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Stufen der Intimität
Spectrum

Architektur und Atmosphäre – was man sich untrennbar vereint wünscht, scheint in der Realität ein Glücksfall. Was aber schafft eigentlich Atmosphäre? Eine Nachforschung.

2. Januar 2016 - Karin Tschavgova
Zugegeben, es gäbe Themen mit größerer Aktualität und Brisanz, die am Anfang dieses Jahres die Architekturseite füllen könnten. Allenfalls spricht für die Wahl, über Atmosphäre in der Architektur zu schreiben, ihre zeitlos große Bedeutung, lohnend, immer wieder von Neuem ergründet und überdacht zu werden – ganz so wie die guten Vorsätze zum Jahresbeginn.

Spricht man das Thema an, ganz gleich, ob im Freundeskreis, unter Architekten oder mit Studierenden, und fragt, was unter Atmosphäre oder als atmosphärisch verstanden wird, so kommen meist Antworten aus dem Bauch heraus. Gefühl wird ins Spiel gebracht, argumentiert wird mit Emotionen, mit einem Berührt- und Bewegtsein, das hervorgerufen wird (oder einen überkommt) in atmosphärisch dichten Räumen. Manch einer behilft sich mit der Benennung von realen Beispielen solch atmosphärisch aufgeladener Räume, in der Hoffnung, dass die anderen diese Orte auch kennen, ihre Wirkkraft in ähnlicher Weise erlebt haben und verstehen, was man selbst unter Atmosphäre versteht.

Denn das ist auch erstaunlich: Ein Raum mit Atmosphäre wird häufig positiv assoziiert und mit Attributen wie Schönheit, Harmonie und sogar mit dem Erhabenen gleichgesetzt, obwohl der Begriff an sich gänzlich wertfrei ist. Es gibt auch sie: atmosphärische Kälte, Unbeseeltheit oder öde Langeweile. Es scheint schwierig, architektonische Atmosphären, die einen emotional anrühren, präzise mit Worten zu fassen, und schier unmöglich, ihre Genese analytisch nachzuvollziehen und bis ins Letzte zu erkennen, was sie ausmacht und uns im besten Fall verzaubert. In seinem 2006 erschienenen Buch „Architektur und Atmosphäre“ kommt der deutsche Philosoph Gernot Böhme nicht darum herum, etwas unscharf Atmosphären als „gestimmte Räume“ zu definieren, in die „man sich hineinbegibt und ihren Charakter an der Weise erfährt, wie sie unsere Befindlichkeit modifizieren oder uns zumindest anmuten“.

Als Großmeister des Atmosphärischen habe ich Peter Zumthor tituliert, lange bevor der Schweizer Architekt 2013 mit dem „Nike-Preis für Atmosphäre“ des Bundes Deutscher Architekten ausgezeichnet wurde – für das von ihm gestaltete Diözesanmuseum Kolumba in Köln (siehe „Spectrum“, 23. November 2007). Auch seine Annäherung an das Thema ist hoch persönlich, wie er im Band „Atmosphären“ (Birkhäuser, 2006) ausführt. Seine Antworten bezeichnet er als persönliche Empfindlichkeiten. Er schreibt von „Stimmigkeit, die auch mehr ein Gefühl ist“, und empfindet es als tröstlich, wenn er aus dem Zitat eines russischen Musikwissenschaftlers über die musikalische Grammatik bei Igor Strawinsky ableiten kann, dass es auch eine handwerkliche Seite gibt in der Aufgabe, (architektonische) Atmosphären zu erzeugen. „Es muss Verfahren, Interessen, Instrumente und Werkzeuge geben in meiner Arbeit“, notiert er auf seiner Suche. Antworten findet er in Zuschreibungen wie „Zusammenklang der Materialien“, „Spannung zwischen innen und außen“ und „Stufen der Intimität“.

Wenn Atmosphäre also nicht etwas glückhaft Entstandenes ist, etwas, das man gar nicht rational planen kann, so müsste man im Umkehrschluss, kennt man die richtigen Ingredienzien, auch relativ einfach atmosphärisch aufgeladene Räume schaffen können. Aber solche Räume, die unsere emotionale Wahrnehmung im Bruchteil von Sekunden ansprechen, weil sie etwas ausstrahlen, das uns fern von jeder analytischen Ursachenforschung berührt und all unsere Aufmerksamkeit fordert, sind seltener, als ich es mir wünschen würde. Unddoch hat der Architekt objektive Hilfsmittel zur Verfügung, um Atmosphären dieser Art zu erzeugen. Sie zu kennen ist Voraussetzung; sie im rechten Maß und im richtigen Verhältnis für einen jeweils spezifischen Ort zusammenzufügen ist Kunst. Schon die Definition der Werkzeuge bedeutet, sich auf glattes Parkett zu begeben.

Hier ein Versuch, dem die Behauptung zugrunde liegt, dass Atmosphäre aus dem In-Szene-Setzen einzelner Elemente entsteht. Dinghafte und auch nicht gegenständliche Mittel werden in einen kompositorischen Zusammenhang gestellt. Inszenatorische Wirkung entsteht aus der im Entwurf gefundenen Raumform oder Gestalt, die geprägt ist von Geometrie und Proportion, einst Ebenmaß genannt. Dann durch Raumfolgen, die Abwechslung und Überraschung in sich bergen. Wichtig scheint mir die Materialität oder Stofflichkeit von Räumen – was für Innenräume wie für Stadträume gleichermaßen gilt. Maßgebend ist auch hier nicht der einzelne Werkstoff, sondern sind die Gegenüberstellung und das harmonische Zusammenspiel der gewählten Materialien – ihre Textur. Zu den nicht stofflichen Erzeugenden zählen Licht und Schatten, Farben und Töne. Was hier prosaisch Licht oder Lichtführung genannt wird, kann im besten Fall in seiner Wirkung beglückend sein. Immer wieder tauchen vor meinem Auge Le Corbusiers Spiel mit dem in den Sakralraum der Kirche von Ronchamp einfallenden Licht auf und die daraus entstehende heiter-festliche Atmosphäre.

Töne oder bestimmte wiederkehrendeGeräusche formen bei Zumthor den spezifischen Klang eines Raumes. Hier greift er auf Erinnerungen an Räume der Kindheit zurück. Auch Zeichen und Symbole können eine Atmosphäre prägen, wenn sie kulturell konnotiert sind und Assoziationen hervorrufen – ebenso Materialien, die dadurch Symbolkraft erhalten. Denken wir an die Verarbeitung und den Einsatz von Holz im alpinen Bauen, das von den meisten Menschen als stimmig empfunden und gleichgesetzt wird mit Gemütlichkeit. Selbst Loos hat, das Ornament als überflüssig verdammend, Marmor mit kraftvoller Zeichnung und stark gemasertes Wurzelfurnier eingesetzt, um sinnliche Eleganz auszudrücken.

Durch individuelle Inbesitznahme entsteht Atmosphäre, nachdem die Arbeit des Architekten abgeschlossen ist. Zumthor nennt dies „die Dinge um mich herum“. Die Planer von Räumen, Häusern und ihrer Umgebung können dafür nur die Basis schaffen, die Aneignung erlaubt, ohne die Qualität ihrer Arbeit zu überdecken. Natur ist eines der sich zeitlich verändernden Elemente, die durch ihre inszenatorische Wirkung eine Atmosphäre stark prägen können. Es beginnt damit, ein Gebäude gut in seine Umgebung einzubetten, das vorhandene und das hinzugefügte Grün zum gestaltgebenden Element zu machen, das unmittelbar erlebt werden kann. Alles weitere formt die Zeit.

Einen verbindlichen Leitfaden für die Erzeugung von Atmosphären, die in allen Menschen ein Wohlgefühl hervorrufen, gibt es nicht, weil Menschen unterschiedlich empfinden. Ihre Emotionen sind geprägt von ihrer Kultur und Herkunft, von ihren Erfahrungen und Erinnerungen. Der Versuch, Atmosphären zu erzeugen, bleibt trotz objektiver Werkzeuge ein subjektiver Akt. Voraussetzungen zum Gelingen sind vermutlich nicht nur kreatives Talent, sondern auch emotionale Einfühlungskraft und Lebenserfahrung.

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