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Ein Brünner in Pilsen
Spectrum

In den 1920er- und 1930er-Jahren gab es in Pilsen nur ein Must-have: Wohnungseinrichtungen oder Hausumbauten von Adolf Loos. Während des Kulturhauptstadtjahres sind die zahlreichen Loos-Wohnungen öffentlich zugänglich.

10. Oktober 2015 - Iris Meder
Man könnte sich, wollte man böse sein, an englische Gesellschaftssatiren der 1920er- und 1930er-Jahre, etwa von E. F. Benson, erinnert fühlen. Wie in Bensons fiktivem Städtchen Tilling, so musste auch in Pilsen, so könnte man meinen, jeder Haushalt, der auf sich hielt, unbedingt das ebenfalls haben, was die tonangebenden Familien als das neue Must-have-Ding betrachteten. In der westböhmischen Industriestadt waren das in jener Zeit Wohnungseinrichtungen, noch besser: Hausumbauten von Adolf Loos.

Loos' Verbindungen zu Pilsen waren schon früh vorhanden, und sie waren stark. Der gebürtige Brünner und tschechoslowakische Staatsbürger hatte unter den jüdischen Unternehmerdynastien der Stadt seine ersten Auftraggeber – zunächst bei jenen Familienmitgliedern, die nach Wien gezogen waren, später auch bei den Holz-, Drahtgitter-, Farb-, Leder-, Schuhcreme-, Wursthäute- und Baustoffhändlern in Pilsen selbst. Es waren kultivierte Familien mit Anspruch. Abends traf man sich im „Autoklub“ im Hotel Smitka, dem heutigen Hotel Slovan. Auch Loos hatte Entwürfe für die Neueinrichtung der Klubräume gemacht, die schließlich, von Loos beeinflusst, das ortsansässige Büro Fischer & Deutsch gestaltete.

Zu Hause setzte sich das warme anglophile Ambiente entspannten, lässigen Komforts fort, mit holzvertäfelten Wänden, kassettierten Decken, marmornen Türrahmen. Den Semlers baute Loos ein ganzes „Raumplan“-Haus mit höhenversetzten Ebenen und raffinierten Schrägdurchblicken in einen Altbau ein. Auch vor dem Einsatz hohler Pfeilerstellungen und nicht funktionierender Scheinkamine schreckte Loos nicht zurück, wenn es dem harmonischen Raumeindruck diente.
Die Familien Kraus, Hirsch, Beck, Friedler, Teichner, Liebstein, Eisner, Vogl, Kapsa, Müller, Semler und Brummel – fast alle jüdischer Herkunft und irgendwie miteinander verwandt, verschwägert, befreundet oder Geschäftspartner – liebten ihren eigensinnigen Architekten und beauftragten ihn teils in mehreren Familienzweigen und Generationen immer wieder, überwiesen ihm das Honorar doppelt und übernahmen seine Arztrechnungen, wenn sie von seinen Geldschwierigkeiten erfuhren.

Das Verhältnis zur Familie Beck, die zu Loos' größten Fans und Förderern zählte, wurde freilich getrübt, als sich die als Fotografin ausgebildete Tochter Claire in den um Jahrzehnte älteren Architekten verliebte und ihn auch noch durchaus heiraten wollte. Der mit Loos fast gleichaltrige Brautvater Otto Beck blieb der Hochzeit demonstrativ fern, seine Frau Olga hingegen scheint, darf man dem Hochzeitsfoto glauben, ebenso viel Spaß an der Zeremonie gehabt zu haben wie das Brautpaar, Loos' treue Haushälterin Mitzi Schnabl, sein Pilsener Mitarbeiter Norbert Krieger und sein aus Mähren stammender Büroleiter Heinrich Kulka, der neben Olga Beck den Trauzeugen machte. Der ebenso intelligente wie patente und umgängliche Kulka und seine an der Wiener Kunstgewerbeschule ausgebildete Frau Hilde waren Mittler zwischen dem in praktischen Dingen – wie etwa Finanzen – eher weltfremden Loos und seiner Umwelt.

Heinrich Kulka managte das Büro in den Jahren von Loos' Krankheit, Hilde Kulka besorgte die Verwaltung und machte sich nicht zuletzt auch darum verdient, Loos' zahlreiche Pläne und Skizzen, die er in seinen letzten Jahren wegwerfen wollte, zu sammeln und so der Nachwelt zu erhalten. Loos' dritter Ehe war wie seinen beiden vorherigen keine Dauer beschieden. Claire Beck trennte sich nach wenigen Jahren von ihm. Trotzdem pries sie in ihren Erinnerungen den Genius Loos ebenso nachdrücklich wie Kulka, der nach Loos' Tod 1933 die Pilsener Auftraggeberfamilien architektonisch weiterbetreute, bis er nach 1938 ebenso wie beinahe alle Bauherren zur Emigration gezwungen war.

1945 wurde Pilsen von US-amerikanischen Truppen unter General George S. Patton Jr. befreit – was nach dem sozialistischen Umsturz von 1948 allerdings nicht mehr erwähnt werden durfte. Für die großteils nach 1938 „arisierten“ Pilsener Loos-Wohnungen bedeutete die Etablierung der ?SSR die Verstaatlichung. Ihre soliden, nach Loos' Credo keinen kurzlebigen Moden unterworfenen, aber mit besten Materialien handwerklich sorgfältigst durchgeführten Ausstattungen blieben, abgesehen vom beweglichen Mobiliar, größtenteils erhalten – trotz neuer Nutzungen als Kindergärten, Zahnambulatorien und Studentenheime.

Die Geschichte der Tätigkeit Loos' und seiner Auftraggeber in Böhmen und Mähren ist in den letzten Jahren von tschechischer Seite detailliert aufgearbeitet und in einer Ausstellung unter anderem in Prag, Brünn und Pilsen präsentiert worden. Nicht zuletzt seinem einzigartigen Bestand an Loos-Wohnungen verdankt Pilsen in diesem Jahr den Status der europäischen Kulturhauptstadt. Die aus dem Kulturhauptstadt-Budget finanzierte Restaurierung der Wohnungen war einer der Bausteine des Programms. Im Rahmen von Rundgängen, ganz ähnlich den „Wohnungswanderungen“, die Loos in den Zwischenkriegsjahren in Wien veranstaltete, werden die Wohnungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Ein Glücksfall ist es dabei, dass das Haus der seinerzeit eng mit den Becks befreundeten Holzgroßhändlerfamilie Brummel restituiert wurde. Seit 1989 ist es wieder im Besitz der heute über mehrere Erdteile verstreuten Familie, die ihr sorgfältig restauriertes Haus immer wieder im Rahmen von Veranstaltungen öffnet.

Ein Foto der Festgesellschaft bei Loos' 60. Geburtstag, den er 1930 im „Společenské Klub“ in Prag feierte, zeigt den augenscheinlich recht zufriedenen Architekten in der Mitte eines Sofas, umgeben von Freunden und Auftraggebern, zu Füßen des Meisters vor ihm auf dem Parkettboden sitzend seine treuen tschechischen Mitarbeiter Norbert Krieger, Heinrich Kulka und Kurt Unger. Wie sich der Schweizer Architekt Alfred Roth erinnerte, arbeitete Loos selbst, nicht ohne Selbstironie, an seiner Rolle. Nach besonders geistvollen Aperçus, so Roth, habe sich Loos gern an den ihn begleitenden Kulka mit der Aufforderung gewandt: „Kulka, schreiben Sie bitte unverzüglich auf, was Adolf Loos soeben gesagt hat, auf dass die Menschheit sich dessen noch in 500 Jahren erinnere!“ Keine Sorge – so schnell gerät Loos nicht in Vergessenheit.

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