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Der Städteplaner als Universalist
Neue Zürcher Zeitung

Eine Studie zu Camillo Sittes Kunst- und Architekturtheorie

16. Februar 1999 - Gabriele Reiterer
In Wien setzten die grossen städtebaulichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts mit dem Bau der Ringstrasse ein. Die Prachtstrasse, so Carl Schorske, «machte Architektur zum Zentrum öffentlicher Leidenschaften und Streitigkeiten». Die Pioniere der Moderne, Otto Wagner an ihrer Spitze vertraten eine rationalistische Auffassung, die den Städtebau ausschliesslich vom Prinzip der Zweckmässigkeit her beurteilte. Eine Gegenposition zu Wagner nahm der Wiener Architekt und Theoretiker des Städtebaus Camillo Sitte ein. Sitte hatte 1889 seine vielbeachteten urbanistischen Forschungsergebnisse unter dem Titel «Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen» veröffentlicht. Darin erklärte er die «künstlerische Durchbildung» zu einem wesentlichen Faktor und wandte sich gegen eine Vereinnahmung der Disziplin durch Ingenieure und Techniker. Ihm ging es dabei nicht um stilistische Prinzipien oder um Nachahmung, sondern um «überzeitliche Gesetzmässigkeiten eines künstlerisch motivierten Städtebaus». Zentrale Gedanken seiner Vorstellungen galten Fragen der räumlichen Folge, der Kontinuität und Rücksichtnahme auf gewachsene Strukturen und auf die Topographie.

«Mediävalisierender Romantiker»

Sittes Vorstellungen beeinflussten auch nach seinem frühen Tod im Jahre 1903 die städtebauliche Praxis weit über den deutschen Sprachraum hinaus. Allerdings verhielt sich Wien gegenüber Sitte eher ambivalent. Seine Bemühungen um ein Lehramt an der Akademie der bildenden Künste verliefen erfolglos, und von Otto Wagner wurde er mehrfach öffentlich angegriffen. In den zwanziger Jahren bewegte sich die Bewertung von Sittes Urbanismus zwischen Ignoranz und Ablehnung. Eine traditions- und geschichtsfeindliche Moderne stempelte den Wiener Städtebautheoretiker schliesslich zum «mediävalisierenden Romantiker» ab.

Dabei war es Sitte, der erstmals (raum)konstituierende Momente der Stadt ausformuliert hatte. Seine Auffassung von Kontinuität, Kontext und Organizität sprengte die Grenzen einer reinen Städtebautheorie; und sein geistesgeschichtlicher Hintergrund bewegte sich weit über Architektur und Städtebaufragen hinaus. In seiner Vielseitigkeit zeigte er sich von nahezu sämtlichen geistigen Stömungen der Zeit berührt. Nun hat Michael Mönninger eine umfassende Untersuchung der geistigen Grundlagen Sittes unternommen. In einer partiellen Auswertung von dessen umfangreichen unpublizierten Schriften zu Architektur, Malerei, Musik, Kunstgeschichte, Kunstgewerbe und Pädagogik, die von der Forschung bisher nicht beachtet wurden, erkennt Mönninger theoriebildende Grundlagen zu Sittes «rätselhaftem Monument», seinem Hauptwerk.

So stand Sittes geistige Herkunft in engem Zusammenhang mit der damals jungen Wiener Schule der Kunstgeschichte. Seine Theorien waren - wie Mönninger zeigt - eng mit dem naturwissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit verknüpft. Dabei bildeten die Erkenntnisse des deutschen Physikers und Physiologen Hermann von Helmholtz, der sich mit dem Zusammenhang von Bild, Wahrnehmung und Physiologie befasst hatte, eine Forschungsgrundlage. Leider zu kurz kommt in diesem Zusammenhang die Bedeutung des deutschen Philosophen Gustav Theodor Fechner für Sittes Theorie der Wahrnehmung. Fechner, der sich im wesentlichen auf Helmholtz berief, wurde mit seinen psychophysischen Erkenntnissen zu einer Schlüsselfigur der Anfänge einer empirischen Ästhetik. Mönninger untersucht auch erstmals Sittes starke Prägung durch die biogenetischen Rekapitulationstheorien jener Zeit und zeigt so seine Auffassung der Stadt als «ein autonomes, quasibiologisches Gebilde» als von evolutionsbiologischen Konzepten bestimmt. Sittes Glaube an die Pädagogik stand ebenfalls in diesem Zusammenhang. Ausgehend von der Annahme, dass die kindliche Entwicklung die Stammesgeschichte wiederhole, gewann die Erziehungsfrage wesentliche Bedeutung.

Kulturalistische Position

Über allem stand jedoch das von Aristoteles hergeleitete Postulat, dass die Stadt die Menschen «glücklich» machen solle. Sittes Haltung stand fraglos in engem Zusammenhang mit der geistigen Krisis der Epoche und brachte eine Suche nach neuen Werten zum Ausdruck. Allerdings wurde seine «kulturalistische» Position in der Folge und vielfach noch immer als nostalgischer Schritt rückwärts bewertet. Sittes Ziel lag jedoch keinesfalls in der Rückkehr zur vorindustriellen Wohn- und Siedlungsform. Er befürwortete durchaus die städtischen Entwicklungen, betrachtete sie als wichtigen Schritt in die Zukunft und sah auch deren Vorteile sehr klar und realistisch. Auch setzte er, im Gegensatz zu den Utopisten, dem Ziel seiner Kritik kein idealisiertes, demiurgisches Modell entgegen. Beim Neuen verlangte er nach Innehalten und nach einem Reflektieren über bewährte Konstanten. Vorstellungen von Kontinuität, Kontext und Organizität verbanden sich in Sittes Auffassung mit der Empfindung des Menschen. - Die Auseinandersetzung mit Sittes Theorien beschränkte sich bisher vorwiegend - und oftmals sehr einseitig - auf architektonische und städtebauliche Fragen. Mönningers aussergewöhnliche Studie zeigt erstmals die Grundlagen und deutet die geistige Verankerung von Sittes Vorstellungen an. Deren Komplexität macht deutlich, dass sein Hauptwerk in seiner Bedeutung weit über ein «formalästhetisches Regelbuch» hinausging. Die Publikation würdigt den Universalisten - den Künstler, Schriftsteller und Gelehrten - Sitte in seiner eigentlichen, bisher noch kaum zur Kenntnis genommenen Bedeutung. Damit trägt sie zur Rehabilitation des Wiener Städtebautheoretikers bei.

[Michael Mönninger: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Vieweg-Verlag, Braunschweig/Wiesbaden 1998. 235 S., Fr. 98-.]

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