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Panoptikum des Verkehrs
Neue Zürcher Zeitung

Bahnhofs-Eldorado Arnhem Centraal

Der Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes beschert sechs Grossstädten der Niederlande neue Bahnhöfe. Wie kein anderer wirkt der Bahnhof Arnhem Centraal als städtebaulicher Kristallisationspunkt.

14. Dezember 2015 - Paul Andreas
Sobald der ICE in Richtung Amsterdam den Bahnhof von Arnhem erreicht, bleibt der Blick an den Gleisüberdachungen hängen, die sich so fliessend weich wie die Landschaft über die Bahnsteige legen und dabei noch den Himmel hindurchscheinen lassen. Im November wurde nach 20-jähriger Planungs- und Realisierungszeit auch der letzte Bauabschnitt des Grossprojektes abgeschlossen. Nun kann man den Quantensprung ermessen, der sich hier bei der Konzeption und der Gestaltung eines Bahnhofs vollzogen hat. Der heute 58-jährige Amsterdamer Architekt Ben van Berkel, der als Jungstar 1997 den Wettbewerb mit seinem Büro UN Studio gewann, hat einen hochverdichteten Bahnhofkomplex geschaffen, der das Ankommen und Abfahren zur eigentlichen Leitidee des Bauwerks macht – arrangiert auf engstem Raum, mit kurzen Wegen. Dabei bringt Ben van Berkels Inszenierungsgabe die fliessend-gewundene, hierarchielose Formengeometrie mit der Vielzahl der Verkehrsflüsse in eine ungewohnte Interaktion.

Strömungsbewegungen

Zwei den Trassees zugewandte 16-geschossige Bürohochhäuser und ein daran angedockter, die alte Bahnhofstrasse säumender Flachkomplex mit einem Kongresszentrum bilden das neue Rückgrat der Station Arnhem Centraal. Selbstverständlich benötigte das Programm auch Parkdecks – 900 Stellplätze auf zwei weitläufigen Untergeschossen, zwischen denen der regionale Busbahnhof Platz finden musste. Eine komplexe Stapelaufgabe: Um die Anforderungen zu meistern, entwickelte UN Studio V-förmige Stützwände aus Beton, die den ganzen Komplex tragen. Sie fächern sich dabei raumbildend vom untersten Untergeschoss bis ins oberste Stockwerk auf und können so auch als Erschliessungskerne dienen, in denen keine klaustrophobischen Ängste aufkommen. Denn von oben fällt sogar etwas Tageslicht in die mit Laufstegen erschlossenen Sichtbetonkanäle hinein.

An den aus Bürotürmen und Bushaltestelle gebildeten Komplex dockt der neue Hauptbahnhof fliessend an. Dabei komplettiert er die Anlage, indem er sie einerseits mit der City, andererseits aber auch mit den Gleisanschlüssen durch eine netzartig optimierte Erschliessungsstruktur verknüpft. Die Bahnhofshalle wird nicht nur zum Umschlagplatz aller Verkehrsströme – sie wird mehr noch zum Abbild der Bewegungsabläufe, die sich in dem Gebäude ereignen. Aus der Box des niedrigen Flachbaus wächst dazu eine grosse, biomorph gekrümmte Schalenkonstruktion hervor, die auf drei unterschiedlichen Höhenniveaus wie eine topografische Landschaft für die verschiedenen Verkehrsmodi erschlossen wird.

Fast schwellenlos die Grenzen zwischen innen und aussen nivellierend, mündet die vor dem Gebäude ansteigende, terrassierte Platzanlage in die zentrale Empfangshalle, die wie ein Panoptikum den Blick freigibt auf die miteinander überall durch Krümmungen und Windungen verbundenen Ebenen und die unterschiedlichen Strömungsbewegungen, die sich auf ihnen vollziehen. Die Schwerkraft scheint in diesem hohen, stützenlosen und durch grosse Augenlinsen üppig belichteten Zentralraum jedenfalls fast aufgehoben zu sein – alles hat den Anschein, übereinander oder ineinander zu fliessen.

Das ist äusserst praktisch, weil es den gestressten urbanen Nomaden – über 100 000 sollen es pro Tag sein – augenblicklich einen Überblick verschafft. Frei nach dem Motto «What you see is what you get» wird ihnen ihr Ziel – das Ticket-Center, die beiden unterirdisch angelegten und doch sichtbaren Velo-Ebenen, die Überlandbusse, die verglasten Parkdecks – direkt vor Augen geführt, und sie wissen ohne Beschilderungen, über welche Boden- oder Brückenrampen sie sich wohin wie bewegen müssen – Treppenstufe gibt es im Bahnhof von Arnhem keine einzige.

Ein besonderer Eyecatcher ist in diesem Totaltheater der Bewegung die in einem grossen Schwung zum Kongresszentrum hinaufführende Balkonrampe, die an einer in sich verdrehten und mit dem Dach organisch verschnittenen Wirbelstütze aufgehängt ist. Das alles erinnert an Eero Saarinens legendäres aerodynamisch gespanntes TWA-Terminal in New York. Anders als dort wurde das Gebäude dann aber infolge der Finanzkrise nicht aus Sichtbeton, sondern aus einer dem Bootsbau entlehnten Stahlhohlkonstruktion gefertigt. Das war günstiger und erlaubte es den Architekten, den reduzierten Kostenrahmen des Bahnhofs von 37,5 Millionen Euro einzuhalten. Es entpuppte sich auch architektonisch als die präzisere Lösung, so dass man nicht nur mit dem Auge, sondern gerne auch mit den Händen über die Konturen und Oberflächen der Schalenhülle fährt.

Überhaupt ist es auffällig, wie sehr bei aller Grossmassstäblichkeit des Projektes auf gute Details geachtet wurde. Die Edelstahlbalustraden zitieren in ihren Aufhängungen die V-Form der Gebäude- und Plattformstützen. Das Sitzmobiliar steht für einmal nicht wie ein Fremdkörper im Leeren, sondern ist subtil samt Laptop-Tresen in die künstliche Bodentopografie eingepasst. Und der eindrückliche Meeting-Point-Lüster schwebt wie eine grosse Lichtwolke im Raum. Überall merkt man, wie gerne Ben van Berkel den Massstab wechselt und das auch kann.

Bahnhofs-Eldorado

Der Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes hat auch in fünf weiteren Grossstädten in den Niederlanden eine Welle von Bahnhofsneubauten angestossen, die es allerdings architektonisch nicht mit dem neuen Bahnhof von Arnhem aufnehmen können. Drei von ihnen sind schon in Betrieb, diejenigen von Breda und Utrecht aber noch im Bau. Bereits vor zwei Jahren eröffnet wurde der in einem gemeinsamen Kraftakt von Benthem Crouwel, Meyer van Schooten (MVSA) sowie West 8 geplante Bahnhof Rotterdam Centraal, der eine Verdreifachung des Fahrgastaufkommens auf über 300 000 Reisende pro Tag ermöglichte. Sein markantes, wie ein aufgerissenes Haifischmaul in den Stadtraum ausgreifendes Schrägdach ist vor allem städtebaulich gelungen: Als grosses Eingangstor zur Stadt vermittelt es – eingehüllt in eine schuppige Aussenhaut aus zerrspiegelartig reflektierenden Edelstahl-Lamellen – massstabsgerecht zwischen dem benachbarten Groothandelsgebouw und den Bürohochhäusern des Delftse Poort.

Der imposante, nahezu stützenlose Platzraum darunter ist von allen Seiten zugänglich, aber auch sehr weitläufig und nicht besonders hell belichtet. Umso mehr Tageslicht lässt das gläserne Faltdach hindurch, das alle Gleisanlagen in einer grossen Horizontalen überkragt. Der darauf flächig aufgebrachte Sonnenschutz produziert nicht nur acht Prozent des Stroms für den Bahnhof, sondern bietet den wartenden Reisen darunter auch ein überaus belebtes Licht-und Schatten-Spektakel.

Auch der Kopfbahnhof von Den Haag besitzt ein gläsernes Dach aus Photovoltaikzellen, unter das die Architekten von Benthem Crouwel sowohl die Bahnsteige und Shops als auch eine spektakulär quer dazu verlaufende Stadtbahn integriert haben. Die direkt anschliessende, für Büros genutzte brutalistische Hochhausscheibe von Koen van der Gast aus dem Jahr 1973 blieb dagegen bestehen. Schaut man sich nur an, wie die neuen Bahnhöfe in den Niederlanden konsequent die Ausnutzung der Flächen mit Büroraum potenzieren, scheint Den Haag Centraal seiner Zeit immer schon etwas voraus gewesen zu sein. Nur für weitere Shops musste das Erdgeschoss des sanierten Hochhauses entkernt werden.

In der Kunst- und Universitätsstadt Delft ist man schliesslich so weit gegangen, die Gleise von einem Nachkriegsviadukt in den Untergrund zu verlegen – erst einmal zwei, bis 2020 sollen noch zwei weitere folgen. Doch anders als in Stuttgart liess man den denkmalgeschützten Bahnhof von 1885 unangetastet. Die ortsansässigen Mecanoo-Architekten entwickelten einen mit seinen vier Etagen auf die benachbarte Überbauung abgestimmten Neubau, der im Erdgeschoss mit Bahnhofshalle und Shops, darüber aber mit drei mäanderartig um Lichthöfe geführten Büroetagen der Stadtverwaltung aufwartet.

Tradition und Innovation

Die Fassade wurde versehen mit kleinteiligen, spiegelnden Paneelen und solchen, die wie alte, matte und opake Butzenscheiben anmuten. Diese Lust an der Überlagerung von lokaler Tradition und zeitgenössischer Innovation ist auch im Inneren zu spüren: So wandert der Blick bei der Rolltreppenfahrt aus dem Untergrund auf eine alte Stadtkarte von 1877, die riesenhaft vergrössert dem modellierten Relief der Deckenlamellen in Delfter Blau-Weiss aufgedruckt wurde. Zugleich wird durch die transparente Fassade der weitläufige Vorplatz mit der Gracht und dem Altstadt-Panorama gerahmt – eine Ansicht, die bestimmt auch das Delfter Malergenie Vermeer, so jedenfalls mutmassen die Architekten, beeindruckt hätte.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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