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Schlankheit aus Kalkül
Schlankheit aus Kalkül, Foto: Erhard Kargel
Schlankheit aus Kalkül, Plan: Erhard Kargel
Spectrum

Die neue Umfahrung von Großmotten im Waldviertel quert das Gernitzbachtal auf drei schlanken Baumstützen aus Stahlbeton. Der Bauingenieur Erhard Kargel aus Linz hat die elegante Brücke im Zuge der Bundesstraße B 37 entworfen und berechnet.

20. Juni 1998 - Walter Zschokke
Nachdem durch das gesamte 19. Jahrhundert dem ununterbrochen innovativen Ingenieurbau die ästhetische Anerkennung verweigert worden war - insbesondere die Fachwerke aus Stahl wurden als „Gesträhn“ ohne Chance auf monumentale Wirkung abgetan - , fanden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts erste Stimmen, die eine Ingenieurästhetik formulierten.

Darunter ist für den deutschsprachigen Kulturraum Hermann Muthesius (1861 bis 1927) zu nennen, der in seinem Vortrag „Die Einheit der Architektur“ (1908) folgende Gedanken aussprach: „Ebendiese knappste Ausdrucksform des konstruktiv Richtigen macht einen bestimmten Eindruck auf den empfänglichen Beschauer. Und derjenige Beschauer ist empfänglich, dessen statisches Gefühl entwickelt ist.“ Und zum Problem der fehlenden Masse und daher nicht möglichen Monumentalität entgegnete er: „Man wird sich an diesen Mangel an Körperlichkeit gewöhnt haben, und man wird gerade in dieser die Materie überwindenden Schlankheit und Durchsichtigkeit ein neues künstlerisches Moment erkennen.“

Der 1951 geborene Ingenieur und Architekt Santiago Calatrava antwortete 1983 auf die Frage nach den Freiheitsgraden des Ingenieurs: „Ist einmal das System (einer Hänge- oder Bogenbrücke und so weiter) gewählt, steigt man in den eigentlichen Entwurf dieses Objekts oder dieses Systems ein. In diesem Moment ist das Verfahren sehr subjektiv, aber immer im Sinne des konstruktiv richtigen Baus und strukturell richtigen Verhaltens. Die Mathematik als Rechenwissenschaft kommt später. Aber grundsätzlich gehören die persönliche Interpretation der konstruktiven Elemente und die Freiheit im Gebrauch der Technik zur Freiheit des Ingenieurs, wo er sich formal ausdrücken kann.“

Der Linzer Bauingenieur Erhard Kargel hat diesen Freiraum mit einem Entwurf ausgelotet, den er als Alternative zum Amtsprojekt bei der öffentlichen Ausschreibung zur Ausführung einreichte. Die Brückenstelle liegt im Waldviertel und dient der Umfahrung von Großmotten, einem Dorf kurz vor Rastenfeld am Weg von Krems nach Zwettl. Die 161 Meter lange Stahlbetonbrücke ist auf drei Pfeiler abgestützt, die sich baumartig in vier Streben verzweigen. Daraus ergeben sich für die Brückenfahrbahn geringere Stützweiten von nur jeweils 24 Metern, was die Ausbildung einer dünneren Fahrbahnplatte auf zwei Plattenbalken erlaubte. Insgesamt gewinnt das Brückenbauwerk damit in der Ansicht große Leichtigkeit, ja man möchte fast sagen Schnelligkeit, denn die Fahrbahn scheint recht eigentlich über das Tal der Gernitz dahinzupfeifen.

An sich ist eine Brücke nicht sehr stark raumbildend, auch wenn man bei Regen unter dem Dach der breiten Fahrbahn einigermaßen trocken bleiben mag. Vielmehr durchschneidet oder durchstößt sie den Raum über einem Fluß oder in einem Tal.

In unserem Fall setzt sie oben an den Talflanken an und tangiert als Hochbrücke den Talraum im oberen Bereich. Die kaum in Erscheinung tretenden seitlichen Auflager überlassen das Primat der Fahrbahn, die dem kontinuierlichen Band der Straße untergeordnet ist. Die schräg verlaufenden Streben interpretieren nicht so sehr ein „Tragen und Lasten“, wie dies bei den verbreiteten Balkenbrücken auf vertikalen Pfeilern der Fall ist. - Diese Formulierung hat Jakob Burckhardt für den griechischen Tempel geprägt, wo der Architrav auf der Säule lastet.

Die Gernitztalbrücke von Erhard Kargel gehorcht eher dem Prinzip Spannung und Bewegung: „Spannung“ wegen der schlanken, schrägen Streben; „Bewegung“ wegen der dünnen und schnell wirkenden Fahrbahnplatte, deren Plattenbalken im Schatten verschwinden, was sie noch zarter erscheinen läßt.

Aber nicht nur im Erscheinungsbild sind diese Begriffe latent vorhanden. Natürlich finden sich in jedem Bauwerk Spannungen. Ein besonderes Problem stellen dabei aber jene Zwängspannungen dar, die durch kleine Längenänderungen infolge Temperaturschwankungen oder durch das anfängliche Schwinden des Betons entstehen.

Da die Streben sowohl bei der Verzweigung als auch im Plattenbalken der Fahrbahn biegesteif eingespannt sind, entsteht eine Art Rahmenwerk, das bei den riesigen Dimensionen nicht mehr steif bleibt wie ein Fachwerk.

Die schlanken Dimensionen von Streben und Fahrbahn lassen sich etwas leichter verformen als riesige Pfeiler und Kastenträger. Damit folgt das Tragwerk in einem geringfügigen - zulässigen - Maß den Bewegungen, die sich aus den genannten Längenänderungen ergeben. Die schlanke Konstruktion stemmt sich nicht dagegen, sondern nimmt die leichten Bewegungen auf, ohne jedoch die Hauptaufgabe zu vernachlässigen, schwere fahrende Lasten (bis zu 200 Tonnen in Alleinfahrt!) mühelos zu tragen.

Als Laie glaubt man kaum, daß sich Stahlbeton elastisch verformen könne. Bei Längen von zwei und mehr Dutzend Metern spielt sich das bereits im Bereich von Zentimetern ab. Ob dies nun unter fahrender Last oder bei Temperaturwechsel eintritt, ist unerheblich; jedenfalls greift man nicht zu kurz, wenn man in Hinsicht darauf feststellt, daß die Brücke „lebt“.

Die Schlankheit der Teile war daher nicht von modischen Erwägungen bestimmt, sondern von Überlegungen, die vom Tragverhalten ausgingen. Dennoch war es dem Bauingenieur Erhard Kargel wichtig, wie die Brücke in der Ansicht aussieht und wie sie in der Landschaft steht, hatte er doch sein Gefühl für entsprechende ästhetische Ansprüche bereits an der Bogenbrücke „Fischgraben“ bei Bischofshofen bewiesen.

Seine erste Entwurfsskizze zeigt schon die wesentlichen Teile des Tragsystems und vor allem die Proportionen der einzelnen Teile und ihr Zusammenwirken in der Ansicht. Mit dieser Skizze haben wir einen Beleg, wie er von Ingenieurseite nur selten zu bekommen ist, da grundlegende Skizzen doch eher bei den Architekten als bei Ingenieuren aufbewahrt werden. Sie weist nach, daß ein Konzept für eine Brücke ebenso spontan aus dem Kopf des Ingenieurs aufs Papier gebracht werden kann. Die genaue Berechnung unter Berücksichtigung aller Lastfälle ist dann eine ausgedehnte Fleißarbeit.

Eine Brücke entwerfen ist eines, sie kostengünstig zu bauen verlangt noch einmal soviel Kreativität, denn, wie Christian Menn, der Altmeister des Stahlbetonbrückenbaus in der Schweiz zu sagen pflegt: „Eine genauere Rechnung ergibt keine billigere Brücke; nur das intelligente Konzept sichert günstige Kosten, und das erfordert Kreativität.“ Die drei mal vier V-förmig auseinanderstrebenden Stiele der Baumpfeiler wurden von der ausführenden Firma Mayreder in ihrem Fertigteilwerk in Sankt Valentin hergestellt und auf die Baustelle gefahren. Um Gewicht zu sparen, blieben sie vorerst hohl. Mit großen Kränen hochgehoben, punktgenau auf die Pfeilerstümpfe gesetzt, mit Theodoliten exakt ausgerichtet und mit Hilfsgliedern verspannt, wurden sie mit der Basis fest vergossen.

Wie konnten die 18 Meter langen, 20 Tonnen schweren Teile millimetergenau in ihre Position gebracht werden? Die Arbeit mit Computer und Vermessungsinstrumenten auf Laserbasis erlaubt heute eine Präzision, die vor 20 Jahren bloß ein Kopfschütteln der angesprochenen Bauleute hervorgerufen hätte. Das Zusammenspiel von vorgefertigten Elementen mit dem Ortsbeton ist ausgezeichnet; die Arbeitsfugen sind kaum zu erkennen, Helligkeitsunterschiede im Beton wurden vermieden.

Dem Autofahrer, der zügig über die Brücke fährt, bleibt ihr eleganter Unterbau verborgen. Eilig verschwindet man hinter der nächsten Kurve und hat kaum bemerkt, daß man sich auf einer Brücke befand. Aber für den geruhsamen Wanderer und vor allem für die Bewohner des nahen Dorfes, die viele Jahrzehnte mit der Brücke leben werden, spielt die Qualität von deren Erscheinungsbild eine Hauptrolle. Dafür hat Bauingenieur Erhard Kargel mit feinem Gespür gesorgt.

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