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Grande Transversata delle Alpi
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Über einen Weitwanderweg durch die piemontesischen Alpen

30. Juni 1996 - Werner Bätzing
Da es in Europa wenige funktionierende Beispiele für einen „sanften“, „alternativen“, „anderen“ oder „Ökotourismus“ gibt, taucht seit Jahren immer wieder der Hinweis auf den piemontesischen Weitwanderweg „Grande Traversata delle Alpi“ (GTA) auf. In 15 Jahren sind hier wertvolle Erfahrungen angefallen, die für ähnliche Projekte nützlich sein könnten, auch wenn eine direkte Übertragung nicht möglich ist. Das GTA-Projekt wird auf den ersten Blick durch viele unkalkulierbare Zufälle geprägt. Man muß sich auf dieses „Chaos“ einlassen, um zu verstehen, daß dahinter doch eine gewisse „Logik“ steckt.

Die Konzeption der GTA

In den Südwestalpen bricht seit 1850 die gesamte Wirtschaft und Kultur zusammen. Heute gibt es hier vollständig entsiedelte Seitentäler und große, fast menschenleer gewordene Gebiete (vgl. BÄTZING, 1993). Aus dem abgelegenen Queyras heraus entstand die Idee einer „Grande Traversée des Alpes“, eines Weitwanderweges durch die gesamten französischen Alpen vom Genfer See bis zum Mittelmeer mit Übernachtungsmöglichkeiten im Abstand von Tagesetappen in Bauerndörfern, damit der ökonomische Ertrag vor Ort verbleibt. Die Idee, die sich an den in Frankreich sehr beliebten Weitwanderwegen, den „Santiers de Grande Randonnée“ orientierte, wurde ab 1971 realisiert und war nach einigen Jahren ein großer Erfolg. Im benachbarten italienischen Piemont, wo man vor den gleichen Problemen stand, verfolgte man diese Initiative sehr aufmerksam. Obwohl in Italien in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre sehr erfolgreiche Höhenwege („alte vie“) entstanden waren, griff man bewußt die französische Idee von Etappenunterkünften in Bergbauerndörfern (franz.: „gite d’etappe“, ital.: „posto tappa“) auf, um den Ertrag des Weges wortwörtlich im Dorf zu lassen und teure und ökologisch problematische Neubauten in der empfindlichen Höhenregion zu vermeiden. Das Ziel war es, die BetreiberInnen einer noch bestehenden Gastwirtschaft, eines Restaurants oder eines kleinen Hotels dazu zu motivieren, ein Bettenlager einzurichten und den GTA-WanderInnen Verpflegung bzw. Abendessen und Frühstück anzubieten. Gab es solche Strukturen in einem Dorf nicht mehr, wurden leerstehende Schulen oder Gemeindehäuser als einfachste „posti tappa“ genutzt.

Wegführung und Wartung

Die Wegführung wurde so gewählt, daß die wenigen Tourismuszentren dieser Region umgangen und der Weg durch strukturschwache Gebiete geführt wurde. Man versuchte auch, keine neuen Wege anzulegen, sondern die GTA auf Alm- und Saumwegen sowie den alten Militärstraßen zu führen. Damit wurde ein doppeltes ökologisches Ziel erreicht: Einerseits ist der Weg gegen Trittschäden unempfindlich (festes Wegbett, teilweise gepflastert) und oft durch Buschreihen und Steinmauern gegenüber der Flur abgegrenzt (wenig Flurschäden durch WanderInnen, die den Weg nicht abschneiden oder verlassen können). Andererseits werden die BesucherInnen auf diese Weise dazu geführt, die alpine Umwelt aus der Perspektive der Bergbauern und -bäuerinnen wahrzunehmen, denn die alte Wegführung ist Ausdruck und Teil der traditionellen Landnutzung. Weiters ist die Weganlage so konzipiert, daß die GTA durch fast alle Naturschutzgebiete der piemontesischen Alpen führt, um auf diese Weise ihre meist wenig nachgefragten Angebote des „sanften“ Tourismus zu stärken. Die Aufgabe der GTA ändert sich auf diesen Etappen jedoch nicht, denn alle Naturschutzgebiete sind ehemalige Kulturlandschaften, die heute ebenso verwildern wie die gesamte Region und keine andersartigen Umweltprobleme aufweisen. Ziel der GTA ist es, durch den Aufbau eines dezentralen, sozial- und umweltverträglichen Wandertourismus die weitere Entvölkerung der Alpentäler zu stoppen und die bestehenden nachhaltigen Wirtschaftsformen zu stärken. Das zentrale Element der GTA ist ihre „komplementäre Multifunktionalität“: Die Betreuung einer GTA-Unterkunft soll kein Haupterwerb sein, sie läßt sich aber ideal mit den verschiedensten Aktivitäten wie dem Führen eines Restaurants oder Hotels, eines Lebensmittelladens oder Bauernhofes kombinieren. Der GTA-Betrieb fördert aber auch unmittelbar lokale Wirtschaftsvernetzungen (HandwerkerInnen: Ausbau und Renovierung der „posti tappa“; Landwirtschaft: Verkauf von Lebensmitteln etc.).

Organisation und Verwaltung

Bei der Organisation der GTA orientierte man sich an den in Piemont existierenden Strukturen der Regional- und Berggebietspolitik, wobei man die Veranwortlichkeiten möglichst dezentral verankerte. Die Basis-Träger des Projektes sind die Gemeinden und die „comunita montane“ (= Berggebietsregion, unterste Ebene der italienischen Berggebietspolitik), durch die die GTA führt. Sie sind zuständig für die Wegführung und den Wegunterhalt, und sie sollen darüber hinaus die GTA in ihre gesetzlich vorgeschriebenen „sozio- ökonomischen Entwicklungsprogramme“ miteinbeziehen, um eine verantwortungsbewußte umwelt- und sozialverträgliche Gesamtentwicklung der Alpentäler zu gewährleisten. Auf der nächsthöheren Verwaltungsstufe sollen die vier Provinzen (Cuneo, Torino, Vercelli, Novara) dafür sorgen, daß die GTA einen entsprechenden Stellenwert in der Entwicklungsplanung sowie Geldmittel aus dem Provinzhaushalt erhält. Auf der Ebene der Region Piemont schließlich werden die Provinz-Aktivitäten koordiniert und weitere Geldmittel für die GTA bereitgestellt. In Turin wurde 1979 als Dachorganisation der Verein „Associazione GTA“ gegründet, der die Aufgabe hat, Werbung und Öffentlichkeitsarbeit für die gesamte GTA durchzuführen, als öffentliche Informationszentrale für alle Auskünfte zur Verfügung zu stehen und für die Koordination aller dezentralen GTA-Aktivitäten zu sorgen. Mit dieser dezentralen Struktur und der bewußten Einbindung der GTA in die Entwicklungsplanungen auf den verschiedenen politischen Ebenen sollte das GTA- Projekt allen Anforderungen einer „endogenen Regionalpolitik“ entsprechen. Da auch Wegverlauf und Infrastruktur sowie die übergeordneten Ziele bewußt an sozial- und umweltverträglichen Kriterien ausgerichtet werden, kann man hier zu recht von einem exemplarischen Konzept eines „Ökotourismus“ sprechen.

Vom Anfang bis zum Ende?

1979 wurden mit großem publizistischen Echo die ersten sechs Etappen eingeweiht, und 1985 war die GTA mit siebzig Etappen von den Walliser bis in die Ligurischen Alpen einschließlich verschiedener Parallel- und Rundwanderwege fertig. Wenn man die Innovationsabwehr dieser Alpenregionen kennt und weiß, daß zahlreiche vorbildliche Landwirtschaftsprojekte kläglich scheiterten (vgl. BÄTZING, 1988), dann stellt dieser zügige Aufbau der GTA-Infrastruktur eine Sensation dar. Die positive Aufnahme liegt daran, daß Aufbau und Betreuung eines GTA-„posto tappa“ innerhalb der traditionellen Familienwirtschaft als ergänzende Tätigkeit erfolgen kann und dabei deren latente Überkapazitäten (Gebäude, Arbeitskraft) sinnvoll genutzt werden. Deshalb hat die Errichtung eines „posto tappa“ auch in keinem einzigen Fall eine/n fremde/n InvestorIn angezogen. Größtes Problem der Anfangszeit war, daß man nicht überall dort, wo es vom Wegverlauf her nötig gewesen wäre, eine/n engagierte/n Einheimische/n fand, so daß Kompromisse gemacht werden mußten (Überreden von Personen, die eigentlich nicht interessiert waren, Veränderung der Wegroute). Ein noch größeres Problem lag aber in den spezifisch italienischen Urlaubsgewohnheiten: Die ItalienerInnen - ganz im Gegensatz zu den Franzosen/Französinnen - wandern kaum und schon gar nicht von Ort zu Ort. Werbung für die GTA bedeutete daher, zunächst einmal Werbung für das Wandern überhaupt zu machen. Die Associazione GTA wurde dabei zwar von allen Alpenzeitschriften unterstützt, aber diese verlangten für ihre umfangreichen Berichte jeweils neue Wegabschnitte und erwähnten die bereits länger existierenden überhaupt nicht mehr. Die italienischen WanderInnen ließen sich durch die begeisterten Berichte zwar motivieren und kamen tatsächlich auf die GTA, aber immer nur auf die jeweils neuen Etappen. Dies veranlaßte die Associazione, jedes Jahr mittels der Anlage von Rund- und Parallelwegen möglichst viele neue Etappen zu eröffnen, um die GTA im Gespräch zu halten. Das Ende dieser verfehlten Politik kam 1986: Die GTA war mit siebzig Etappen für die vorhandenen Geldmittel viel zu groß geworden, eine Reihe von „posti tappa“ mußte wegen Mangel an Betreuung geschlossen werden oder funktionierte miserabel und darüber hinaus blieben jetzt, nach Fertigstellung der GTA, die Zeitschriftenberichte und damit auch die WanderInnen aus. Das mit so großer Euphorie und so vielen Vorschußlorbeeren gestartete Projekt schien gescheitert.

Neue Möglichkeiten an der Basis

Lange Jahre tat sich dann von italienischer Seite wenig. Im Sinne einer sinnvollen Konzentration der vorhandenen Mittel auf wenigstens eine durchgehende Route gab die Associazione GTA zahlreiche Parallel- und Rundwanderwege im Süden (auch „GTA-Ostroute“ genannt) auf, die aus kulturellen Gründen ganz besonders interessant waren. Je weniger ItalienerInnen auf die GTA kamen, desto mehr geriet das „alpine Modethema“ der achtziger Jahre in Vergessenheit. Daß seit 1986 allmählich immer mehr deutschsprachige WanderInnen kamen, bemerkten nur die „posto tappa“- BetreiberInnen. Die GTA blühte im Verborgenen auf. Anfang der neunziger Jahre fanden in der Associazione GTA Vorstandsneuwahlen statt. Der seitdem im Amt befindliche dreiköpfige Vorstand engagiert sich jedoch kaum für die GTA, ja blockt sogar alle Versuche von außerhalb aktiv ab. Höhepunkt seiner Destruktion war die Weigerung, den neuen großen Weitwanderweg durch ganz Italien („Sentiero Italia“) in Piemont auf die GTA zu legen, was nur mit viel Druck korrigiert werden konnte. Diese kontraproduktive Haltung löste dann aber auch einen positiven Impuls aus: „Posto tappa“-BetreiberInnen, die die neuen Möglichkeiten der GTA unmittelbar erlebten, begannen sich zu treffen, um die anstehenden Probleme in eigener Verantwortung zu lösen. Dies funktionierte in einigen Regionen gut, wodurch die endogene Dimension der GTA deutlich gestärkt wurde. Im Herbst 1992 gab es plötzlich eine neue Initiative von unten: Die „comunita montana Valle Maira“ eröffnete einen neuen Rundwanderweg in ihrem Tal („sentiero di valle“) mit 14 Etappen, der nach den GTA-Grundsätzen angelegt worden war. Wegen der Probleme mit der Dachorganisation führte die comunita montana dieses Projekt eigenständig durch und wählte auch bei der Weganlage eine GTA-unabhängige Variante; dennoch ergänzen sich beide Wege sehr gut. Und zur Überraschung aller fand der Maira-Rundwanderweg sofort guten Anklang, vor allem im deutschsprachigen Raum. 1994 tritt ein weiteres Tal, die „comunita montana Val Pellice“, mit einem Talrundweg an die Öffentlichkeit und schließlich möchte auch das Grana-Tal den Maira-Weg auf sein Gebiet ausweiten.

Die Folgen des Durchbruchs

Um die GTA zu unterstützen, hatte ich bereits seit 1984 gezielt Werbung für die GTA im deutschsprachigen Raum gemacht, und ich fand bald MitstreiterInnen, die sich hier ebenfalls engagiert dafür einsetzten. Im Gegensatz zu Italien traf die GTA im deutschen Sprachraum auf ein großes Interesse, weil zahlreiche BergwanderInnen gezielt nicht-touristische Alpenregionen suchten, so daß ab 1986/87 die GTA allmählich immer mehr ausländischen Besuch erhielt. Mit dem Beginn der neunziger Jahre wurden die deutschsprachigen WanderInnen auf der GTA so zahlreich, daß viele „posto tappa“-BetreuerInnen wieder anfingen an die Zukunft der GTA zu glauben. Genaue Zahlen sind zwar nicht zu erhalten, weil dieser Wirtschaftszweig als „Schattenwirtschaft“ betrieben wird, aber es dürfte sich um mehrere hundert Menschen pro Jahr handeln, die meist ein bis zwei Wochen auf der GTA wandern. Dies sind zwar keine gewaltigen Dimensionen, aber sie sind groß genug, um in dieser strukturschwachen Region spürbare wirtschaftliche Impulse auszulösen. Mit der steigenden Attraktivität der GTA entstanden aber auch neue Probleme: Kommerziell geführte Gruppen belegten die Unterkünfte vollständig, so daß EinzelwanderInnen abgewiesen wurden, oder sie bezogen Quartier am Alpenrand und fuhren ihre Mitglieder tagtäglich mit dem Bus zu den Wanderungen, so daß den Tälern nur der Müll und die Abgase blieben. Eine Reihe von Unterkünften (mit sechs, acht oder zehn Betten) war bei der Nachfrage schnell zu klein, und am Ferienbeginn großer deutscher Bundesländer gab es am Beginn der GTA im Norden Engpässe. Diese Probleme traten zwar nur punktuell auf, aber sie drohten die gesamte GTA, die vom Funktionieren aller Etappen abhängig ist, zu gefährden. Es gelang jedoch, in enger Zusammenarbeit zwischen piemontesischen und deutschen Betroffenen, die zuständigen Institutionen in Piemont zu sensibilisieren und eine Reihe von Problemen zu lösen. Mit dieser jüngsten Entwicklung scheint sich die GTA - nach 15 Jahren - offenbar endgültig durchgesetzt zu haben.

Bilanz der Umsetzung

Die bisher dargestellten Probleme zeigen, daß theoretisch vorbildliche Konzepte durch Schwierigkeiten in der Umsetzung leicht scheitern können. Der Aufbau der GTA-Infrastruktur und die Stärkung endogener Potentiale in einer umwelt- und sozialverträglichen Form ist nach 15 Jahren weitgehend realisiert, auch wenn der direkte ökonomische Ertrag kaum meßbar ist. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, daß die „posti tappa“ überall von der angestrebten Zielgruppe betreut werden (meist Einheimische, gelegentlich RückkehrerInnen aus der Stadt), so daß der Ertrag tatsächlich in den Tälern verbleibt. Wesentlich ist, daß die GTA fast ausschließlich durch strukturschwache Alpentäler führt und hier keine Kompromisse eingegangen wurden. Es wurde auch der Versuchung widerstanden, der GTA zur Steigerung der touristischen Attraktivität auf neuen Teilstücken den Charakter einer „alta via“ zu geben. Die Stärkung lokaler Wirtschaftskreisläufe sowie der kulturellen Identität wurde teilweise erreicht, denn sehr viele Einheimische sind stolz darauf, daß so viele Menschen von so weit her kommen, um in ihren „vergessenen Tälern“ Urlaub zu machen - anstelle der Tourismusmüdigkeit großer Tourismuszentren gilt hier noch die kulturelle Bereicherung durch die „Gäste“. Es gibt aber kaum Informationen, was die wirtschaftliche Belebung der Dörfer betrifft. Auffällig ist jedoch, daß die „posto tappa“- BetreiberInnen nicht sehr häufig auf die Herkunft ihrer Lebensmittel hinweisen und sich im Restaurant auch wenig um besondere Qualitätsprodukte oder regionaltypische Angebote bemühen. Hier sind also noch erhebliche Defizite, aber auch ökonomische Potentiale vorhanden.

Der Aufbau einer dezentralen GTA-Struktur und der Einbezug der GTA in die zuständigen politischen Strukturen muß als gescheitert bewertet werden, auch wenn es einzelne positive Erfahrungen gibt. Die Associazione GTA hat zwar anfangs die dezentrale Struktur gefördert, später diese jedoch behindert und schließlich aktiv gestört, wobei die Ursachen in gesamtitalienischen Faktoren liegen dürften, also in der Krise des gesellschaftlichen und politischen Systems. Die Einbeziehung der GTA in die sozio-ökonomischen Entwicklungspläne der „comunita montane“ hat nicht funktioniert, weil die betroffenen VertreterInnen diese Möglichkeit nicht erkannt haben. Ähnlich sieht es auf der Provinz-Ebene aus. Allein von der Provinzregierung in Cuneo kam dauerhafte Unterstützung; allerdings realisierte sie gleichzeitig Tourismusprojekte wie die „strada intervalliva“ (Asphaltierung alter Militärstraßen bis in die Alm- und Gipfelregionen und ihre Öffnung für den privaten Ausflugsverkehr), die die GTA direkt stören und entwerten, so daß von einer Einbeziehung in einen größeren Zusammenhang eigentlich keine Rede sein kann. Am negativsten ist die Behandlung der GTA durch die Regionsregierung Piemont; sie stellt zwar gelegentlich Geldmittel bereit, doch wurde die GTA in der piemontesischen Tourismuswerbung in allen 15 Jahren nicht erwähnt. Auch sind keinerlei Anstrengungen unternommen worden, die vier betroffenen Provinzen zu einem gemeinsamen Handeln zu motivieren oder die Arbeit der Associazione GTA zu überprüfen.

Bezogen sich die bisherigen Ausführungen auf die AnbieterInnen, so zielt der nächste Punkt auf die Seite der NachfragerInnen, also die WanderInnen. Zu einem umweltverträglichen Tourismus gehört nicht nur ein entsprechendes Angebot, sondern auch der Urlaub selbst darf kein austauschbares Konsumgut sein. Erst wenn die körperliche und geistige Regeneration und das Interesse am Kennenlernen neuer „Welten“ (als zwei legitime Urlaubsgrundbedürfnisse) mit einem bewußten Erleben von Natur verbunden werden, kann man von einer wirklichen Umweltverträglichkeit sprechen. Das Wanderkonzept der GTA bietet dafür ideale Voraussetzungen. Es ist zwar schwer zu überprüfen, inwieweit der Aufbau eines umweltverträglichen Tourismus mit dem Ziel der Umweltbildung auch tatsächlich erfolgt ist, aber es gab in all den Jahren viele Briefe von WanderInnen, die berichten, wie sie auf der GTA „sehen“ gelernt und damit ein weiteres, vertieftes Umweltverständnis erhalten haben, was für den Erfolg der GTA-Konzeption spricht.

Doch treffen auf der GTA zwei verschiedene Welten aufeinander, weshalb erhebliche Konfliktpotentiale vorhanden sind. Schon die italienischen GTA-Führer brachten gezielt Hinweise zum richtigen Verhalten im Gebirge, denn die italienischen StädterInnen verhalten sich als Ausflügler sehr oft „kolonialistisch“ (Parken des PKW mitten in der Wiese, Blumenpflücken aus privaten Gärten, überhebliches Verhalten gegenüber Einheimischen etc.). Mit dem Rückgang an italienischen und der Zunahme an deutschsprachigen WanderInnenn, die sich in der ihnen fremden Region verhältnismäßig zurückhaltend verhalten, wurden derartige Probleme seltener (Ausnahme: kommerziell geführte Gruppen), was wiederum für die soziale Verträglichkeit des GTA-Tourismus spricht. Insgesamt läßt sich also feststellen, daß die vorbildliche GTA-Konzeption heute an der Basis in der beabsichtigten Weise funktioniert, daß die übrigen Ebenen jedoch gar nicht bzw. nur in Ausnahmefällen funktionieren. Eine Situation, die für viele italienische Projekte typisch ist.

Naturschutz durch Naturgenuß

Im dichtbesiedelten Europa, wo es schon seit Jahrhunderten keine wirklichen Naturlandschaften mehr gibt, ist der Gegenstand des Naturschutzes nicht „die Natur“, sondern menschlich veränderte Natur, die „Kulturlandschaft“. Und in den strukturschwachen Regionen, in denen moderne Intensivnutzungen fehlen, ist die Hauptaufgabe des Naturschutzes weniger die Verhinderung von Naturzerstörung durch neue Nutzungen als vielmehr das Engagement für die Erhaltung der traditionellen Kulturlandschaften, deren ökologische und landschaftliche Vielfalt durch Nutzungseinstellung und Verwilderung gefährdet ist (vgl. CIPRA, 1992). Der so verstandene Naturschutz benötigt ein sehr breites Instrumentarium, das über jenes des klassischen Naturschutzes weit hinausgeht und bei dem die Stärkung der endogenen Wirtschaftspotentiale und der Aufbau von regionalwirtschaftlichen Vernetzungen in umwelt- und sozialverträglichen Formen eine große Bedeutung besitzt. Das GTA- Projekt ist dafür ein wichtiger Baustein, weil es sozial- und umweltverträglich strukturiert ist, wichtige regionalwirtschaftliche Verflechtungen ermöglicht und die endogenen Wirtschaftspotentiale der Region stärkt. Erst diese drei Punkte in ihrer Gesamtheit - und nicht nur die konkrete umweltverträgliche Ausgestaltung im einzelnen - machen dieses Projekt zu einem exemplarischen Ökotourismusprojekt. Der Tourismus stärkt hier vermittels höherer Wertschöpfung direkt das nachhaltige Wirtschaften in der Region und damit indirekt den Naturschutz. Indem Einheimische bessere Lebensperspektiven erhalten, sinkt die Akzeptanz von exogen initiierten Groß- und Spekulationsprojekten, womit indirekt Naturzerstörung verhindert wird. Die klassische Gefahr solcher Ökotourismusprojekte, nämlich zu große Menschenmengen in attraktive, aber sensible Naturräume zu holen, wird bei der GTA vermieden, denn das Projekt konzentriert sich nicht auf die relativ kleinen Naturschutzgebiete, sondern führt durch den gesamten Südwestalpenraum (Dezentralisierungseffekt). Die Übernachtungen finden im Dauersiedlungsraum, nicht in der sensiblen Almregion statt, und die Wegführung erfolgt auf den traditionellen befestigten Weganlagen (Konzentration und Kanalisierung der touristischen Nutzung auf ökologisch weniger empfindliche Teilbereiche). Schließlich üben die körperlichen Anforderungen (Bergwanderung mit erheblichen Höhenunterschieden) und die fehlenden „Sehenswürdigkeiten“ („sehenswert ist, daß es keine Sehenswürdigkeiten gibt“ und „man sieht nur, was man weiß“) eine starke Filterfunktion aus, die große Massen von BesucherInnen fernhält - und zwar ohne Verbote, sondern lediglich durch die spezifische Angebotsgestaltung!

Zu einem Ökotourismusprojekt gehört aber nicht bloß die Angebots-, sondern auch die Nachfrageseite. Die Erfahrungen auf der GTA haben gezeigt, daß es auch sozial- und umweltunverträgliche Nutzungen von sozial- und umweltverträglichen Strukturen gibt. Um ein angemessenes Verhalten der Nachfrager zu erreichen, steht bei der GTA die persönliche, unmittelbare Naturerfahrung im Zentrum. Dies führt dazu, daß die WanderInnen fast unmerklich dazu motiviert werden, sich mit Natur, ihrem Naturbild und mit den ablaufenden Naturveränderungen in der durchwanderten Landschaft auseinanderzusetzen und nicht durch aufgesetzte Didaktik-Programme dazu angehalten werden. Durch die GTA wird den meist aus Städten kommenden WanderInnen eine Naturerfahrung vermittelt, bei der Natur als Kulturlandschaft und die Verwilderung einer Landschaft durch den Rückzug der Menschen nicht als Idylle erscheint. Mit dieser Naturwahrnehmung werden tendenziell falsche, romantisierende („städtische“) Naturbilder zerstört, die für den Naturschutz in Industriestaaten große Blockaden darstellen. Die GTA kann auf diese Weise über den Urlaub hinaus indirekt Impulse für einen besseren Naturschutz in den Ballungsräumen vermitteln.


Wir danken der Zeitschrift „Der Weitwanderer“ (Oldenburg) für die Genehmigung des Nachdrucks dieses Artikels (in leicht gekürzter Form). Eine stärker gekürzte Fassung wird in Buchform im Herbst 1996 erscheinen in : ELLENBERG, L. (Hrsg.): Ökotourismus - der schmale Pfad zum Naturschutz durch Naturgenuß. Heidelberg. Die Ausführungen stützen sich auf eine 15-jährige Vertrautheit und ein fast ebenso langes praktisches Engagement für dieses Projekt, das zwischendurch immer wieder wissenschaftlich reflektiert wurde (BÄTZING, 1988 und 1991) und das in diesem Text bilanziert wird.


Literatur:
BÄTZING, W. (1988): Die unbewältigte Gegenwart als Zerfall einer traditionsträchtigen Alpenregion. Geographica Bernensia P 17. Bern. BÄTZING, W. (1991): Welche Zukunft für strukturschwache, nicht-touristische Alpentäler? Geographica Bernensia P 21. Bern. BÄTZING, W. et al (1993): Der sozio-ökonomische Strukturwandel des Alpenraumes im 20. Jahrhundert. Geographica Bernensia P 26. Bern. CIPRA (1992): Die Erhaltung der bäuerlichen Kulturlandschaft in den Alpen. CIPRA- Schriften 9. Basel. PERLIK, M. (1993): Das Projekt des Weitwanderweges GTA im italienischen Alpenraum als Modellfall für umweltangepaßten Tourismus und raumplanerische Hilfen. In: PILLMANN, W., WOLZT, A. (Hrsg.): Umweltschutz im Tourismus - Vom Umdenken zum Umsetzen. S. 137-144. Wien.

Bestelladresse für GTA-Führer: Archiv für Langstreckenwandern e.V., Oeckerstr. 23, D-26121 Oldenburg. Dort sind auch die jeweils aktuellen Unterkunftslisten gegen Unkostenbeitrag erhältlich.

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