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Zum Gebrauch der Menschen
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Der rechte Winkel war ihm nicht heilig und Stahlbeton nur ein Baustoff von vielen. Seine Arbeiten weisen ihn als Vertreter der Moderne aus, der sich aber ihren Dogmen nicht unterwarf: der finnische Architekt Alvar Aalto, 1898 bis 1976 - ein Porträt.

11. Juli 1998 - Walter Zschokke
Sein runder Geburtstag wird heuer gefeiert; mehrere Publikationen über sein Schaffen werden herausgegeben, und sein Wert als finnischer Kulturexport steigt und steigt.

Das Beispiel des Architekten Alvar Aalto (1898 bis 1976) zeigt, wie wichtig die Werke eines engagierten Entwerfers für das kulturelle Selbstverständnis eines Landes werden können. Natürlich ziert sein Bildnis mittlerweile auch eine finnische Banknote. Zahlreichen Fachleuten sind seine Bauten Vorbilder und Lernobjekte. Seine Möbelentwürfe aus den zwanziger und dreißiger Jahren werden heute als Klassiker in der ganzen Welt verkauft.

Wer war der Architekt Alvar Aalto, und wie wurde die Basis für seine Entwicklung gelegt? Sein eigenes Architekturbüro eröffnete Aalto schon 1922 - mit 24 Jahren. Als er 1928 mit Vertretern der westeuropäischen Moderne in Kontakt kam, hatte er bereits eine beachtliche Werkliste aufzuweisen. Dennoch beeindruckten ihn die Arbeiten der Holländer, allen voran jene des feinsinnigen Johannes Duiker, etwa das Sanatorium Zonnestrahl, das ihm Anstoß für sein eigenes Schaffen mit Stahlbeton wurde. Das in dieser Zeit für den Wettbewerb entworfene Sanatorium Paimio reflektiert mit seiner klug verarbeiteten Neuen Sachlichkeit diese Begegnung.

Die geographische Nähe zu den russischen Konstruktivisten machte sich ebenfalls bemerkbar, am ehesten sind Verwandtschaften zu Nikolai A. Ladowski und der Gruppe Asnowa festzustellen. Doch ging es Aalto nicht um ein Kopieren von Äußerlichkeiten. So wie er vorher mit seinem Schaffen den Klassizismus von Gunnar Asplund rezipierte, prüfte er nun die funktionalistische Formensprache in seiner eigenen Weise auf ihre Tauglichkeit. Dies machte ihn für Sigfried Giedion, den wichtigsten Propagandisten der Moderne, ebenso interessant wie für Henry-Russel Hitchcock und den jungen Philip Johnson, die seine Zeitungsdruckerei in Turku 1932 in ihre berühmt gewordene Ausstellung „Der Internationale Stil“ aufnahmen.

Aber Aalto entwand sich mit seinen weiteren Arbeiten einem Stildiktat, wie es etwa von Walter Gropius, seinen Schülern und Mitstreitern vertreten wurde. Der rechte Winkel war ihm nicht heilig und Stahlbeton nur ein Baustoff von mehreren. Vor allem das in Finnland reichlich vorhandene Holz diente ihm als ausdrucksstarkes und formbares Material - vom Möbel bis zur raumbestimmenden Wand oder Decke. Dabei ging er immer wieder vom direkten Gebrauch der Menschen aus. Daher sind seine Möbel angenehm zum Angreifen, seine Räume entspannt zu durchschreiten.

In den frühen dreißiger Jahren überarbeitete Aalto den ursprünglich neuklassizistisch gehaltenen, erstprämierten Wettbewerbsentwurf für die städtische Bibliothek von Viipuri damals finnisch, nach dem Winterkrieg von 1939 und bis heute eine Stadt in Rußland. Obwohl die beiden gegeneinander versetzten Baukörper in der Formensprache des Internationalen Stils gehalten sind, gibt es im Inneren mehrere Stellen, wo Aalto die Orthogonalität aufhebt und mit leichten Schrägen einer aufkommenden Symmetrie die nötige Irritation versetzt oder, wie im berühmten Vortragssaal, den kistenartigen Raumcharakter verläßt: Die holzverschalte Stirnwand steigt schräg nach vor geneigt an, um in die gewellte Decke überzugehen, deren Formfindung akustischen Überlegungen gehorcht.

Nach dem Krieg stand das Gebäude zehn Jahre leer, doch ist es heute wieder als Bibliothek in Betrieb. Eine erste Renovierung fand in den frühen sechziger Jahren statt. Zur Zeit bemühen sich Architekten aus Finnland und Rußland, unterstützt von einem internationalen Hilfskomitee, um eine sorgfältige Erhaltung.

An diesem Bauwerk hatte Aalto manches ausprobiert, was bei seinen späteren Entwürfen immer wieder zur Anwendung gelangte. Es kamen darin auch seine Möbelentwürfe aus gebogenem Birkenholz in differenzierter Modellpalette zum Einsatz.

Aber die Bibliothek von Viipuri ist nicht nur im Schaffen Aaltos von grundlegender Bedeutung, sondern sie gilt den Vertretern einer lebendigen, nichtdogmatischen Entwicklung der Moderne bis heute als Ikone, von der man lange nicht wußte, ob sie real überhaupt noch existierte.

Während Aalto die modernen Bauformen, die mit ihrer blendenden Reinheit und der geraden Linienführung einer Ästhetik scheinbar industriell gefertigter Produkte huldigten, viel ausgeprägter als andere auf ihre benutzerfreundliche Zweckmäßigkeit hin untersucht hatte, zeigte er bei seinen weiteren Arbeiten keine Scheu vor freien Formen. Eine Vertikalschalung aus geraden Leisten oder Brettern läßt sich um gerundete Formen herumziehen.

Was er bei Pavillongestaltungen in den dreißiger Jahren für die Weltausstellungen in Paris 1937 und New York 1939 für die zahlreichen Besucher demonstriert hatte: Holz als zeitgenössischer Baustoff angewendet - ohne den heimattümelnden Beigeschmack, dem es damals gern unterworfen wurde, setzte er in der Villa Mairea in Noormarkku 1938/39 um.

Außen kombinierte er holzverschalte Volumen mit weiß verputzen Teilen des Hauses. Im Inneren verwendete er vertikal angeordnete Rundhölzer in unregelmäßiger Folge als Raumfilter; das Verweigern eines Rasters mit dem Bezug zu lockeren Baumgruppen in den finnischen Wäldern erklärend. Fast immer versuchte Aalto das Raumprogramm so zu gliedern, daß zwei oder mehr Körper einen hofartigen Bereich definieren. Damit bezog er den Umraum ein und begann einen Dialog mit natürlichen Elementen der Umgebung. Das konnten Felsformationen sein, alte Bäume oder ganz einfach das Gras einer Wiese. Aalto selber schrieb dazu: „Eines der schwierigsten architektonischen Probleme besteht darin, das den Bau umgebende Gelände in menschlichem Maßstab zu gestalten. In der modernen Architektur, wo der Rationalismus des Skelettbaues und der Baukörper an sich zu dominieren drohen, entsteht oft in den Überbleibseln des Geländes ein architektonisches Vakuum. Es wäre gut, wenn man, anstatt dieses Vakuum mit dekorativen Gärten auszufüllen, die organische Bewegung des Menschen in die Gestaltung des Geländes mit einbeziehen würde.“

Bei der Grastreppe zum Rathaus von Säynätsolo (1949 bis 1952) wird dieses Naheverhältnis zu verwilderter Natur ausgeprägt thematisiert. Diese Wildheit steht bei Aalto immer wieder neben einer struktiven Ordnung. Er läßt ihr Raum, will nicht alles beistimmen, sondern bewegt sich in einem gleichberechtigten Dialog. Da es nicht inszenierte Wildheit ist, sondern alltägliches Wuchern, das von außen hineingreift, zeugt diese Haltung von ehrlicher Gespaltenheit des Architekten zwischen Gestaltungswille und intuitivem Geschehenlassen.

Mit Wien verbindet Alvar Aalto ein ex aequo errungener 1. Preis im 1953 ausgeschriebenen Wettbewerb für die Stadthalle. Der andere 1. Preis ging an Roland Rainer, der sein Projekt auch ausführte. Es zählt heute zu den wichtigsten Bauwerken der fünfziger Jahre in Wien.

Während die anderen Teilnehmer der Problematik der großen Dimension mehrheitlich nicht gewachsen waren, indem ihre Entwürfe linear vergrößerte Häuser vorschlugen, wählten sowohl Rainer als auch Aalto einen anderen Weg.

Beide entwarfen eine städtebaulich deutlich in Erscheinung tretende Großform, die nicht mehr an ein Haus im gewohnten Sinn erinnerte und die dennoch als Ganzes wirkte. Damit trugen sie der städtebaulichen Problematik Rechnung und gaben auch auf die architektonische Erfordernis nach einer anderen Maßstäblichkeit die richtige Antwort.

In seinem Konzept schlug Aalto eine Halle mit gebirgsähnlichem Charakter vor, bei der das Dach von Kabeln getragen worden wäre, die wie bei einer Hängebrücke auf Pylonen auflagerten. Unter der auf diese Weise erzeugten mächtigen Hülle versammelten sich die große sowie weitere kleine Hallen. Das geforderte Hallenbad legte er separat an die Zugangsseite. Zusammen mit den winkelförmig angeordneten Foyerflügeln bildet sein Volumen einen weiträumigen Eingangshof, der als Übergangsraum von der Vogelweidstraße zu den Foyers dient.

An dieser und an zahlreichen anderen Aufgaben erwies sich Aalto als Städtebauer von großem Format. Damit zählt er zu jenen wenigen Architekten, die auf allen Maßstabsebenen, vom Möbel über Einfamilienhäuser, Kirchen, Museen sowie Opern- und Theaterhäuser bis zum Stadtteil, Bleibendes zu schaffen wußten.

Ein Blick auf seine Wohnbauten zeigt ein von Sorgfalt und Menschenfreundschaft geprägtes Bild. Seine Grundrisse sind klug organisiert und bieten den Bewohnern Nutzungsalternativen an. Obwohl er die inneren Erschließungsflächen zu minimieren suchte, gelang es ihm dennoch, daraus eigentliche Räume zu gestalten, sodaß vor jeder Wohnungstür ein ausreichender Vorbereich entstand. Licht- und trostlose Innengänge hat er konsequent vermieden.

Alvar Aaltos Einfluß auf die europäische Architektur der fünfziger und sechziger Jahre ist beachtlich. Mancher Architekt, der heute zwischen 70 und 80 Jahre zählt, hat in seiner Werkliste Bauten, die zeigen, daß ihr Entwerfer von Aalto gelernt hat. Die neuerliche Beschäftigung mit seinem Werk ist auch für jüngere Architekten gewinnbringend. Besonders denke ich da an jene, deren Vorstellungen vor lauter Schroffheit nicht zu den Menschen finden.

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