Artikel

Gütesiegel Alltagstauglichkeit
Spectrum

Es gibt Gebrauchsgegenstände, die so selbstverständlich geworden sind, daß wir sie kaum mehr wahrnehmen. Ihre unprätentiöse Form läßt die Frage nach dem Designer oft gar nicht erst aufkommen. Eine Nachschau im Alltag.

29. August 1998 - Walter Zschokke
Angesichts einer überhand nehmenden medialen Bilderflut, die zu verarbeiten fünf Leben nicht ausreichen würden, fragt sich mancher Gestalter: Wie weiter? Gibt es eine Richtung? Legt jemand Wegmarken, und woran wären sie zu erkennen? Lassen sich fixe Bezugspunkte ausmachen? Und: Wo fährt hier der Zug zur Avantgarde? So viele Fragen - und für jede zwei Dutzend Antworten. An diesem Punkt soll auf das entsprechende Loos-Zitat verzichtet werden - es existiert - , doch wen interessiert nach einem Jahrhundert Automobil die Manufaktur von Sätteln?

Nehmen wir an, man möchte nicht einfach bei anderen Ideen abkupfern, sondern die Dinge aus der Problemstellung heraus entwerfen und entwickeln. Soll man aus den zahlreichen Bildern, denen man tagtäglich begegnet, einzelne auswählen und verarbeiten, also mitschwimmen im Zeit- und Bilderstrom, ihn nützend, aber, von der Fließrichtung bestimmt, den potentiellen Vorwurf des Opportunismus in Kauf nehmen. Oder strebt man eine Reduktion in Form, Material, Farbe (natürlich Schwarz) an, wissend, daß den Produkten damit Pathos verliehen wird, auch wenn dies im Kontext befremdend wirken mag.

Eine ähnliche, mehr konzeptionelle Vorgehensweise wäre die Konzentration auf Grundprinzipien und Primärtypen, um sie als ordnende Elemente wirken zu lassen. Doch ihre mögliche Zahl ist beschränkt, sie lassen sich nicht beliebig vermehren, weil sie Produkte einer längeren kulturellen Entwicklung sind. Durch Anleihen aus dem Bereich der Kunst läßt sich ebenfalls Aufmerksamkeit provozieren; Minimal Art sowie Konkrete Kunst müssen ungefragt herhalten für visuelle Schroffheit und gewöhnungsbedürftige Nutzerfreundlichkeit.

Daher will man vielleicht festhalten an Bewährtem, erträgt den Vorwurf des Konservativismus, doch was kann beim beschleunigten Bilderverschleiß währschaft aussehen und sogar währschaft sein? Denn es soll ein neues, vorbildloses Produkt gestaltet werden. Vor lauter Zweifeln über den richtigen Weg verzieht man sich womöglich in die innere Emigration, verweigert die Plätschermedien ganz, erhöht damit aber die Gefahr des Nichtverstandenwerdens, weil man sich kaum mehr in einer gängigen und daher allgemeinverständlichen (Bild-)Sprache ausdrückt.

Nun haben Designprodukte jeweils eine zeitliche Konjunktur: Manche tanzen einen Sommer (wer interessiert sich heute noch für Rubiks Cube?); andere halten sich ein paar Jahre (Memphis war um 1980 ein Impuls, aber heute schlafen einem darob die Füße ein); einige überdauern Jahrzehnte, etwa der VW Käfer oder der Mini, denen heute noch Emotionen zufliegen, wenngleich ihr technisches Innenleben völlig erneuert ist und das gleichgebliebene oder aktuell überformte Äußere als Selbstzitat verwendet wird. Immerhin muß ein Produkt erst so weit kommen.

Als eine weitere Strategie, die vielleicht ein wenig an jene der Barfüßer erinnert, die zu Lebzeiten zwar ein bescheidenes Auskommen, doch selten Ruhm und Ehre einbringt, wäre die des Eintauchens in den Alltag. Man würde Produkte entwerfen und entwickeln, die zwar gebraucht und daher bei gutem Preis-Leistungs-Verhältnis auch gekauft, aber kaum lang beachtet werden, weil sie banal scheinen. Sie könnten schon immer dagewesen sein, und obwohl regelmäßig verwendet, würden sie aus lauter Vertrautheit ausgeblendet, unsichtbar gleichsam.

Ein Streifzug durch die Fachliteratur und eigene Erfahrungen förderte vier Beispiele zutage, die für eine ganze Reihe Gegenstände dieser Art stehen: Da ist einmal das technische Porzellan aus der staatlichen Porzellan-Manufaktur Berlin; zweitens der Küchentisch aus einer Typenmöbelfamilie von Ferdinand Kramer, zeitgleich mit der Frankfurter Küche der jungen Margarethe Lihotzky; drittens der Minenschärfer „Gedess“, den älteren und noch mit Druckbleistift zeichnenden Fachleuten bestens bekannt, vom elektronischen Fortschritt bedroht, aber auch von den 0,35-Minen überflüssig gemacht; viertens der „Rex“-Sparschäler, ein rüstiger Fünfziger. Das technische Porzellan wurde ab 1821 in wachsenden Stückzahlen für Färbereien produziert, welche die großen Mengen industriell erzeugter Textilien verarbeiteten. Es wird bis heute in den gleichen Formen hergestellt. Eine zeitliche Einordnung wird dem Laien schwerfallen.

Das Verdikt der reinen Zweckform wird kaum greifen, dafür sind die Gefäße zu elegant. In der Zeit der Neuen Sachlichkeit schätzten Gestalter die suggestive Wirkung dieser Formen und ließen sich bei ihren Entwürfen davon inspirieren. Ungerührt wurde seitdem weiterproduziert, ohne heimattümelnde oder postmoderne Schlenker.

Für den Privathaushalt sind sie wohl nicht wirklich zu gebrauchen; neben anderem Geschirr wirken sie ziemlich herb, aber im Labor, in der Werkstatt, im Atelier - dort auch als improvisiertes Trinkgefäß - waren sie „schon immer“ zu Hause; farbverschmiert, ein paar Pinsel und Stifte haltend, kaum auffallend, von Nachkommen beim Aufräumen oft achtlos weggeworfen.

Die isolierende Photographie auratisiert sie und macht sie zum Objekt des Begehrens - wenn Sie das Stück in den Händen halten, verliert sich der Glanz, das profane Objekt ruft nach Alltag und Arbeit.

Für Großserien im Rahmen des Frankfurter Wohnbauprogramms der zwanziger Jahre war der Küchentisch von Ferdinand Kramer gedacht. Die prismatisch-geraden Profile der Beine verweisen auf maschinelle Herstellung. Damals wollte man um jeden Preis erkennbaren Stil vermeiden, doch wurden die Entwürfe, die sich an der Grenze wahrnehmbarer „Gestaltung“ bewegen, ihrerseits bis heute stilbildend, man braucht bloß die Kataloge einschlägiger Möbelhäuser durchzublättern, wo derartige Typen fixer Teil des Programms sind.

Die Selbstverständlichkeit der rationalen Form transportiert Werte wie Zweckmäßigkeit, Schlichtheit, Wohlfeilheit und Hygiene, obwohl dies im Einzelfall alles nicht zutreffen muß. Kramers Entwürfe haben nicht die noble Eleganz der Möbel von Mies van der Rohe; die demonstrativ moderne Wohnlichkeit von Charlotte Perriand und Le Corbusier ist ihnen fremd, und die Kühnheit der Freischwinger von Mart Stam und Marcel Breuer geht ihnen ab. Sie wurden nicht zu Klassikern, weil sie nie darauf angelegt waren, aber ihr Prinzip lebt bis heute in zahlreichen Varianten in den alltäglichen Wohnungen von Arbeitern und Angestellten fort.

Die Einführung des Druckbleistifts rief nach einem Gerät zum Schärfen der Minen, das nur die Mine, nicht aber die metallene Halterung erfaßt. Georges Dessonnaz aus Fribourg im Üechtland ließ 1940 einen Minenschärfer patentieren. Die Büroartikel-Handelsfirma Kuhn in Zürich kaufte die Rechte 1944 und exportiert das Gerät seither in die Zeichensäle der halben Erde. Alle Teile sind einzeln ersetzbar, eine geschickte Anordnung des Kegels im Bodenstück hält das kugelförmige Gelenk der Tülle, in die der Minenhalter gesteckt wird, fest.

Sinnend machte man zum Spitzen mit beiden Händen eine gegenläufige Drehbewegung. Beim Aufschrauben schwärzte man sich die Finger mit Graphitstaub, dennoch war das Gerät beliebt. Es erlaubte die kleinen Pausen vor dem nächsten Zeichenschritt.

Vor dem Computer zünden sich die Leute nun für diesen Moment eine Zigarette an. Unsentimentale Chefs haben schon vor Jahren auf 0,35-Minen umstellen lassen. Die Mühle wird daher aus dem Büroalltag verschwinden, auch wenn ihr in Amerika der Form wegen, der Spitzname „Apollo“ verliehen wurde.

Zurück in der Küche, greifen wir zum Schälen von Karotten oder Erdäpfeln wahrscheinlich zum Rex-Sparschäler oder einem ihm ähnlichen unautorisierten Derivat. Seit seiner 1947 erfolgten Patentierung wurden über 30 Millionen Stück erzeugt und in Europa und den USA verkauft. Alfred Neweczerzal, in den zwanziger und dreißiger Jahren Händler von Küchengeräten, kam über einen Gemüsehobel mit verstellbarem Messer, den er 1936 in Deutschland patentieren ließ, zum handlichen Sparschäler aus konkav verformtem und versteiftem Aluminiumband. Der mit zwei Kupfernieten befestigte Augenschneider wurde früher aus dem ausgestanzten Mittelstreifen des Messers gewonnen, ein Vorgang, der heute zu aufwendig wäre.

Eine Datierung fällt auch hier nicht leicht. Aus den USA, wo das Gerät Verbreitung fand, stammt die Legende, es handle sich um eine Erfindung der Shaker, was diese ins 19. Jahrhundert verlegen würde. Dessenungeachtet wird der Schäler weiterhin produziert und ist im Endverkauf mittlerweile indexbereinigt fünfmal so billig wie bei der Markteinführung.

Die vier Beispiele zeigen verschiedene Lebenswege von Designprodukten. Die einen halten ihre Nischenstellung als Standardprodukt im Fachhandel. Andere waren zu unspezifisch, um zum Klassiker aufzusteigen, wurden aber zum Urahn einer immer wieder gewählten typischen Form. Der Minenschärfer hat seine großen Zeiten hinter sich, während der Sparschäler auch die Nachkommen des Erfinders ernährt. Allen eignet eine Selbstverständlichkeit, die in ihrer Form nicht erneuert zu werden braucht. Praktisch wie sie sind, haben sie sich schon vor Jahrzehnten durchgesetzt und lassen sich als Designprodukte mit hohem Alltagswert gestalterisch nicht in Frage stellen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: