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Wenn es schneit in Singapur
Neue Zürcher Zeitung

Die neu eröffnete National Gallery

Mit einer Fläche von 64 000 Quadratmetern ist die neu eröffnete Nationalgalerie von Singapur das grösste Kunstmuseum Südostasiens.

9. Januar 2016 - Samuel Herzog
Sie torkelt aus dem Nichts einer sternenlosen Nacht hervor. Noch umgibt sie völlige Stille, noch ahnt sie nicht, wohin sie fällt. Dann tauchen die Spitzen hoher Türme auf, und wenig später schon rauscht sie an den obersten Etagen der Wolkenkratzer vorbei. Um die Uhrzeit sind auch im fleissigen Singapur nur noch wenige im Büro – auf dem schiffförmigen Dach des «Sands» aber planschen die Hotelgäste im Swimmingpool, lassen sich Touristen vor der funkelnden Skyline der Stadt ablichten, kleine Blitze verknistern in der Luft.

Die Schneeflocke weiss nicht, dass sie Schneeflocke ist – und also lässt sie sich vergnügt von einem feinen Windhauch über die Marina Bay tragen, Fragmente indigener Gesänge echoen aus dem Esplanade-Theater zu ihr hoch, die zwei Aluminium-Durians lächeln ihr zu, dann schlägt sie Purzelbäume über einem Kricketfeld, pfeift an einem Palmwedel vorbei und sieht zuletzt noch ein ionisches Kapitell, bevor sie sich auf der Granitmauer des Höchsten Gerichts mit einem kleinen Klatschen in Wasser auflöst.

Wenn es schneit in Singapur, dann tanzen die Flocken wie im Traum zwischen den Hochhäusern hin und her. Tausendfach spiegeln sie sich in den Glasfassaden. Auf den Strassenkreuzungen regeln Schneemänner den Verkehr, die Autos haben sich in pferdegezogene Schlitten verwandelt, und die Taxifahrer kratzen sich die weissen Rauschebärte. Eigentlich müsste man da auch Singapurer sehen können, die Trauben aus edel bedruckten Papiertaschen von Apple über Eu Yan Sang, Ladurée und Louis Vuitton bis Zara durch die Strassen tragen. Denn zur Weihnachtszeit sehnt sich Singapur nicht nur nach Schnee – es gibt wohl auch keine andere Stadt, die so wild ist auf Geschenke.

Die Malls füllen sich wie hungrige Bäuche mit immer mehr Menschen, die Klimaanlagen können die Temperaturen kaum noch halten, in den Kleiderläden tänzeln die jungen Frauen und Männer mit ihren Gelfrisuren wie balzende Kraniche um die Ständer und Gestelle, aus den Parfümerien quillt ein höllischer Patschuli-Zuckerwatte-Mastix-Dunst, und an den Kassen der beliebtesten Geschäfte bilden sich lange Schlangen – auch vor den Türen berühmter Restaurantketten wie Din Tai Fung allerdings stehen die Leute an, um sich bei ein paar mit Suppe gefüllten Teigtaschen (Xiǎolóngbāo) von den Strapazen des Einkaufs-Kung-Fu zu erholen.

Denn wenn die Singapurer zur Weihnachtszeit verrückt sind nach Schnee und Shopping, scharf aufs Essen sind sie das ganze Jahr hindurch – und fast alle würden wohl jenem Spruch zustimmen, den ein berühmtes Bak-Kut-Teh-Restaurant neben seiner Kasse an die Wand geschrieben hat: «A good bowl of soup is the most beautiful gift you can make – including to yourself.» Das Essen als ein Geschenk an sich selbst – eine schöne Vorstellung, auch wenn Konfuzius wohl die Stirne runzeln würde.

Investitionen in die Kunst

Singapur ist gut darin, sich selbst Geschenke zu machen, das hat die Stadt in den letzten Jahren immer wieder bewiesen – so auch kurz vor Weihnachten mit der Eröffnung einer National Gallery. Dass eine Wirtschaftsmetropole wie Singapur auch Kunst braucht, um sich zu definieren, um den Bewohnern ein Gefühl von Lebensqualität und den Touristen einen vernünftigen Grund für einen Besuch zu geben, haben die Stadtväter längst schon begriffen: Seit 1986 gibt es das Institute of Contemporary Arts der Lasalle-Universität, 1996 wurde das Singapore Art Museum eröffnet, 2006 fand die erste Singapore Biennale statt, seit 2011 lockt die Kunstmesse Art Stage Singapore Sammler an, und 2012 wurde in einem ehemals britischen Militärlager im Süden der Insel, den sogenannten Gillman Barracks, ein grosses Galerienquartier eingerichtet, in dem sich international renommierte Häuser wie Arndt aus Berlin, Shangart aus Schanghai, Mizuma aus Tokio oder Tagore aus New York niedergelassen haben. 2013 nahm auf diesem Gelände ausserdem das ehrgeizige NTU Centre for Contemporary Art seinen Betrieb auf.

Auffällig ist, dass ausgerechnet in Singapur, wo ständig aufsehenerregende Neubauten aus dem Boden schiessen, für die Kunst bisher kaum frischer Beton angemischt wurde. Das gilt auch für die National Gallery Singapore, die im ehemaligen Rathaus (eröffnet 1929) und im früheren Supreme Court von 1937 ihren Platz fand. Ob es stimmt, dass die Kunst hier berücksichtigt wurde, weil die Stadt keine andere Verwendung für die zwei postneoklassizistischen Kästen gefunden hat, sei dahingestellt. Der Franzose Jean François Milou, der nach einem Architekturwettbewerb den Auftrag erhielt, aus den zwei denkmalgeschützten Häusern ein Museum zu machen, hat sich vor allem im Raum zwischen den beiden Klötzen verwirklicht. Hier hat er eine Art Glaskasten errichtet, der von grossen Metallsegeln beschattet wird, deren Lichtdurchlässigkeit an Sonnendächer aus Palmwedeln erinnert. Treppen und Passerellen verwandeln diesen Zwischenraum in einen luftigen, auf mehreren Etagen belebten Platz – ein Eindruck, der von den baumartigen Strukturen noch verstärkt wird, die das weite Glasdach stützen.

Garderobe, Ticketschalter und diverse Serviceräume wurden im Untergeschoss eingerichtet, wo jeder Besuch der Galerie zwingend seinen Anfang nimmt. Die Fassaden und auch die Innenräume der beiden historischen Gebäude wurden nach Möglichkeit unverändert belassen und sehr sorgfältig restauriert. Namentlich im Gerichtsgebäude ist noch viel zu spüren von der einstigen Atmosphäre – nicht nur im zentralen Gerichtshof, wo der oberste Richter einst unter einem Baldachin thronte, sondern auch in den kleinen Verhörräumen, in die Angeklagte über eine Bodenklappe geführt wurden. Wer mag, kann sich auch in eine der Zellen setzen, die vollständig konserviert wurden, sogar mit Klosett – wobei das Loch mit Beton aufgefüllt wurde, man weiss ja nie, auf was für Ideen die Leute kommen. Solche Erlebnis-Ecken erhöhen natürlich die Attraktivität des Hauses – genauso wie die vier Gourmetrestaurants, mit denen das Museum zusätzliche Besucher anlocken möchte.

Singapur und Südostasien

Wenigstens eine Million Gäste will die Galerie pro Jahr empfangen, manche rechnen sogar mit zwei. Gut 532 Millionen Singapur-Dollar (etwa 373 Millionen Franken) haben Umbau und Restaurierung gekostet. Die Galerie verfügt über 64 000 Quadratmeter nutzbare Fläche, von der im Moment erst ein Teil bespielt wird. Was mit diesem Haus aufgestellt wurde, wird jedenfalls auch in der heissen Wirtschaftsatmosphäre der Stadt so schnell nicht davonschmelzen.

Die Ausstellungen können auch aus den 8000 Objekten der eigenen Sammlung generiert werden, die sich weitgehend auf Kunst aus Singapur und Südostasien konzentriert. Die Eröffnungsausstellungen zeigen teilweise Kunst aus der Kolonialzeit, die mehrheitlich eher westlichen Vorstellungen entspricht – das Bedürfnis nach Exotik aber voll befriedigt. Die Abteilungen mit Kunst aus Moderne und Gegenwart wiederum lassen erkennen, wie mit der Ausbildung einer nationalen Identität auch die Bemühung einherging, spezifisch asiatische Elemente stärker in den Vordergrund treten zu lassen – ohne auf die Offenheit westlicher Konzepte zu verzichten.

Zeitgleich mit thematischen Ausstellungen können Direktor Eugene Tan und sein Team in dem grossen Haus auch stattliche Einzelpräsentationen einrichten. Zum Auftakt werden zwei Meister der Tuschmalerei gezeigt. Wu Guanzhong (1919–2010) gilt als Künstler, dem die Synthese zwischen östlichen und westlichen Elementen besonders gut gelungen ist – vor allem seine stark horizontal ausgerichteten Landschaften sind berührend schön. Eindrücklicher noch ist die Einzelpräsentation von Chua Ek Kay (1947–2008), dessen Strichgewitter zugleich unglaublich zart und gewaltig sind. Ganz mit schwarzer Tinte ausgeführt, dann und wann mit ein bisschen Farbe akzentuiert, bewegen sich seine Bilder durchgängig an der Grenze zwischen Abstraktion und Darstellung, man könnte sie gut auch als Schriftzeichen ansehen oder als Spuren eines virtuosen Tanzes im Raum des Papiers. «After the Rain» heisst die Schau und passt so perfekt in die gegenwärtige Regenzeit.

Denn dass es regnet um Weihnachten herum, ist normal – aber wenn es schneit im tropischen Singapur, dann ist natürlich etwas faul mit dem Klima. In unserem Fall wird das Wetter ja auch in einer fast zwei Meter breiten Glaskugel gemacht, die vor dem Geschäft von Fāmíng Yuán steht. Die auf chinesische Heilkräuter spezialisierte Firma lässt hier künstliche Flocken über ein mächtiges, lasergefrästes Modell der Stadt rieseln – und hat die Strassen mit Weihnachtsmännern, Jaks und spielenden Kindern bevölkert. Jeden guten Geschmack dürfte sie damit nicht treffen – aber die grosse Schneekugel erinnert auch an ein Kurzgedicht von Ai Dong Shen, das sich wie eine gedankliche Ranke um die tropische Sehnsucht nach Schnee legt – und frei übersetzt etwa lautet: «Es schneit auch in Singapur / nur ist es so, dass die Flocken / den Augenblick nie erreichen.»

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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