Artikel

Vergebene Chancen und gute Ansätze
Neue Zürcher Zeitung

Neue städtebauliche Entwicklungen in Stuttgart

Nach dem Abriss der Seitenflügel des Hauptbahnhofs rücken andere Einzelbauten von Stuttgart ins Licht. Die einen stimmen hoffnungsvoll, andere sind eine Ermahnung zu mehr städtebaulichem Engagement.

23. September 2015 - Gabriele Hoffmann
Als Vittorio Magnago Lampugnani 2012 im Stuttgarter Rathaus seine «persönlichen Gebrauchsanweisungen zur zeitgenössischen Stadtplanung» vortrug, war in Stuttgart der Zug bereits abgefahren. In die falsche Richtung, wie nach der Eröffnung zweier Shoppingcenter feststeht. Man hatte, trotz starken Verlusten an innerstädtischer Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg, noch einmal Reste kleinteiliger Innenstadtstruktur für Grossprojekte geopfert. Wie sieht das Fazit für den Stadtraum im südlichen Teil von Stuttgart-Mitte aus, nachdem hier das Einkaufscenter «Gerber» auf 14 000 Quadratmeter Fläche eröffnet worden ist? Der Architekt Bernd Albers aus Berlin, Gewinner des Wettbewerbs, hat für den Aussenbau an einem der wenigen erhaltenen Gründerzeithäuser Mass genommen: ein doppelstöckiger Sockel sowie Korbbogenfenster als Abschluss der Handelsgeschosse und darüber die kleinteiligere Fassadenstruktur der Wohngeschosse. Vier Eingänge in die Shoppingmall betonen die Einbindung in den Stadtraum. Was dennoch nachdenklich stimmt, ist die Monumentalität des Projekts, die sich bei den Fassaden in einem Staccato der Vertikalen äussert.

Machbares ohne Vision

Ein weiteres Shoppingcenter, das durch pure Grossmassstäblichkeit ein Massenpublikum zu beeindrucken sucht, ist das fast gleichzeitig mit dem «Gerber» 2014 eröffnete «Milaneo». Es verdankt sich dem durch das Bahnprojekt «Stuttgart 21» entstehenden Europaviertel hinter dem durch einen Teilabriss verunstalteten Hauptbahnhof, der in den nächsten Jahren unterirdisch erweitert werden soll. Der Darmstädter Architekt Klaus Trojan, der 1996 den städtebaulichen Wettbewerb gewann, räumt angesichts der desolaten Situation des Areals ein: «Der Bebauungsplan hat zu schnell das Machbare fixiert.» Der Planung fehlte die sorgfältige Klärung der Frage, wie sich das planungsrechtlich und finanziell Mögliche mit dem städtebaulich Wünschenswerten vereinen lässt. Wo eine überdimensionierte Mall wie das «Milaneo» mit den riesigen Fassaden von LBBW-Bank und Süd-Factoring zu konkurrieren scheint, ist trotz ansehnlicher Architektur einzelner Grossbauten und trotz Blöcken mit Eigentumswohnungen Ödnis das Resultat.

Versöhnlich stimmt allein die neue Stadtbibliothek von Eun Young Yi am Mailänder Platz in unmittelbarer Nachbarschaft zum «Milaneo». Doch wer von den zum Teil weither angereisten «Milaneo»-Besuchern wird, bepackt mit vollen Taschen, Lust haben, die Grenzen des Europaquartiers für einen Besuch der Innenstadt zu überschreiten? Wenn Stuttgart unter Stadtplanern keinen guten Ruf hat, so hat es einen umso besseren bei Investoren. Dafür hat der frühere Oberbürgermeister Wolfgang Schuster gesorgt. Der Stadt fehlt eine erkennbare städtebauliche Vision. Selbst wenn es zu einer Umkehr in Stuttgart kommen sollte, dürfte es nach Schätzung des angesehenen Bauingenieurs Werner Sobek drei bis vier Jahrzehnte dauern, bis die neue Handschrift als Lebenswirklichkeit erfahrbar sein wird.

Ein Beispiel für gelungenen Städtebau aus jüngster Zeit ist der neue Hospitalhof, das Bildungszentrum der evangelischen Kirche von Lederer Ragnarsdóttir Oei in der Innenstadt. Wegweisend für das Stuttgarter Architekturbüro war der Bezug zum ehemaligen Dominikanerkloster an diesem Ort mit dem noch vorhandenen Chor der gotischen Kirche. Es ist eine Architektur der kleinen Gesten, die hier überzeugt.

Am ebenfalls in der Innenstadt gelegenen Karlsplatz konnten die Arbeiten für eine städtebauliche Neuordnung des Dorotheenviertels beginnen, nachdem eine Bürgerinitiative gegen den Abriss der Hotel Silber genannten einstigen Gestapozentrale Erfolg hatte. Den Wettbewerb, der einen Neubau des Warenhauses Breuninger an der Rückseite des seit 1881 bestehenden Hauses am Marktplatz einschliesst, gewann der Stuttgarter Architekt Stefan Behnisch. «Unsere Häuser sind nun einmal die Wände des öffentlichen Raumes», ein Wort von Behnisch, mit dem er auf die Bedeutung von Stiftskirche, Markthalle und Liederhalle als «Landmarken» hinweist. Wie weit seine Entwürfe – drei aus den Fugen geratene weisse Kisten mit Dachlandschaften für exzeptionelle Nutzungen – geeignet sind, dem Quartier neues Leben einzuhauchen, wird sich zeigen.

Was im autogerechten Stuttgart «Kulturmeile» genannt wird, ist die Konrad-Adenauer-Strasse, eine Stadtautobahn, die streckenweise unter und über der Erde verläuft. Erst seit wenigen Jahren erlauben Ampelanlagen den ebenerdigen Übergang von der Schlossgartenseite mit Oper und Staatstheater zur gegenüberliegenden Hangseite mit Staatsgalerie, Musikhochschule, Landesbibliothek, Staatsarchiv, Haus der Geschichte und dem unter Wilhelm I. erbauten Wilhelmspalais, das zurzeit zum Stadtmuseum umgebaut wird. Sehr zu begrüssen ist die Entscheidung, mit dem erforderlichen Erweiterungsbau für die Württembergische Landesbibliothek direkt an die Konrad-Adenauer-Strasse zu gehen. Das beauftragte Büro Lederer Ragnarsdóttir Oei strebt ein Mehr an Urbanität an. Eine Freitreppe soll zwischen Alt- und Neubau vermitteln. Man spricht bereits von einer beginnenden «Boulevardisierung» der Konrad-Adenauer-Strasse. So wünschenswert die weitere Bebauung auf beiden Seiten wäre, muss doch Schwerpunkt konkreter Überlegungen sein, die Umwelt und Kultur belastende Situation der Stadtautobahn zu korrigieren.

Städtebaulichen Gewinn für das Quartier hinter der Alten Staatsgalerie verspricht der Neubau der John-Cranko-Ballettschule. Den Wettbewerb haben die Münchner Architekten Stefan Burger und Birgit Rudacs gewonnen. Prägend für ihren Entwurf ist die Auseinandersetzung mit der Hanglage – drei in die Höhe gestaffelte Reihen von Einzelhäusern. Es ist ein Entwurf, der auf die spezifische Nutzung der Schule und ihre stadträumliche Beziehung zu Oper und Stadttheater reagiert.

Engagement für Baukultur

Die negativen Erfahrungen mit Investoren-Architektur im Stuttgarter Europaviertel haben dazu beigetragen, dass Anfang 2015 die «Landesinitiative Baukultur Baden-Württemberg» an den Start ging. Eine gute Möglichkeit, sich für Baukultur auch bei historischen Bauten einzusetzen, bietet sich bei der Villa Berg. Die um 1850 vom Hofarchitekten Christian Friedrich Leins für Kronprinz Karl und seine Gemahlin erbaute Sommerresidenz besteht aus einer Villa im Stil der Neorenaissance und einem Park.

Eine bauliche Neuerung der damaligen Zeit war das zentrale Treppenhaus mit Glasdach-Konstruktion. Die Villa erlitt starke Schäden im Zweiten Weltkrieg. Nach einer vereinfachenden Rekonstruktion des Aussenbaus, bei der die Ecktürme und zwei niedrige Flügelbauten wegfielen, übergab die Stadt die Villa und den Park dem Süddeutschen Rundfunk, der 1950/51 nach Plänen von Egon Eiermann den grossen Sendesaal einbauen liess. Heute befindet sich die Villa Berg in einem desaströsen baulichen Zustand. Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass die Stadt Stuttgart das Ensemble von Villa, Park und Fernsehstudios im vergangenen Juni vom bisherigen Eigentümer, dem Investor PDI, für 300 000 Euro zurückgekauft hat. Für das «identitätsstiftende Bauwerk» Villa Berg dürfte die bauliche Sanierung gerade noch in letzter Minute kommen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: