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Der Alpenraum im wirtschaftlichen Spannungsfeld
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Eine Analyse des Berggebietes

30. Juni 1996 - Manfred Perlik
Das Berggebiet wird heute in bezug auf seine Bevölkerung von den Agglomerationen geprägt, die „Flächenverantwortung“ liegt jedoch oft in den Händen der ländlich peripheren Regionen. Perlik, 1996

Der Alpenraum ist heute gesamthaft strukturschwach. Als problematisch erweisen sich allerdings die intraregionalen Disparitäten. Dies sind die Ergebnisse einer jüngeren alpenweiten Untersuchung auf Gemeindeebene. Demgegenüber sieht eine EU-Studie gute Entwicklungschancen. Der Widerspruch zwischen den Erkenntnissen erklärt sich dadurch, daß die Daten der EU-Studie (EU, INTER-G, 1994) auf große Territorialeinheiten homogenisiert und die wirtschaftlich starken Zentren von Bologna bis Nürnberg in das Untersuchungsgebiet einbezogen wurden. Der Alpenraum profitiert so durch seine zentrale Lage innerhalb dieses Städtenetzes. Als vorrangige Lösung der Alpenprobleme erscheint aus dieser Sicht der Ausbau der internationalen Verkehrsachsen. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit der Alpenraum davon gesamthaft profitieren kann, oder ob nicht, wie bereits die demographische Entwicklung (BÄTZING et al., 1993) zeigt, die Disparitäten zwischen und innerhalb der Regionen anwachsen, was die günstigen Prognosen wieder in Frage stellt.

Die Zentralstelle für regionale Wirtschaftsförderung (ZRW) beim Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) in der Schweiz hat daher die hier vorgestellte Studie (BÄTZING, MESSERLI, PERLIK, 1995) in Auftrag gegeben, die kleinräumig das klassifizierte schweizerische Berggebiet nach Wirtschaftsstruktur und Wirtschaftskraft positioniert.

Um Disparitäten aufdecken zu können, ist wegen der wechselnden Verhältnisse eine hohe Datenauflösung erforderlich. Die Studie basiert deshalb auf Gemeindedaten in Form weniger, alpenweit verfügbarer Indikatoren, die in einem zweistufigen Verfahren (kommunale und regionale Typisierung) ausgewertet wurden. Parallel dazu wurden in einer weiteren Studie (BÄTZING, PERLIK, DEKLEVA, 1994) 41 % aller Alpengemeinden in fünf Ländern nach den gleichen Kriterien untersucht. In beiden Fällen wurden zunächst kommunale Entwicklungstypen gebildet, wobei unterschiedliche Indikator-Kombinationen verwendet werden mußten. Mit ihnen konnte die Bandbreite des aktuellen Strukturwandels im Alpenraum fast vollständig abgedeckt werden. (1)

Kommunale Entwicklungstypen im Alpenraum

Die Untersuchung der kommunalen Entwicklungstypen erbringt auf Schweizer Ebene folgende Ergebnisse: deutliche Abnahme der monostrukturierten Typen „Agrargemeinde“ und „Industriegemeinde“ sowie des Entwicklungstyps „Ausgeglichene Gemeinde“. Eine schwach wachsende Zahl von „Tourismusgemeinden“ zeigt, daß die touristische Expansion in den achtziger Jahren weitgehend beendet ist. Die stärkste Zunahme verzeichnen die „Pendlergemeinden“: 1990 leben bereits 67 % der Schweizer Berggebietsbevölkerung in Agglomerationen. Demgegenüber umfassen „Tourismus- und Kleingemeinden“ häufig große Landschaftsräume. Die Verantwortung für diese Gebiete („Flächenverantwortung“) liegt somit oftmals in den Händen wirtschaftsschwacher Kommunen. Hierin besteht eine generelle Strukturschwäche des Berggebietes. Diese Tendenz zunehmender Polarisierung wird von den Daten der alpenweiten Untersuchung gestützt, zum Teil noch übertroffen (v. a. in den italienisch- französischen Südwestalpen).

Haupttendenz: Zunehmende Polarisierung

Die auf regionalen Ausgleich bedachte Raumordnungspolitik der Schweiz hat bisher eine Entwicklung wie im italienisch-französischen Südwestalpenraum vermeiden können. Jedoch haben die im alpenweiten Vergleich hohen Berggebietshilfen eine Polarisierung nicht verhindern können. Am weitesten fortgeschritten ist diese Entwicklung im Tessin, wo das Berggebiet inzwischen zu über 90 % aus „Kleingemeinden“ und „Pendlergemeinden“ (mit 70 % der Bevölkerung) besteht, während die Arbeitsplätze in Agglomerationen außerhalb des Berggebietes angesiedelt sind. Anhand der gewonnenen Daten läßt sich die Entwicklung des Strukturwandels in ihren Hauptprozessen gut nachzeichnen: Die zunehmende Einbeziehung der Berggebietsgemeinden in die wirtschaftliche Verflechtung der Agglomerationen bedeutet den Verlust ihrer wirtschaftlichen Eigenständigkeit und eine Reduktion auf ihre Funktion als Wohnstandort.

Mangels wirtschaftlicher Tragfähigkeit verlieren vor allem „höher gelegene Gemeinden“ an Bevölkerung, was in der Folge zu einer Bedrohung ihrer Gemeindefunktion führt. Die „Tourismusgemeinden“ stehen dazwischen. Sie haben sich bisher beiden Prozessen entzogen. Aber auch hier ist die Polarisierung aktuell im Gange oder abzusehen: weitere Expansion oder der Verlust wirtschaftlicher Eigenständigkeit mit Wandlung zur „Pendlergemeinde“.

Disparitäten auf Regionsebene

Entsprechend den Ergebnissen der kommunalen Typisierung wurde die zweite Untersuchungsstufe an den beobachteten Haupttendenzen orientiert, d. h., die Regionen wurden in erster Linie danach klassifiziert, ob in ihnen die Verstädterungsprozesse vorherrschen - „zentrendominierte Regionen“ mit dominierendem Zentrum und darauf ausgerichteten Pendlergemeinden - oder ob es sich noch um „ländliche (nicht-zentrendominierte) Regionen“ handelt. Ein dritter Regionstyp, die „Pendlerregion“, ist durch einen überdurchschnittlich negativen Pendlersaldo gekennzeichnet, der sich deutlich von der insgesamt negativen Quote des Berggebietes abhebt: Solche Regionen stellen keinen eigenständigen Wirtschaftsraum mehr dar. Sie sind auf ihre Funktion als Wohnstandort reduziert. Schließlich wurde ein vierter Typ gebildet, der durch einen weiter anhaltenden flächenhaften Bevölkerungsrückgang seit den achtziger Jahren gekennzeichnet ist und v. a. die Entsiedlungsprozesse im italienisch-französischen Südwestalpenraum reflektiert („Entsiedelungsregion“). Diese vier regionalen Entwicklungstypen können anhand der dominierenden Sektoralstruktur weiter differenziert werden.

Die touristisch mitgeprägten Regionen haben vergleichsweise wenig EinwohnerInnen, nehmen aber eine große Fläche ein, das heißt, sie besitzen wie alle „ländlichen Regionen“, die eine geringe Siedlungsdichte aufweisen, eine hohe „Flächenverantwortung“ (für 48 % der gesamten Berggebietsfläche). Diese besondere Situation dürfte spezifische regionalpolitische Maßnahmen notwendig machen.

Die agrarisch mitgeprägten Regionen stehen in dieser Hinsicht noch recht gut da. Allerdings ist damit zugleich das Problem verbunden, daß der weiterhin zu erwartende Rückgang des primären Sektors eine hohe Bevölkerungszahl trifft (über 20 %), so daß die fortschreitende Deagrarisierung noch zu erheblichen Strukturproblemen führen wird. Ähnliches gilt auch für die industriell geprägten Regionen.

Damit zeigt auch die Regionstypisierung: Das Berggebiet wird heute in bezug auf seine Bevölkerung von den Agglomerationen geprägt, die „Flächenverantwortung“ liegt jedoch oft in den Händen der ländlich peripheren Regionen.
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1 Kommunale und regionale Entwicklungstypen 1980 2 Kommunale und regionale Entwicklungstypen 1990 3 Entsiedlungs-Subregionen im schweizerischen Südalpenraum


Im Schweizer Tessin

Wie die Karten 1 und 2 zeigen, ist die Entwicklung im Tessin im Schweizer Vergleich sehr weit vorangeschritten: Die Regionen „Malcantone“ und "Valli di Lugano"2 können bereits für 1980 als „Pendlerregionen“ klassifiziert werden. Sie sind das Paradebeispiel für diesen Regionstyp („Extreme Auspendlerregion“), denn in beiden gibt es nur noch Pendler- und Kleingemeinden.

Die bisher ländlich geprägten Regionen „Tre Valli“ und „Moesano“ (in Graubünden3) wandeln sich zwischen 1980 und 1990 zur „zentrendominierten Region“ bzw. zur „Pendlerregion“. Verantwortlich hierfür ist vor allem die Deindustrialisierung, die zu einer Zentralisierung des Wirtschaftsraumes führt. In der Region „Locarnese e Valle Maggia“ ist die intraregionale Polarisierung in „Kleingemeinden“ (in Höhenlage) und in „Pendlergemeinden“ (in Tallage) 1990 fast zum Abschluß gekommen.

Von Verhältnissen wie im Südwestalpenraum, wo fast das gesamte piemontesische Berggebiet als „Entsiedlungsregion“ klassifiziert wurde, kann allerdings nicht gesprochen werden, denn noch schlagen die Entsiedlungsprozesse nicht in der gesamten Region durch. Immerhin sind diese Teilflächen (mit „Kleingemeinden“, die auch in den achtziger Jahren Bevölkerungseinbußen zeigen) inzwischen größenmäßig relevant. In den Regionen „Locarnese e Valle Maggia“ und „Tre Valli“ ist ein zusammenhängendes Gebiet mit den Talschaften „Valle Onsernone“, „Maggia“, „Verzasca“, „Centovalli“ und „Valle Bedretto“ von 710 km2 als Entsiedlungsgebiet gekennzeichnet. Dazu kommen noch Teile der „Valli Blenio“, „Leventina“ und große Teile der „Valle Calanca“. Die Verteilung dieser Gebiete unterliegt dem typischen Muster, wonach von den Entsiedlungsprozessen die höher gelegenen Seitentäler betroffen sind. Umgekehrt betrifft die Wandlung zu „Pendlergemeinden“ häufig die talnahen Kommunen.

Auswirkungen des Strukturwandels

Der ablaufende Strukturwandel läßt sich vor allem an der stark negativen Entwicklung des Pendlersaldos und an der Veränderung der kommunalen Entwicklungstypen zwischen 1980 und 1990 erkennen. Auf der regionalen Ebene ist der Wandel an der drastischen Abnahme der „nicht-zentrendominierten Regionen“ zugunsten von „zentrendominierten und Pendlerregionen“ sichtbar. Inzwischen dürften erstere nochmals abgenommen haben; am Alpenrand ist wohl nur noch das Luzerner Berggebiet als „ländliche Region“ anzusprechen.

Es zeigt sich zugleich, daß der Strukturwandel des Berggebietes zunehmend von den außeralpinen Zentren bestimmt wird; ein Prozeß, an dessen Ende die Bildung von „Pendlerregionen“ steht. Es ist daher gerechtfertigt, von einem Zerfall des ländlichen Raumes zu sprechen. In Übereinstimmung mit anderen Studien4 lassen sich somit anhand der Regionstypisierung vier Hauptstrukturwandeltypen zusammenfassen, mit zumeist zwei realistischen Zukunftsentwicklungen (einer strukturstarken und einer strukturschwachen Variante). Damit läßt sich die Entwicklung seit Ende des Agrarzeitalters für den Alpenraum nachzeichnen und als Weiterentwicklung für die Zukunft skizzieren.

Deagrarisierung

In diesen Regionen wird die traditionelle Agrarstruktur des 19. Jahrhunderts so lange wie möglich beibehalten. Innovationen finden nicht statt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die demographische und ökonomische Basis so schwach, daß sie sich zu agrarisch geprägten „Pendlerregionen“ transformierten. Eine touristische Entwicklung ist diesen Regionen aufgrund der Rahmenbedingungen wahrscheinlich nicht mehr möglich.

Ohne weitere Veränderungen entwickeln sie sich zu Entsiedlungsregionen (= strukturschwache Variante).

Geraten sie jedoch in den Einflußbereich eines größeren Zentrums (z. B. durch den Bau einer Autobahn), dann können sie sich (mit Bevölkerungswachstum) zu „Pendlerregionen“ (ohne agrarische Prägung, aber mit sehr hoher negativer Pendlersaldoquote) entwickeln (= strukturstarke Variante).

Touristische Entwicklung

Landwirtschaft und Tourismus entwickeln sich lange Zeit komplementär zueinander. Mit der krisenhaften Entwicklung der Landwirtschaft entwickeln sich „nicht- zentrendominierte, touristisch geprägte Regionen“.

Entweder geht die Entwicklung weiter zu „zentrendominierten, touristisch geprägten Regionen“, dann stehen am Endpunkt dieser Entwicklung Gemeinden vom Typ Davos oder Chamonix, die sich aus Tourismusgemeinden zu Städten mit über 10.000 EinwohnerInnen entwickeln (= strukturstarke Variante).

Gelingt ihnen das nicht - bei krisenhaftem Verlauf des Gewerbes - , dann steigt die Auspendlerzahl in die Zentren anderer Regionen und sie entwickeln sich zu „Pendlerregionen“ touristischer Prägung (= strukturschwache Variante).

Industrialisierung und Deindustrialisierung

Die Industrialisierung des ländlichen Raumes erfolgte zunächst auf Basis der lokalen Wasserkraftnutzung im 19. Jahrhundert und später - nach dem Zweiten Weltkrieg -, bedingt durch Arbeitskräftemangel, durch Verlegung von Betriebsstätten in den Alpenraum. Zwischen 1970 und 1980 dürften bevölkerungsmäßig die „nicht-zentrendominierten, industriell geprägten Regionen“ der dominante Regionstyp des Alpenraumes gewesen sein.

Sofern es gelingt, einzelne Betriebszweige zu erhalten, werden sich „zentrendominierte Regionen“ ohne spezifische Prägung entwickeln (= strukturstarke Variante).

Im negativen Fall, der noch mit erheblichem Arbeitsplatzabbau verbunden sein wird, entstehen „Pendlerregionen“ mit einem extrem negativen Auspendlersaldo (= strukturschwache Variante).

Urbanisierung und Sub-/Periurbanisation

Es handelt sich hierbei um Regionen guter Erreichbarkeit mit Anschluß an alte und neue Fernverkehrsverbindungen. Sie erlebten nach dem Zweiten Weltkrieg einen enormen Aufschwung und vergrößern ihren Agglomerationsbereich durch Einbeziehung immer weiterer Gemeinden in ihre Pendlerdistanz. Die ungeplant ablaufende Verstädterung schafft eine ökologisch problematische Agglomerationsstruktur, die sich vor allem im Flächenverbrauch und in Verkehrsproblemen manifestiert (vgl. TORRICELLI, RATTI, 1994).

Ergebnis dieser Prozesse ist eine gegenläufige Nutzungsstruktur, bei der die flächenhaft dezentrale Besiedlung der Alpen verschwindet, während die Gunstlagen im Talbereich ein starkes Wachstum erfahren. Beides ist mit ökologischen und sozio-kulturellen Problemen verbunden.

„Entlassung aus der Nutzung“

Die Gemeinde- wie auch die Regionsuntersuchungen zeigen, daß trotz der zum Teil erheblichen Finanzhilfen für die Berggebiete in der Vergangenheit der Prozeß der Polarisierung weitergeht: mit zunehmenden Agglomerationsproblemen einerseits und den mit der Nutzungsaufgabe verbundenen Problemen einer überalterten und zunehmend isolierten Bevölkerung andererseits. Wir haben aus den Ergebnissen unserer Untersuchungen nicht den Schluß gezogen, daß diese Entwicklung wünschenswert ist, etwa im Sinne eines dadurch eher möglichen Naturschutzes (Stichwort: „Wildnis“ im Bereich aufgelassener Kulturlandschaft im Alpenraum). Im Gegenteil scheint es uns sehr euphemistisch, wenn die Entsiedlungstendenzen, wie sie sich im Tessin und noch stärker im italienisch-französischen Südwestalpenraum zeigen, als „Entlassung aus der Nutzung“ begrüßt werden, so daß hier großflächig die natürliche Sukzession Platz greifen kann. Letztlich handelt es sich dabei um eine Alibiposition, indem mit dem Argument reservatähnlicher Ausgleichsflächen eine nicht-nachhaltige Nutzung im Kernwirtschaftsraum erleichtert wird - im Sinn einer Übertragung der Charta von Athen auf Naturschutzvorstellungen.

Regionalpolitische Konsequenzen

Andererseits läßt sich mit der aufgezeigten Entwicklung auch nicht das Gießkannenprinzip einer unspezifischen Berggebietsförderung aufrechterhalten, in dem Sinne, daß versucht wird, dem Berggebiet Anschluß an alle Aspekte des modernen Strukturwandels zu verschaffen. Es ist zu akzeptieren, daß bestimmte wirtschaftliche Funktionen vom Berggebiet nicht erfolgreich kopiert werden können, da hierfür der außeralpine Raum eindeutig bevorteilt ist und dem Berggebiet komparative Vorteile fehlen. In diesem Sinne wäre es verfehlt, hochzentrale kommerzielle Dienstleistungen mit eindeutig städtischem Bezug ins Berggebiet holen zu wollen. Ähnlich negativ sind allerdings auch Tendenzen zur Verstärkung touristischer Monostruktur in touristisch hocherschlossenen Gebieten zu werten. Hier machen sich die touristischen Angebote im Alpenraum inzwischen selbst Konkurrenz und die zurückgehenden Übernachtungszahlen sprechen die deutliche Sprache, daß „Skalenerträge“ des industriellen Sektors so nicht auf den Tourismussektor übertragbar sind (vgl. auch GANTNER, 1995). Konsequenterweise erfolgt daher die Forderung nach risikomeidender, diversifizierender Entwicklung, und da bieten sich dann umgekehrt wieder Möglichkeiten im Tourismus für bisher tourismuslose Gemeinden in Form ökologischer Nischenangebote.

Es wird daher einmal mehr für eine regionsspezifische Förderung plädiert, die vorhandene endogene Potentiale nutzt, so daß das Berggebiet nicht nur auf Freizeit- und Wohnfunktion reduziert wird, sondern auch eigenständiger Wirtschaftsraum bleibt. Dies setzt voraus, daß eine bestimmte Infrastruktur im Bereich der öffentlichen Dienste erhalten bleibt oder sogar noch ausgebaut wird (z.B. der öffentliche Verkehr), um Chancen für eine künftige Aufwertung zu wahren.

Nur wenn über bestimmte Nischenprodukte des ersten und zweiten Sektors eine solche (Wieder) Aufwertung gelingt, dann können auch (an diese Produkte gebundene) kommerzielle Dienstleistungen ins Berggebiet geholt werden. Aus der Bewertung der Regionstypen wird daher der Schluß gezogen, eine unterschiedliche Entwicklung nicht nur als Belastung, sondern auch als Chance zur Entwicklung eigener Möglichkeiten aufzufassen.

Die Bedeutung der Agglomerationen

Beide angesprochenen Studien belegen die Polarisierung in verstädternde Gunstlagen mit guter Verkehrsanbindung und Entsiedlung des eigentlichen Berggebietes. Daneben existieren strukturschwache periphere Regionen mit touristischer Monostruktur. Fast alle Alpenrand-Regionen sind bereits heute auf ein (oft außeralpines) Zentrum ausgerichtet. Ein weiterer Rückgang der ländlichen Regionen ist zu erwarten. Diese Prozesse sind im gesamten Alpenbogen zu beobachten. Mit einem einfachen Indikatoren-Set ist es möglich, den abgelaufenen sozio-ökonomischen Strukturwandel im Alpenraum nachzuzeichnen und prospektiv zu bewerten. Zur politischen Gegensteuerung sollten spezifische, an die jeweiligen Entwicklungstypen angepaßte Konzepte entwickelt werden. Regionsspezifisch bedeutet dabei, daß gegen drei negative Entwicklungsrichtungen vorgegangen werden muß:
Gegen die zunehmenden Agglomerationsprobleme in den verstädternden Tallagen ist inzwischen (wie für den außeralpinen Raum) eine spezielle Agglomerationspolitik notwendig. Ein ersatzloser Zusammenbruch der ländlichen Regionen ist vor allem wegen der ökologischen Flächenverantwortung durch neue, angepaßte Nutzungen zu verhindern. Regionen mit weitgehender Wohnfunktion für außerregionale Zentren wirken langfristig destabilisierend, da ihr eigener Wirtschaftsraum zusammenbricht. Förderungsmaßnahmen müssen sich auf die Stärkung oder den Aufbau eines eigenen Zentrums konzentrieren.

In allen Fällen spielen lokale Zentren eine besondere Rolle: Im einen Fall gilt es, ihre Entwicklung umweltverträglich zu gestalten, im anderen Fall liegt die Aufgabe darin, mit ihrer Stärkung eine flächenhafte Entsiedelung oder wachsende Pendlerdistanzen zu verhindern. In der Konsequenz bedeutet dies, daß den Städten im Alpenraum wesentlich größere Beachtung geschenkt werden muß als bisher.


Anmerkungen:
1 Es wurden alle 1.232 Gemeinden des Schweizer Berggebietes (Alpen und Jura) für 1980 und 1990 typisiert. Indikatoren sind: Bevölkerungsentwicklung, Erwerbstätigenzahlen der Wirtschaftssektoren, Pendlerbilanz, Touristische Intensität (genaue Definitionen vgl. BÄTZING et al., 1993, S. 89-97).
2 Alle Regionen sind angegeben in Abgrenzungen gemäß Investitionshilfegesetz (IHG) von 1974.
3 Die ebenso wie das Tessin italienischsprachige IHG-Region Moesano gehört bereits zum Kanton Graubünden. Sie wird hier mitbetrachtet, da sie ebenfalls auf Bellinzona/Lugano ausgerichtet ist.
4 Basis hierfür bilden (neben den analysierten Entwicklungstypen in den Zeitschnitten 1980/1990) die Anwendung dieser Methode auf knapp die Hälfte des Alpenraumes (BÄTZING, PERLIK, DEKLEVA, 1994), die demographischen Daten auf Gemeindeebene seit 1870 (BÄTZING et al., 1993) und die Ergebnisse anderer bereits vorliegender Alpenstudien (z.B. BÄTZING, MESSERLI, 1991; BRUGGER et al., 1984; INGOLD, 1994; DEMATTEIS, 1975; GEBHARDT, 1990).



Literatur:
Bätzing, W., Messerli, P., (Hrsg.) (1991): Die Alpen im Europa der 90er Jahre. Bern. BÄTZING, W. et al. (1993): Der sozio-ökonomische Strukturwandel des Alpenraumes im 20. Jahrhundert. Eine Analyse von „Entwicklungstypen“ auf Gemeinde-Ebene im Kontext der europäischen Tertiärisierung. Bern. Bätzing, W., Perlik, M., DEKLEVA, M. (1994): Die Alpen zwischen Verstädterung und Verödung. In: DISP Nr. 119. S. 34-40. Zürich. Bätzing, W., Messerli, P., Perlik, M. (1995): Regionale Entwicklungstypen. Analyse und Gliederung des schweizerischen Berggebietes. Hrsg.: Zentralstelle für regionale Wirtschaftsförderung beim Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit. Bern. BÄTZING, W., PERLIK, M. (1995): Tourismus und Regionalentwicklung in den Alpen 1870-1990. In: INMANN, K., LUGER, K., (Hrsg.): Verreiste Berge. S. 43-79. Innsbruck, Wien. Brugger, E. A., Furrer, G., Messerli, B., Messerli, P. (Hrsg.) (1984): Umbruch im Berggebiet. Bern. DEMATTEIS, G. (1975): Le città alpine. Documenti e note. Milano. Eu, Inter-G (1994): Étude prospective des régions de l’arc alpin et peri-alpin. Rapport final. Bruxelles. GANTNER, M. (1995): Sieben Fragen zu Olympia in Tirol. Welchen wirtschaftlichen Nutzen haben olympische Spiele in Tirol? In: „Saison-Regionen“. Nr. 3/95, S. 20- 21. Innsbruck. Gebhardt, H. (1990): Industrie im Alpenraum. Erdkundliches Wissen. Heft 99. Stuttgart. Ingold, K. (1994): Agglomerationen und Städte im Alpenraum. Grauzone der Alpenforschung? Analyse, Definition und Abgrenzung. Unveröffentlichte Diplomarbeit am Geographischen Institut. Bern. MESSERLI, P. (1989): Mensch und Natur im alpinen Lebensraum. Risiken, Chancen und Perspektiven. Zentrale Erkenntnisse aus dem schweizerischen MaB- Programm. Bern, Stuttgart. Oecd, Group of the Council on rural Development (1994): Creating rural indicators for shaping territorial policy. Paris. Thierstein, A., Egger, U. (1994): Integrale Regionalpolitik. Ein prozessorientiertes Konzept für die Schweiz. Chur, Zürich. Torricelli, G. P., ratti, R. (1994): Reti urbane e frontiera. Die „Regione Insubrica“. Internationales Scharnier. Nationales Forschungsprogramm Stadt und Verkehr, Rapporto 56. Zürich. WACHTER, D. (1993): Vertiefung sozio-ökonomischer Aspekte der Alpenkonvention und ihrer Protokolle. Umwelt-Materialien Nr. 2, S. 61-67. Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft. Bern.

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