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Neue Städte für Migranten
Neue Zürcher Zeitung

Charter Cities als Antwort auf die Flüchtlingskrise

Ob Arbeitskräfte, Wirtschaftsflüchtlinge oder Vertriebene, das Hauptmotiv von Migranten ist die Aussicht auf eine bessere Zukunft an einem neuen Ort. «Charter cities» könnten hier Alternativen bieten.

2. Dezember 2015 - Philipp Aerni
Gemäss Amnesty International lebten 2014 230 Millionen Menschen nicht in ihrem Geburtsland, 14,1 Millionen sind auf der Flucht im Ausland, und 33,3 Millionen sind Vertriebene im eigenen Land. Diese Zahlen werden nach dem Massenexodus aus Syrien seit dem Sommer 2015 noch dramatischer ausfallen. Die geringen Aussichten junger Flüchtlinge in Europa auf gesellschaftliche Integration, Arbeit und Familiengründung schaffen einen Nährboden für Frustration und Radikalisierung. Europäische Politiker reagieren auf die gegenwärtige Migrationskrise mit eingeübter linker oder rechter Rhetorik. Sie geben sich entweder uneingeschränkt gastfreundlich, oder sie präsentieren sich als Stimme des eigenen Volkes, das angeblich die Grenzschliessung fordert. Beides sind Zeichen der Ohnmacht. Die Positionen zeugen auch von einem Mangel an langfristigen Visionen für die direkt betroffenen Regionen.

Hansestadt und Auffanglager

Die Nachbarländer von Syrien sind viel stärker von Flüchtlingsströmen betroffen als wir, haben jedoch kaum Mittel, diese zu beherbergen. Der Druck wächst, etwas Neues auszuprobieren. Doch was genau? Ein Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass der Aufbau von neuen Städten mit eigenem Stadtrecht, heutzutage auch «charter cities» genannt, viele Krisen bewältigen konnte und erst noch zu wirtschaftlicher Prosperität führte. Ein Beispiel dafür ist der Erfolg der deutschen Hanse im Mittelalter. Sie hat ihren Ursprung im mutigen Entscheid Heinrichs des Löwen, der Stadt Lübeck 1160 nach einem verheerenden Brand das Soester Stadtrecht zu verleihen. Dieses Stadtrecht war eine Art Charta, die der Stadt zu bestimmten Einzelrechten verhalf (Marktrecht, Niederlagsrecht, Zollrecht). Es sollte als eine Art immaterielles Startup-Kapital für die neu gebaute Stadt dienen. Das neue Stadtrecht führte zu erneutem Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Blüte, denn es schützte die Rechte der Unternehmer und bot einen Zufluchtsort für rechtlose Migranten, die eine neue Existenz aufbauen wollten. Infolge dieses Erfolgs haben über 60 Städte im norddeutschen Raum ein ähnliches Stadtrecht übernommen, und es entstand die Hanse, die zum wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung Nordeuropas im Mittelalter führte. Im 19. Jahrhundert erhielt Hongkong von den Briten ein Stadtrecht, dass sich nicht an die Gesetze im damals feudalistischen China halten musste. Obwohl die Chinesen noch heute Hongkong mit einer Demütigung Chinas in Verbindung bringen, schien gerade Deng Xiaoping, der pragmatische Nachfolger Maos, eine positive Lektion aus der Erfahrung dieser «charter city» gelernt zu haben. Er stellte nämlich fest, dass viele Chinesen, die in China selbst keine Zukunft sahen, nach Hongkong migrierten, weil ihnen dort die Rechtssicherheit und der Schutz von unternehmerischen Freiheiten bessere Zukunftsaussichten boten. Zugleich wurde dadurch die Armut im chinesischen Umland der Stadt stark reduziert. Dengs Idee, Sonderwirtschaftszonen in China aufzubauen, basierte diesbezüglich primär auf der Erfahrung mit Hongkong. Aus geschichtlicher Perspektive können sich daher «charter cities» langfristig durchaus als Segen für rechtlose und verarmte Bevölkerungsschichten erweisen, insbesondere in Feudalgesellschaften. Feudalistische Strukturen existieren auch heute noch in vielen ruralen Regionen Afrikas und Lateinamerikas, und in der arabischen Welt dominieren sie sogar in den Grossstädten. Die privilegierte Oberschicht hält dort ihre lokalen und eingewanderten Untergebenen in wirtschaftlicher und politischer Knechtschaft, und Aussichten auf soziale Mobilität gibt es kaum. Der Ökonom Paul Romer wirbt aus diesen Gründen seit einigen Jahren bei vielen Regierungen in Entwicklungsländern für die Schaffung von «charter cities». Interessiert sind bis anhin insbesondere Regierungen, welche in den feudalistischen Strukturen ein Problem erkennen. Romers Engagement für «charter cities» wird in Europa jedoch kontrovers diskutiert. «Charter cities» werden hier mit «gated communities» assoziiert, in denen wohlhabende Leute mit allem versorgt werden, was das Herz begehrt, und zugleich durch privat organisierte Sicherheitskräfte vor den Aggressionen der ausgeschlossenen, ärmeren Bevölkerung geschützt werden. Mit der ursprünglichen Idee von «charter cities» hat dies jedoch wenig zu tun; denn diese hatten nicht die Abschottung der reichen «insiders» zum Zweck, sondern sollten den «outsiders» eine Chance zur wirtschaftlichen Ermächtigung geben. Davon hat schliesslich immer auch die Allgemeinheit als Ganzes profitiert, denn viele öffentliche Güter konnten erst durch die Besteuerung der erfolgreichen wirtschaftlichen Tätigkeiten bereitgestellt werden. Ausserdem schliesst das Stadtrecht ja gerade die freie Ein- und Ausreise mit ein, denn eine «charter city» versteht sich primär als Mittel zum Zweck und nicht als perfekt geplantes Puppenhaus, in dem eine homogene Gemeinschaft sorgenfrei und in Harmonie leben soll. Gewiss sind die politischen Rechte zu Beginn beschränkt, doch wenn man eine Lektion aus der Geschichte lernen kann, so ist es die Tatsache, dass erst durch wirtschaftliche Ermächtigung die politische Ermächtigung überhaupt möglich wird. Heute ist die wirtschaftliche Ermächtigung von zentraler Bedeutung für junge und gut ausgebildete Flüchtlinge. Sie migrieren, weil ihnen die Möglichkeit entzogen oder verwehrt wurde, eine wirtschaftliche Existenz für sich und ihre Familien in Sicherheit aufzubauen. Wenn sie es nicht nach Europa geschafft haben, kampieren sie in Zeltstädten in Nachbarstaaten mit keinerlei Aussicht auf eine wirtschaftliche Tätigkeit. Solch provisorische Flüchtlingssiedlungen könnten jedoch in produktive Städte umgewandelt werden, wenn man für sie eine entsprechende «charter»-Regelung schaffen würde. Flüchtlinge hätten dann zumindest das Recht auf Unternehmertum.

Infrastruktur und Know-how

Der Unterhalt eines syrischen Flüchtlings kostet in Europa fünfmal mehr als in Jordanien. Zugleich wären die Zukunftsaussichten in der Nähe des Heimatlandes erheblich besser, sofern die Menschen in einem urbanen Raum mit Rechtssicherheit, guter Infrastruktur und Zugang zu Know-how und Finanzdienstleistungen unternehmerisch tätig sein können. Sie sind besser vertraut mit Kultur und Sprache, sind näher bei den Verwandten und Freunden, die im Kriegsgebiet geblieben sind, und können dann schnell mithelfen, das Land nach Ende des Krieges wieder aufzubauen. Was spricht gegen eine solche ganzheitliche Flüchtlingspolitik, die Migranten zum Teil der Lösung machen würde? Es ist einzig die Mutlosigkeit der vielen europäischen Entscheidungsträger, die sich ausschliesslich der eigenen Wählerschaft verpflichtet fühlen.
[ Dr. Philipp Aerni ist Direktor des Zentrums für Unternehmensverantwortung und Nachhaltigkeit der Universität Zürich. ]

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