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Kanzelpredigt, Flaschenpost?
Spectrum

Wie verschafft man dem interessierten Laien Zugang zur zeitgenössischen Architektur? Durch ein Unterrichtsfach „Architektur“? Ein gutgemeinter Vorschlag - aber wie viele Menschen haben infolge des Unterrichts Zugang zur Literatur gefunden?

18. April 1998 - Walter Zschokke
Verstanden zu werden durch das Medium ihrer Arbeiten ist Kunstschaffenden wie Architekten ein nicht unwesentliches Bedürfnis. Dem Wunsch nach allgemeiner inhaltlicher Anerkennung steht aber der in diesem Jahrhundert wie nie zuvor verbreitete Zwang zur Innovation entgegen. Das Dilemma, in dem sich der Suchende befindet, wird von Hermann Czech in kurzen Sätzen entfaltet: „Um verstanden zu werden, kann man entweder etwas Neues in einer bekannten Sprache oder etwas Bekanntes in einer neuen Sprache vorbringen. Etwas Neues in einer neuen Sprache wird dagegen das Publikum überfordern.“

Die Ungleichzeitigkeit eines Verstehens, das durch publizierende Fachleute zwar vorexerziert, von den an Kunst und Kultur interessierten Zeitgenossen aber nur sehr teilweise nachvollzogen wird, bildet ein altes Problem. Wenn nun eine die Misere des Unverstandenseins beklagende Runde Fachleute an diesem Punkt angelangt ist, folgt fast zwingend die Forderung, man solle in der Schule mehr für dieses Verstehen tun, also in unserem Fall ein Fach „Architektur“ in den Lehrplan zumindest der Gymnasien aufnehmen.

Am Ende des 20. Jahrhunderts ist die Schule zu einem Lasttier geworden, dem alles mögliche und unmögliche aufgepackt wird. In diesem Zusammenhang sei die Frage erlaubt, wie viele Menschen als direkte Folge des Unterrichts einen genußfähigen Zugang zur Literatur gefunden haben. Mir scheint, der gesellschaftliche Fortschritt einer im 19. Jahrhundert eingeführten allgemeinen Schulpflicht droht uns wegen Überfrachtung des Vehikels im Gewebe individuellen und kollektiven Wohlmeinens zu zerrinnen.

Es stellt sich weiters die Frage nach einer sinnvollen Packung der Inhalte, nach den geeigneten Lehrkräften und nach den Lehrmitteln. Architekturpublikationen gäbe es zuhauf, aber ob sie auch als Lehrmittel geeignet sind? Kürzlich sind mir dazu zwei Beispiele zugegangen. Das erste hat den Titel „Bauen, Wohnen, Gestalten. Ein Lehrbehelf ab der 5. Schulstufe“. Als Herausgeber zeichnet das Amt der NÖ Landesregierung, Baudirektion-Ortsbildpflege. Der Text wurde durch die Fachleute Johannes Zieser, Architekt, und Friedrich Fischer, Leiter der Ortsbildpflege, verfaßt.

Wie der Titel besagt, geht es den Autoren um eine Einführung ins heutige Baugeschehen, das in den vergangenen fünf Jahrzehnten wesentlich komplexer geworden ist. Fragen des Umweltschutzes, des Energiebedarfs - auch der „grauen“ Energie, die in den Baustoffen als Folge ihrer Herstellung bereits enthalten ist - werden behandelt. Auf die Komplexität der Zusammenhänge und auf Gefahren wird immer wieder hingewiesen.

Im Hinblick auf „Architektur“ nimmt das Buch in einem kurzen Kapitel eine Begriffsdefinition vor und unterscheidet die Baukunst vom alltäglichen Bauen. Der Text betont, daß Architektur eine öffentliche Kunst ist, woraus sich eine entsprechende Verantwortung auch der Bauherrschaft, ob öffentlich oder privat, ergibt. Der Zusammenhang mit der Kultur- und Politgeschichte und die daraus resultierende kontroversielle Stellung der Architektur leitet über zur Feststellung, daß eine Gesellschaft sich in ihren Bauten ein Spiegelbild schafft; wie auch in ihren älteren Baudenkmälern, die sie schützt und pflegt.

Alltags- und praxisbezogen, verzichtet das Lehrmittel auf weitere Vertiefungen zur Architektur, dafür wird in das Thema der schwachen Wechselwirkungen eingeführt, oft auch als feinstoffliche Kräfte oder geomantische Phänomene bezeichnet. Wem die aktuelle Konjunktur des Feng Shui, der chinesischen Metaphysik, eher chinesisch vorkommt - zweitägiges Intensivseminar im Architekturforum Zürich für 380 Franken (3230 Schilling, 232 Euro) - , der sei daran erinnert, daß die europäische Tradition der Muter und Rutengänger von einer Erfahrungszeit von zehn und mehr Jahren ausgeht - so lange, wie ein zügig durchlaufenes Architekturstudium mit anschließender Praxis mindestens dauert.

Das zweite Unterrichtsmittel, das auf meinen Schreibtisch gelangte, kommt aus Deutschland. Herausgegeben wurde es von der Wüstenrotstiftung und der Akademie der Architektenkammer Hessen. Der Frankfurter Architekturpublizist Manuel Cuadra hat es verfaßt, unterstützt vom Pädagogen Wilhelm Adam.

Der Titel, „Planen und Bauen. Meine Schule - Ein Werkstattbuch mit Anregungen und Anleitungen für baulustige Schülerinnen und Schüler“, verweist auf die praktische Seite des Bauens.

In den Ausführungen kommen diese Aspekte ausführlich zur Sprache. Sicherheitsfragen werden jeweils besonders betont. Als Beispiele dienen sieben Schulgebäude aus diesem Jahrhundert in verschiedenen deutschen Städten zwischen Hamburg und München. Das Konzept sieht aber vor, von den eigenen Schulgebäuden auszugehen. Cuadra fordert die Schüler auf, sich mit ihrer Schule und deren Umgebung zu befassen.

Da das Ziel im Vordergrund steht, die Schüler in irgendeiner Weise zu baulichen Aktivitäten zu motivieren, geht es bei dieser Betrachtung der Schule zuerst einmal um Kritik im Sinn einer Suche nach Mängeln. Damit wird der Ansatz, was an den Schulgebäuden Architektur sein könnte, erst einmal hinausgeschoben. Er wird im Schlußdrittel durch ansprechende kleine Monographien der sieben Schulhäuser nachgeholt.

Das Problem der eng begrenzten praktischen Möglichkeiten, wie es sich im Kontext eines Schulgebäudes baulustigen Schülerinnen und Schülern entgegenstellt, läßt eigentlich nur Applikationen zu, die für das Architekturverständnis kaum relevant sind. Im ungünstigsten Fall handelt es sich bei einem Verbesserungsvorschlag um Ordnungsmaßnahmen vor der Verkaufsstelle für Pausenverpflegung, im harmloseren Fall wird das Mißverständnis gegenüber der Kunst am Bau perpetuiert: Wenn man nicht weiß, wozu eine Rauminstallation aus bunten Kunststoffrohren nütze sein könnte, muß es sich wohl um Kunst handeln.

Doch davon abgesehen, werden zahlreiche Anregungen geboten und konstruktive Prinzipien erläutert. Am stärksten ist das Lehrmittel in den abschließenden Monographien, die für jede der sieben Schulen aus heutiger Sicht Verständnis zu erwecken vermögen.

Was ich bei beiden Lehrmitteln vermisse, ist der Aspekt einer genießenden Anschauung von Architektur, wie sie beispielsweise hinter Le Corbusiers Satz steht, Architektur sei „le jeu savant, magnifique et correcte des volumes assemblés sous la lumière“, das wissende, großartige und ordnende Spiel der unter dem Licht versammelten Körper. Wie kommt man als interessierter Laie dazu, dieses manische Arbeiten von Architekten nachvollziehen zu können, um Raum und plastische Form zu genießen - ohne sich zehn Jahre lang zum Architekten auszubilden?

Mein erster Architekturlehrer, Bernhard Hoesli, definierte Architektur als Zusammenwirken von Raum, Konstruktion, Material und (plastischer) Form und machte dies durch ein Tetraeder anschaulich, dessen Eckpunkte mit diesen Begriffen besetzt waren. Die Aufgabe des Architekten, die ihm niemand abnehmen kann, wäre demnach die projektive Zusammenschau all dieser (und weiterer) Faktoren zu einem wie auch immer gearteten emotional oder intellektuell festgelegten Konzept, das dem späteren Bauwerk eingeschrieben bleibt.

Den vorbedachten und den im nachhinein zustandegekommenen Wirkungen all dieser das Bauwerk ausmachenden Komponenten nachzuspüren wäre jedenfalls eine Möglichkeit des Genießens; ob diese nun in stiller Anschauung im Objekt, beim Durchwandern des Bauwerks oder nach dem Studium zusätzlicher Unterlagen realisiert wird, ist unerheblich.

Bei allem Verständnis für die Architekturvermittlungsbemühungen durch Kritiker und Lehrpersonen - die eigenen eingeschlossen - sehe ich darin keine ausreichende Wirkung. Denn das eigentliche Medium der Architekten bleibt das Bauwerk im Original. Damit ist zu sprechen, sei dies in der Art einer Kanzelpredigt oder einer Flaschenpost. Das kann auch ein eloquenter und wortgewandter Vermittler nicht ersetzen. Die direkte Erfahrung ist unverzichtbar, darum ist das Bemühen, Architektur als theoretisches Unterrichtsfach einzuführen, zwar verdienstvoll, aber es trifft nicht den Kern der Sache.

Nicht Architektur in die Schule zu bringen, sondern Schule in Architektur abzuhalten muß daher das Ziel heißen. Jeder Kindergarten, jede Volksschule, jede Hauptschule, jedes Gymnasium, die Höhere Technische Lehranstalt und alle Hochschul- oder Universitätsgebäude sind nach bestem Wissen und Gewissen unserer Zeit mit architektonischem Anspruch zu errichten oder, wenn es ansteht, zu erneuern. Diese Verantwortung kann keiner Gemeinde, nicht den Ländern und auch nicht dem Bund abgenommen werden.

Daraus entstehen keine Mehrkosten, außer jenen, die für eine demokratisch korrekte Auswahl des besten Entwurfs anfallen. Qualifizierte Fachleute stehen ausreichend zur Verfügung.

Dafür kann man sich ein zusätzliches Unterrichtsfach „Architektur“ - mit absehbar geringfügigen positiven Auswirkungen - sparen.

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