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Kugel, Prisma und Zylinder
Neue Zürcher Zeitung

Revolutionsarchitektur als Ferment des Architekturdiskurses

30. Januar 1999 - Hubertus Adam
Die Auseinandersetzung mit den als «Revolutionsarchitektur» bekannten Entwürfen von Boullée, Ledoux und Lequeu wirkte auf die Architekturentwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts in mancherlei Weise inspirierend. Die Idee einer Monumentalität der reinen Form fungierte als Ferment in heterogenen Kontexten - ob in der Moderne oder in der Postmoderne.

Derjenige, der in den vergangenen Jahren wohl am nachhaltigsten für die Bekanntheit von Etienne-Louis Boullée gesorgt hat, hiess Stourley Cracklite. Cracklite, ein amerikanischer Architekt, organisierte in Rom eine Ausstellung über den Revolutionsarchitekten. Im Laufe der Vorbereitungen identifiziert er sich mehr und mehr mit Boullée. Der französische Architekt wird ihm zum imaginären Gesprächspartner, zum Alter ego. Stourley Cracklite - so hiess der Protagonist in Peter Greenaways Film «The belly of an architect» aus dem Jahre 1986.

Legitimation der Moderne

Bevor er zum «Filmstar» wurde, fand Boullée Eingang in den Architekturdiskurs. Nach einigen verstreut publizierten Studien zur Revolutionsarchitektur legte Emil Kaufmann 1933 das Bändchen «Von Ledoux bis Le Corbusier» vor, das als vorläufige Summe seiner Beschäftigung mit dem Thema gelten kann. Das Verdienst des Autors besteht nicht allein darin, die lange vernachlässigten, nachgerade dem Vergessen anheimgefallenen Projekte und Visionen von Boullée, Ledoux, Lequeu und ihren Nachfolgern gewürdigt und neu gewichtet haben; überdies werden die französischen Baumeister der Zeit um 1800 zu Gründungsheroen der architektonischen Moderne stilisiert. Man kann die Schrift Kaufmanns folglich nicht nur als wirkungsgeschichtliche Analyse verstehen, sondern zugleich als Versuch, die je nach Sichtweise polemisch exponierte oder kritisierte Voraussetzungslosigkeit des Neuen Bauens zu unterminieren. Was sich bisher als traditionslos, als revolutionär darstellte - oder so bezeichnet wurde -, gliederte sich in einen evolutionären Prozess ein, angeblich Autochthonem standen auf einmal Vorbilder gegenüber.

Kaufmanns architekturhistorischer Legitimationsdiskurs für die Moderne bedient sich eines bipolaren Schemas, des das gesamte 19. Jahrhundert prägenden Kampfs zwischen Autonomie und Heteronomie. In den Entwürfen von Ledoux und seinen Zeitgenossen sieht der Autor eine antiklassische Volte, den Widerstand gegen die barocken Gesetze von Proportion und Dekoration, letztlich die Absage an eine normative Ästhetik. Materialgerechtigkeit, Autonomie der Form und Primat des Tektonischen avancieren zu neuen Postulaten. Eine dekadenzkritische Optik prägt Kaufmanns Sicht auf das 19. Jahrhundert; Schinkel, der selbst mit der Bauakademie das Prinzip der Konstruktionsgerechtigkeit verfolgt hatte, wird zum Paradigma für den historistischen Sündenfall. Dennoch versteht Kaufmann das Denken in den Kategorien von Block und Masse gleichsam als rezessives Erbmerkmal, das erst im 20. Jahrhundert von der Latenz zur Dominanz gelangt sei. Abschliessend verwahrt sich der Autor davor, die diachronen Vergleiche allein unter dem Aspekt formaler Entsprechungen vorzunehmen, der Leidenschaft für Kugel, Prisma und Zylinder; entscheidend sei vielmehr ein «neuer Idealismus», eine neue Geistigkeit, die sich gemäss seinen Behauptungen in Ledoux' Idealstadtprojekt ebenso artikuliere wie in Le Corbusiers «Cité mondiale».

Kaufmanns gegen einen geistigen Vordenker der NS-Ideologie, Arthur Moeller van den Bruck, und dessen in den Jahren des Ersten Weltkriegs erschienenes Buch «Der Preussische Stil» gerichtete knappe Feststellung, «Der ‹Preussische Stil› war nichts anderes als die deutsche Nachahmung der französischen Revolutionsarchitektur», konnte nicht verhindern, dass die Herrschenden, die im Jahr des Erscheinens von Kaufmanns Buch in Deutschland an die Macht kamen, das formale Repertoire von Ledoux und Boullée beerben liessen. Wilhelm Kreis' megalomaner kegelförmiger Entwurf für ein «Totenmal am Dnjepr» lehnt sich überdeutlich bis zur Penetranz an Boullées Vorbild eines «cénotaphe tronconique» an. Dass Kreis mit seinen aus stereometrischen Primärformen aggregierten Denkmälern, die zu Beginn der vierziger Jahre als ins Hypertrophe verzerrte Wiedergänger auftauchten, schon vor der Jahrhundertwende zum Monumentalarchitekten par excellence avanciert war, ist eine Tatsache, die Kaufmann geflissentlich zu übersehen - und übergehen - verstand.

Wie nahe Kreis' Formensprache in jener Zeit die Entwürfe von Fritz Schumacher, von Peter Behrens oder auch von Ludwig Mies standen - auch das wirft ein Schlaglicht auf die Genese der Moderne. Der Schatten der Revolutionsarchitektur wird auch hier erkennbar. Doch zu dem Gedanken einer Geburt der Avantgarde aus dem Geist der Monumentalität - die Frage des Monumentalen wurde selbst im De-Stijl-Kreis verhandelt - war Emil Kaufmann nicht bereit: Die Apologie der Moderne erzeugt deren Mythos.

Erbe der abstrakten Geometrie

Es erstaunt nicht, dass eine unbefangene Auseinandersetzung mit der französischen Revolutionsarchitektur nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst ausserhalb von Europa einsetzte. So veröffentlichte Philip Johnson, durch sein 1932 gemeinsam mit Henry-Russell Hitchcock publiziertes Buch «International Style» zu einem der einflussreichsten Propagandisten des Modern Movement avanciert, 1950 eine Selbstinterpretation seines im Jahr zuvor fertiggestellten «Glass House» in New Canaan, Connecticut. Mit Hilfe begleitender Abbildungen suchte er den transparenten Baukörper in eine Traditionslinie einzurücken, die von der Akropolis über Schinkels Kasino in Kleinglienicke und Malewitschs Suprematismus bis zu Mies van der Rohes Farnsworth House reicht. Eine Illustration zeigt das kugelförmige «Flurwächterhaus» von Ledoux, dessen radikale Geometrie Johnson seiner eigenen Architektur als wesensverwandt erachtete. «Der Kubus und der Kreis, die reinen mathematischen Formen, waren den intellektuellen Revolutionären, die aus dem Barock ausbrachen, teuer, und wir sind ihre Nachkommen», heisst es im Erläuterungstext, der explizit auf Kaufmanns Buch Bezug nimmt.

Von nachhaltigerer Bedeutung für die Rezeption der französischen Revolutionsarchitektur indes war eine von der Bibliothèque Nationale zusammengestellte Ausstellung von Architekturentwürfen Boullées, Ledoux' und Lequeus, die zunächst in Paris zu sehen war und 1968 unter dem Titel «Visionary Architects» in Houston gezeigt wurde. Niemand Geringeres als Louis I. Kahn verfasste das im amerikanischen Katalog einleitend abgedruckte, hymnische Gedicht: «Spirit in will to express / Can make the great sun seem small. / The sun is / Thus the Universe. / Did we need Bach / Bach is / Thus music is. / Did we need Boullée / Did we need Ledoux / Boullée is / Ledoux is / Thus Architecture is.»

Kahns Begeisterung für die Revolutionsarchitekten ist keineswegs zufällig; die Suche nach elementaren, archetypischen Formen prägte sein Œuvre ebenso wie der Verstoss gegen die elaborierte Ästhetik des «International Style». An die Stelle eleganter Stahl-Glas-Strukturen treten spröde Beton- und Ziegelwände, die zu einer beinahe archaisch anmutenden Monumentalität führen. Ihren wohl überzeugendsten Ausdruck fand diese Baugesinnung in den gewaltigen Bauten des Regierungszentrums von Dacca, Bangladesh, mit deren Planung Kahn seit 1962 befasst war.

Die Betonzitadelle des Parlamentsgebäudes wurde zu einem Triumph der abstrakten Geometrie; über einem aus Kreisen und Quadraten gebildeten Grundriss errichtet, sind die hochragenden Mauern ihrerseits von dreieckigen, kreisförmigen oder rechteckigen Mauern durchbrochen. In Japan war es Arata Isozaki, der sich zu gleicher Zeit explizit auf Boullée und Ledoux berief und anhand der Auseinandersetzung mit deren Projekten seine Abkehr vom Metabolismus vollzog. Hatte er schon 1964 Ledoux' Entwürfe für kubische Häuser mit vier Belvederes in der «Nakayama Residence» paraphrasiert, entlehnte er nun das Dachmotiv von Ledoux' ringförmigem Flusswächterhaus für die Idealstadt Chaux. Bündig auf der Mauerkante aufsitzende, halbtonnenförmige Dächer mit ringförmigen Blenden an den Stirnseiten kennzeichnen Isozakis Bauten der frühen siebziger Jahre: den Fujimi Country Club, aber auch die Kitakyushu-Bibliothek. Deren Inneres verrät im übrigen die Kenntnis von Boullées berühmter Innenraumperspektive einer Nationalbibliothek.

Dass die Rezeption der Revolutionsarchitektur als Ferment in einem Prozess der Ablösung von der Nachkriegsmoderne wirkte, belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass Aldo Rossi 1967, mithin ein Jahr nach der Publikation seiner Programmschrift «L'architettura della città», eine italienische Übersetzung des Traktats «Architecture» von Boullée vorlegte. Rossi hätte sein Repertoire architektonischer Grundmotive ohne die Kenntnis der Revolutionsarchitektur kaum entwickeln können; angesichts seines Entwurfs für den Friedhof in Modena hat er selbst in der «Scientific Autobiography» von der Anregung durch Boullée gesprochen. Die Parallele besteht nicht nur in formaler Hinsicht - Rossi überhöhte seine Anlage durch stereometrische Primärformen, einen Konus und einen von quadratischen Lichtöffnungen durchbrochenen Würfel. Natürlich ist es auch die Todes- und Memorialthematik, welche auf die düster-erhabenen Visionen der Franzosen zurückverweist. Gerade diese Ernsthaftigkeit im Umgang mit architektonischen Pathosformeln macht den Friedhof San Cataldo zu einem der überzeugendsten Werke Rossis und setzt ihn ab von der inflationären, zum Teil ironisch gebrochenen Verwendung von Monumentalmotiven, die die Epoche der Postmoderne prägte.

Vorwärts, wir müssen zurück

In Bauten von Michael Graves - zum Beispiel der Clos Pegase Winery (1987) im kalifornischen Napa Valley -, den urbanen Visionen von Léon Krier oder Ricardo Bofills Wohnanlagen in der Pariser Agglomeration vermischten sich der Revolutionsarchitektur entlehnte Elemente mit Klassizismen jeglicher Couleur. Hatte Kaufmann Boullée und Ledoux noch als Protagonisten und Propagandisten einer autonomen Architektur verstanden, so war die reine Form nun in die Konkursmasse der Baugeschichte eingegangen, aus der es sich beliebig zu bedienen galt. Manolo Nuñez, ein Schüler Bofills, klotzte zwei trommelförmige Hochhäuser aus vorfabrizierten Betonelementen in die Ville nouvelle Marne-la-Vallée; Philip Johnson, inzwischen vom Anwalt der Moderne zum Parteigänger der Postmoderne konvertiert, inszenierte ein wenig Ledoux in der Sky Lobby seines AT&T Building in New York. Bei der Architekturfakultät der Universität Houston, 1983-1985 gemeinsam mit John Burgee errichtet, verliess er sich völlig auf das historische Vorbild und setzte Ledoux' unrealisierten Entwurf eines Hauses der Erziehung für die Stadt Chaux mit geringen, kaum überzeugenden Modifikationen in Architektur um. Ein neuer Historismus hatte Ledoux und Boullée eingeholt. Vielleicht ist es von hintersinniger Ironie, dass sich Stourley Cracklite am Ende in den Tod stürzt.

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