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Brückenhäuser mit Landschaft
Brückenhäuser mit Landschaft, Foto: Walter Zschokke
Spectrum

Ersatz durch Stahlbeton, Konservierung oder hochwertige Erneuerung: noch ist nicht entschieden, was mit den mehr als 100 Jahre alten Stahlgitterbrücken der Kamptalbahn geschehen wird. Ein Aufruf zu kulturpolitischer Verantwortung.

15. August 1998 - Walter Zschokke
Seit Roseggers Bedenken gegen den Eisenbahnbau sind mehr als hundert Jahre vergangen. Den heute lebenden Menschen sind die Brücken und Hochbauten der Bahnlinien vertraut. Sie sind Teil der durch die Aktivitäten der Menschen geformten Kulturlandschaft geworden.

Ein besonderer Landschaftsraum dieser Art mit hoher Erlebnisdichte ist das Kamptal zwischen Zöbing und Rosenburg. Geologische Formen der fluvialen Erosion begleiten den mäandrierenden Verlauf des Tals, und die menschliche Kultur hat sich über die Jahrhunderte in mannigfaltiger Weise ausgedrückt: kleine Dörfer, Handwerksbetriebe, herrschaftliche Burgen und Schloßanlagen, Industriebauten sowie die Zeugen einer frühen Sommerfrischelandschaft, deren Lebensquell der Kamp und die attraktive, teils epische, teils wildromantische Landschaft waren, zu deren Lebensader jedoch die 1889 gebaute Kamptalbahn wurde, die heute von der Straße stark konkurrenziert wird.

Entlang der Bahnstrecke liegen fünf Stahlfachwerkbrücken, die, den Kamp querend, beachtliche Ausmaße haben, weshalb sie nicht hinter Häusern, Bäumen und Buschwerk verschwinden, sondern als unübersehbare Markierungen in der Landschaft präsent sind.

Diese Brücken stehen für die zuständigen ÖBB-Stellen nun offenbar am Ende ihrer Nutzungsdauer, zumindest zwei sollen abgebrochen und durch Neubauten aus Stahlbeton ersetzt werden. Dies zu einem Zeitpunkt, da an der niederösterreichischen Eisenstraße bei Ybbsitz neue Brücken und Stege aus Stahlfachwerk errichtet werden, die zur touristischen Infrastruktur zählen und zum Teil als Kunstwerke gefördert werden.

Es hat lange gedauert, bis Stahlfachwerkbrücken als attraktive oder gar schöne Bauwerke in die allgemeinen Sehgewohnheiten integriert wurden. In unser elelektronischen Epoche mit ihrem riesigen Anteil latenter Virtualität können diese originalen Zeugen aus dem mechanisch dominierten Industriezeitalter allein durch ihre Präsenz dem staunenden Betrachter manches erzählen, was heute von vielen verstanden wird, weil das dahinterstehende grundsätzliche technische Wissen Allgemeingut geworden ist.

Der im Kamptal verwendete Brückentyp ist ein Gitterkastenträger mit bogenförmigem Obergurt, was zur Folge hat, daß die Kräfte in diesem Polygonzug aus druckbelasteten Fachwerkstäben ungefähr gleich sind. Entsprechend kann die obere Begrenzungslinie der Silhouette auch visuell in gleicher Stärke durchlaufen. Der gerade Untergurt, in dem die Zugkräfte in den Stäben zur Mitte hin zunehmen, ist nicht dem Problem der Knickbelastung ausgesetzt, weshalb er schlanker ist. Er tritt optisch auch nicht gleichwertig in Erscheinung. Dagegen sind die vertikalen Druckpfosten und die Zugdiagonalen, die im Fachwerk die Querkräfte übernehmen, nach Maßgabe ihrer Belastung differenziert. Zur Mitte hin dünner, zu den beiden Auflagern hin kräftiger.

Die fünf Brücken sind ausgereifte Standardprodukte aus der großen Zeit der Stahlskelettbauweise, die nach einer kurzen, ideologisch bedingten Renaissance des Steinbrückenbaus zumeist von der Stahlbetonbauweise abgelöst wurde. Sie sind selten geworden, weil sie wegen der zunehmenden Lokomotivgewichte oft schon früh zu ersetzen waren. Da der Schienenoberbau innerhalb des Tragwerks verläuft, ergibt sich für den durchfahrenden Eisenbahnpassagier ein spezielles räumliches Erlebnis, das vielleicht nicht immer explizit analysiert, aber unbewußt wahrgenommen wird: Man sitzt im beidseitig befensterten Längsraum des Waggons, der seinerseits den von der Gitterstruktur aus dem Umraum herausgelösten Brückenraum durchfährt.

Zugleich liegt dieser bloß netzartig angedeutete Brückenraum quer über dem Flußraum, der von den beiden Ufern begrenzt wird. Diese ausgeprägte räumliche Überlagerung ist nur bei Brücken möglich, deren Tragwerk über der Fahrbahn liegt und die daher dem Benützer Anhaltspunkte über ihr Tragsystem liefern. Bei den meisten Holzbrücken war dies schon immer so, die nötige Einhausung als Schutz vor der Witterung –nicht für die Menschen, sondern für das Tragwerk – erzeugte im Brückenlängshaus ein klägliches Dämmerlicht, in dem man kaum etwas zu erkennen vermochte. Bei Stahlbetonbrücken sind Tragwerkselemente über der Fahrbahn die Ausnahme. Zum ästhetischen Genuß der „luftumspülten“ Eisenkonstruktionen finden wir erstmals bei Sigfried Giedion in den zwanziger Jahren eine längere Beschreibung. Seither ist ein Dreivierteljahrhundert vergangen, und das räumliche Erleben einer luftigen Stahlkonstruktion ist nach wie vor ein Genuß.

Die Besonderheit der Kamptalbrücken liegt nun darin, daß derselbe Brückentyp in immer anderer Umgebung immer wieder auftaucht. Unabsichtlich wurden so die fachgerecht angewendeten Normalien der Eisenbahnbauer zur Konstante, die der wechselnden Landschaftssituation das Gegenüber liefert. Dieses ästhetische Prinzip wird in der„Landart“ nicht selten verwendet, um in der Differenz zum jeweils gleichen Objekt den Blick auf die Landschaft zu öffnen und zu schärfen.

Somit müssen die fünf Brücken als Gesamtheit gesehen werden und können nicht einzeln ausgemustert werden. In ihrer Fünfzahl bilden sie eine großräumige landschaftliche Installation, der heute durch die geänderten Sehgewohnheiten künstlerische Qualität zugewachsen ist.

Die unterste, kurz vor Stiefern, befindet sich in einer Lage, wo das Tal relativ eng ist, Fluß, Straße und Bahn teilen sich den knappen Raum, erst auf kurze Distanz wird man des imposanten Fachwerks gewahr. Die nächste dagegen ist schon von weitem sichtbar, als einzelnes Bauwerk ragt sie in Schrägsicht aus dem landwirtschaftlich genutzten Umfeld heraus. Kurz darauf folgt die Brücke bei Plank, wo die Bahntrasse eine enge Kurve beschreibt, jene etwas weitere des Flusses abkürzend. Die Lage in der Biegung erlaubt auch dem Bahnpassagier den vorausschauenden Blick auf das Bauwerk, für den Benutzer der Straße ergibt sich eine attraktive Überecksicht; die räumliche Nähe zur kleinen Kirche mag früher irritiert haben, heute sehen wir darin ein interessantes Spannungsverhältnis zweier Landmarken.

Die vierte Brücke, kurz vor Buchberg, quert den Kamp unmittelbar nach einem Felsdurchstich, der den Blick zu beiden Seiten einschränkt, sodaß der Effekt der Öffnung über dem Flußraum umso stärker zur Wirkung kommt. In der Gegenrichtung ist es natürlich umgekehrt. Eine besondere Konstellation ist bei der fünften Brücke unterhalb der Rosenburg zu entdecken: Wenige Meter neben der Bahnbrücke setzt ein Fußgängersteg aus derselben Zeit und vom selben Brückentyp über den Kamp. Zwischen beiden Übergängen entsteht über die typologische und historische Verwandtschaft hinaus ein räumliches Spannungsverhältnis, das in dieser Form nicht oft vorkommt und selten so rein genossen werden kann. Der kurze Augenschein zeigt, wieviel kulturgeschichtliche, landschaftliche und ästhetische Bereicherung von den fünf Brücken ausgeht, weshalb man im Kamptal mit dieser Problematik vorsichtig umgehen sollte.

Die neuere Technikgeschichte als selbstverständlicher Teil der Menschheitsgeschichte ist noch nicht so lang breit anerkannt. Eine an Einzelpersönlichkeiten und „Heldentaten“ orientierte Wahrnehmung hat lange Jahre die strukturellen Aspekte und teils anonyme, teils von Ingenieurteams oder -firmen erbrachte Leistungen übersehen. Und selbst wenn einzelne Wissenschaftler ihre Erkenntnisse gesammelt haben, dauert es oft Jahrzehnte, bis dies zu den entsprechenden Stellen durchgesickert ist.

Noch immer wird im Zusammenhang mit der Bauingenieurkunst von ästhetisch bedeutungslosen „Zweckbauten“ gesprochen. Und auch zahlreichen Bauingenieuren geht offenbar das Flair für die Geschichte ihrer eigenen Disziplin ab. Dabei ist die einschlägige Literatur auch für jene, die mitten im praktischen Berufsleben stehen, durchaus noch zu überblicken. Die ÖBB als Sachwalterin der in Frage stehenden Brücken kann die kulturpolitische Verantwortung nicht abschieben. Daß die entscheidenden Stellen nicht bemerken konnten oder wollten, daß hier eine besondere Aufgabe vorliegt, stellt ihnen kein gutes Zeugnis aus. Wieder einmal scheint der Möglichkeitssinn schlecht entwickelt.

Nachdem die Brücken offensichtlich kaum gepflegt wurden, läßt sich leicht das Ende ihrer Nutzungsdauer dekretieren.

Doch was – wenn es wirklich so sein sollte – sich nicht mehr herrichten läßt und für die Bahn nicht mehr genügend tragfähig ist, könnte noch jahrzehntelang im Zuge einer Fuß- und Radwanderstrecke eingesetzt werden.In einer vielschichtigen und touristisch initiativen Kuturlandschaft wie dem Kamptal ist ein derartiger Ansatz zumindest zu diskutieren. Wie jedes Großunternehmen haben auch die ÖBB einen Kulturauftrag. Da dieser vornehmlich durch geistige Leistungen erfüllbar ist, zieht das gebetsmühlenartig vorgebrachte Kostenargument nicht.

Und sollten die fünf Brücken wirklich zu erneuern sein, sei daran erinnert, daß nur das Bessere Gutes ersetzen darf. Es gibt in Österreich mittlerweile eine Reihe Bauingenieure, die über ihre konstruktiven Fähigkeiten hinaus auch in gestalterischer Hinsicht wesentliche Beiträge zu leisten vermögen, eine Tatsache, die offenbar von Amtsplanern noch nicht wirklich zur Kenntnis genommen wurde.

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