Winter erforderten einen haushälterischen Umgang mit den Vorräten. Beachteten die Bauern – z.B. als Folge wachsenden Bevölkerungsdrucks – die Naturgegebenheiten nicht, konnte dies bald existentielle Folgen zeitigen. Im gesamten Alpenraum sind zahlreiche historische Naturkatastrophen dokumentiert, die auf menschliche Ursachen zurückzuführen sind.

Warum vermag uns das Beispiel des antiken Visperterminen in der heutigen Zeit zu faszinieren? Wieso interessieren sich heute eine zunehmende Anzahl von ZeitgenossInnen für die Alpen als reichen Kultur- und Naturraum? Was lernt der moderne Mensch aus den weitverbreiteten Überresten einer traditionellen alpinen Landwirtschaft?

Das Individuum des Industrie- und Dienstleistungszeitalters hat den direkten und existentiellen Kontakt zur physischen Natur weitgehend verloren. Die Reste mittelalterlicher alpiner Agrarkulturen überliefern dem modernen Beobachter, wie die Menschen im unmittelbaren Austausch mit der physischen Natur auch unter schwierigen äußeren Bedingungen zu bestehen vermochten (vgl. WERLEN, 1995).
Die Spuren der traditionellen alpinen Lebensweise erlauben nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit einer kulturgeschichtlichen Epoche, in welcher der Raum und die Zeit zentrale Kategorien sozialen Handelns darstellten; dies vor dem Hintergrund des heutigen rasanten gesellschaftlichen Wandels, der vom Bedeutungsverlust der Dimensionen in Raum und Zeit geprägt ist.

Globalisierung der Alpen

Das Beispiel des antiken Visperterminen darf nicht als falsche Mythologisierung des Bergbauernlebens mißverstanden werden. Zudem soll an dieser Stelle die Frage, ob es sich dabei um eine nachhaltige alpine Wirtschaftsform gehandelt hatte, ausgeklammert werden. Seit der Industrialisierung hat sich das menschliche Verhältnis zur natürlichen Umwelt längst grundsätzlich verändert, zuerst im klassischen europäischen Industriezeitalter, dann nochmals mit der modernen Dienstleistungsgesellschaft (vgl. SIEGRIST, 1996).

Heute wird oft das Schlagwort der Globalisierung angeführt, womit wiederum eine neue Phase der gesellschaftlichen Entwicklung gemeint ist: Eine Entwicklung, deren ökonomische und soziale Auswirkungen gerade auf die europäischen Alpen enorme – um nicht zu sagen katastrophale – Dimensionen annehmen. In allen wichtigen alpinen Bereichen zeichnen sich für die nächsten Jahre dramatische Veränderungen ab. Dies betrifft insbesondere den Tourismus, den Verkehr, die Energiewirtschaft und die Landwirtschaft in den Alpenregionen.

Mit dem gegenwärtigen Prozess der Globalisierung gehen Veränderungen in elementaren internationalen Handlungsfeldern einher: Der Abbau internationaler Zollschranken führt zur Minderung von Handelshemmnissen, verbesserte Verkehrsmittel schaffen schnellere und zum Teil billigere Verbindungen und neue Kommunikationsmittel beschleunigen den weltweiten Informationsaustausch (vgl. MARTIN, H.-P. SCHUMANN, 1996). Politisch vollzieht sich der Prozess der Globalisierung in den Alpen in der europäischen Integration zur EU, wo unter den Alpenländern nur noch die kleinsten, nämlich die Schweiz, Slowenien und Liechtenstein, nicht Mitglied sind. Ökonomisch wird der Prozess der Globalisierung im Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), im Maastrichter Vertrag sowie im Freihandelsabkommen der World Trade Organisation (WTO) deutlich.

Im europäsichen Kontext kommt der Globalisierungsprozess in den umstrittenen „vier Freiheiten“ des europäischen Binnenmarktes zum Ausdruck:
• Freier Personenverkehr bedeutet Abschaffung der Grenzkontrollen, Niederlassungsfreiheit für alle EU-BürgerInnen, Beschäftigungsfreiheit ohne Einschränkungen, Anerkennung aller nationalen Berufsdiplome etc.
• Freier Warenverkehr meint keine Grenzkontrollen, Anerkennung gemeinsamer Normen, Umweltvorschriften und Testverfahren etc.
• Freier Dienstleistungsverkehr inkludiert freien Verkehr und Transport von Gütern und Dienstleistungen sowie gleiche Regelungen für Versicherungen, Banken, Telekommunikation, Marketing etc.
• Freier Kapitalverkehr erlaubt Freizügigkeit für Geldverschiebungen, Kapitalbewegungen und Wertpapierhandel, freie Kooperation und Fusion von Unternehmen etc.

Neue Probleme für die Alpen

Im Jahre 1987 definierte die Brundtland-Kommission den Begriff der Nachhaltigkeit. Danach ist eine nachhaltige Entwicklung gewährleistet, wenn die Bedürfnisse der heutigen Generation befriedigt werden, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse zu beeinträchtigen. Anläßlich der Umweltkonferenz von Rio 1992 stimmten die europäischen Länder den Zielen nachhaltiger Entwicklung im Grundsatz zu. Übertragen wir das Dreieck der Nachhaltigkeit, also die dauerhafte Entwicklung in den Sektoren Ökonomie, Ökologie und Kultur, auf die zentralen alpinen Gesellschaftsbereiche.

In den Branchen Tourismus, Verkehr, Energiewirtschaft und Landwirtschaft vollzieht sich seit Jahrzehnten der weitaus größte Teil der alpinen Wertschöpfung. Alle diese vier Branchen sind heute stark in das europäische und in das globale ökonomische System eingebunden. Die entsprechenden regionalen Wirtschaftszweige sehen sich den europäischen und globalen Prozessen somit direkt ausgesetzt:

• der Alpentourismus wird durch billige Flugreisen und kostengünstigere Fernreisedestinationen konkurrenziert;
• der Transitverkehr wächst mit dem gesamteuropäischen Güteraustausch;
• der Individualverkehr nimmt mit der weltweit wachsenden Automobilproduktion zu;
• die Energiewirtschaft trifft die geringere Nachfrage angesichts europaweiter Rezession und Billigkonkurrenz aus Osteuropa;
• die Berglandwirtschaft kann angesichts sinkender Weltmarktpreise für Agrargüter kaum mehr mithalten.

Ohne Gegenmaßnahmen werden die konkurrenzschwachen Teile der alpinen Wirtschaft über kurz oder lang verdrängt. Nur gerade konkurrenzstarke Betriebe und Branchen werden in der Lage sein, sich auf die neuen Bedingungen am deregulierten Markt einzustellen. Für viele Regionen sind die Folgen dieses Prozesses fatal:
Der Alpentourismus hatte 1996 wiederum massive Einbrüche zu verzeichnen. Vor diesem Hintergrund forcieren alpine Tourismusdestinationen, deren Stärke klassischerweise auf den Elementen Natur und Landschaft lag, das Angebot an „Events“ und künstlichen Erlebniswelten. Abenteuer- und Erlebnisangebote benützen die Landschaft zwar oft als Kulisse, haben aber kein tatsächliches Interesse an den spezifischen natürlichen und kulturellen Gegebenheiten. Den meisten Skifahrenden scheint es letztlich gleich zu sein, ob ihre Skipiste vom Bulldozer planiert und mit Schneekanonen künstlich beschneit wird. Auch der Golfsportler kommt ohne intakte Berglandwirtschaft aus. Das „Bungeejumping“ aus der Luftseilbahn funktioniert auch noch vor der Kulisse eines kranken Bergwaldes. Vor dem Hintergrund von Erlebnisgesellschaft und Cyberspace müssen wir heute fragen: Verlieren Natur und Landschaft nicht zunehmend ihre Bedeutung als touristisches Kapital (vgl. TORRICELLI, 1996; KREBS, 1996)?

Über Jahrhunderte hinweg war der Transitverkehr für manche Alpenregion neben der Landwirtschaft der wichtigste Erwerbszweig. Noch bis ins 20. Jahrhundert bildete der klassische Passverkehr einen wesentlichen Bestandteil des Alpentourismus. Seit den 60er Jahren begradigten die Autobahnen die Passübergänge immer mehr. Der Verkehr wurde immer schneller, und die Reisenden stiegen kaum mehr in den Talorten entlang der Transitrouten ab. Wenn Europa seinen Transitverkehr dereinst durch die geplanten Eisenbahnbasistunnels am Brenner, Gotthard und Lötschberg schleust, werden solche klassischen Alpenpässe ihre ursprüngliche Verkehrsbedeutung vollends verloren haben (vgl. CIPRA, 1994).

Große Teile der zentralen und westlichen Alpen sind energiewirtschaftlich weitgehend erschlossen. Doch das gewachsene Bedürfnis der europäischen Wirtschaft nach Spitzenstrom weckt bei der Energiewirtschaft das Interesse an neuen Investitionsmöglichkeiten. So entstanden seit den 70er Jahren in den Alpenländern mehr als ein Dutzend Projekte für sogenannte „Pumpspeicher“. Das sind Stauseen, die kein natürliches Einzugsgebiet benötigen, da sie nicht in erster Linie aus Bergbächen gespeist werden, sondern mit Wasser, das vom Tal hochgepumpt wird. In der Schweiz soll hierzu Bandstrom aus eigenen und aus französischen Atomkraftwerken verwendet werden. Die derart gespeicherte Energie kann dann in jenen Tages- und Jahreszeiten, wenn dafür die höchsten Preise erzielt werden, international gehandelt werden (vgl. BÄTZING, 1991).

Raum und Zeit für nachhaltige Entwicklung

Alpine Ökosysteme sind vor allem aufgrund der spezifischen Naturbedingungen besonders anfällig für die Folgewirkungen der modernen Dienstleistungsgesellschaft (vgl. ELSASSER, ABEGG, 1996). Früher und schneller als anderswo werden im Hochgebirge die Umweltschäden heutigen menschlichen Wirtschaftens sichtbar. Erwähnt seien z. B. die Folgen der Klimaveränderung: Gletscher und Permafrost schmelzen ab, was eine zunehmende Instabilität von Berghängen verursacht. Gekoppelt mit vermehrt auftretenden Extremniederschlägen ergibt sich ein erhöhtes Risikopotential für sogenannte Naturkatastrophen (vgl. PRICE, 1995). Auch der wachsende Zugriff auf die begehrten Ressourcen der Gebirgsräume wie Wasser, nutzbare Böden, Erholungslandschaften und temporäre Siedlungen verstärkt den Druck auf die Umwelt (vgl. NATURFREUNDE INTERNATIONAL, 1996).

Die gegenwärtigen Globalisierungsprozesse richten sich gegen manches, was bislang starke räumliche Referenzen aufwies. Es zeigt sich nämlich, daß gerade umwelt- und sozialverträgliche, nachhaltige Entwicklungsansätze auf den expliziten Einbezug des Raumes angwiesen sind. Dies gilt insbesondere für die Landwirtschaft. Das lokalbezogene Knowhow der Bergbauern entwickelte sich über die praktische Erfahrung zahlreicher Generationen hinweg und ermöglichte die kleinräumige Verzahnung von Nutzung und Schutz der natürlichen Ressourcen. Auf solche flächen- und raumbezogenen Momente ist der Biolandbau, der sich seit einigen Jahren insbesondere in Österreich und in der Schweiz stark entwickelt hat, weiterhin angewiesen. Nicht zuletzt profitieren davon auch die neuen Direktvermarktungskonzepte der Landwirtschaft im Tourismus.

Im Gegensatz zum harten Alpentourismus sind verträgliche und sanfte Fremdenverkehrsformen auf möglichst intakte Natur und Landschaft angewiesen. Es fällt schwer, sich einen nachhaltigen Tourismus ohne expliziten Raumbezug vorzustellen. Landschaftsgenuß, historisches und kulturelles Interesse der Reisenden bezieht die räumlichen Komponenten von vornherein mit ein. Doch welche Perspektiven besitzen nachhaltige Tourismusformen in den Alpen überhaupt noch, angesichts des allgemeinen Rückgangs im Fremdenverkehr (vgl. SIEGRIST et al., 1996, CIPRA, 1996)?

Gratwanderung in die europäische Zukunft

An manchen Orten des Alpenraums ist seit einigen Jahren neue Bewegung zu beobachten. Heute bestehen hier deutlich mehr engagierte Vereinigungen, Verbände und Institutionen als noch vor 15 Jahren. Besonders auffällig erscheint der Aufbau einer Reihe von neuen alpinen Netzwerkken. Diese jüngere Entwicklung stellt nicht zuletzt eine direkte Gegenreaktion auf die globalen Tendenzen und deren oftmals negativen Folgen für die Alpenregionen dar. Es ist einleuchtend, dass sich die soziale Mobilisierung besonders in jenen Bereichen bemerkbar macht, wo sich die allgemeine Entwicklung am einschneidensten auswirkt: Im Verkehr und im Transitverkehr, bei der Belastung von Natur und Landschaft und im Bereich der Kultur. Innovative und neue Ansätze entwickeln sich in allen Alpenländern besonders in der Landwirtschaft und im Tourismus. Auch die europäische Alpenkonvention bildet einen Schritt in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung, obwohl das internationale Vertragswerk noch viele Fragen offenlässt (vgl. CIPRA, 1996).

Manche neuen Ansätze, die in den letzten Jahren von politischen EntscheidungsträgerInnen inner- und ausserhalb der Alpenländer aufgenommen wurden, entstanden in jenen Gruppen und Verbänden, die sich seit Jahren in den einzelnen Regionen für eine soziale und ökologische Zukunft in den Alpen einsetzen. Doch um die neuen Ideen auch durchsetzen zu können, bedarf es neuer Bündnisse, die über die Alpenregionen, ja über die Alpenländer hinaus führen.

Die Entwicklung nachhaltiger wirtschaftlicher, ökologischer und kultureller Perspektiven für die Alpenregionen als eigenständigen und zukunftsfähigen Lebensraum bedeutet heute mehr denn je eine Gratwanderung in die europäische Zukunft.

1 Referat von Dominik Siegrist, Alpen-Büro (Zürich), am Alpenkongress der Naturfreunde International am 19.09.1996 in Sévrier, Frankreich.

Literatur:
BÄtZING, W. (1991): Die Alpen. Entstehung und Gefährdung einer europäischen Naturlandschaft.
S. 94 ff. München.
CIPRA (1996): Die Alpenkonvention. Der österreichische Weg. Wien.
CIPRA (1994). Energiekonzepte im Gebirge, CIPRA-Jahresfachtagung. Innsbruck, Wien.
ELSASSER, H., ABEGG, B. (1996): Auswirkungen von Klimaänderungen auf den Tourismus im Alpenraum. Zürich.
GLAUSER, P., SIEGRIST, D., (1996): Schauplatz Alpen. Gratwanderung in eine europäische Zukunft, Zürich.
KREBS, P. (1996): Verkehr wohin? Zwischen Bahn und Autobahn. Zürich.
MARTIN, H.-P., SCHUMANN, H. (1996): Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand. Reinbek.
Naturfreunde International (1996): Grünbuch Alpen. Wien.
PRICE, M. (1995): Mountain research in Europe. An Overview of MAB Research from the Pyrenees to Siberia. Lancs.
SIEGRIST, D. (1996): Sehnsucht Himalaya. Alltagsgeographie und Naturdiskurs in deutschsprachigen Bergsteigerreiseberichten. S. 73 ff. Zürich.
SIEGRIST et al. (1993): Alpenglühn. Auf TransALPedes Spuren von Wien nach Nizza. Zürich, Linz.
TORRICELLI, G.P. (1996): L’atlante socio-economico della regione insubrica. Un concetto „trans-scalare“. In: Periodico dell’ instituto di recerche economiche (1996): S. 2 - 35. Bellinzona.
WERLEN, B. (1995): Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierung. Stuttgart.

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